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Bitte nicht aufregen!

Matyas Rehak/ shutterstock.com
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In Indien kennt die Toleranz kaum Grenzen

Indien ist das Land der Vielfalt: Unzählige Kulturen leben hier meist friedlich nebeneinander. Das ist nur möglich, weil die Menschen ein großes Maß an Toleranz aufbringen. Journalist Rainer Hörig, der seit 25 Jahren im indischen Pune lebt, über eine in Indien weit verbreitete Tugend, um die sich die Gesellschaft jedoch immer wieder neu bemühen muss.

Die kleine Deepti hat mindestens genauso viel Freude an dem neuen Spielzeug wie ihr Papa. Mit Glucksen und Lachen begleitet die Zweijährige die Signaltöne und das Farbenspektakel auf dem Bildschirm des neuen Smartphones, das ihr Vater Kunal vor wenigen Tagen nach Hause brachte.

Deepti probiert alle Knöpfe aus und hämmert mit der Faust auf den kleinen Bildschirm, um dem Gerät neue Töne zu entlocken. Na, ob das mal gutgeht, frage ich mich, heute abend zu Gast bei Familie Sharma in Pune, Südindien.

Und dann passiert es: Der nagelneue Minicomputer entgleitet Deeptis zarten Händen. Päng – das Gerät verstummt, der Bildschirm erlischt. Einen Moment herrscht betretene Stille, aber dann bricht Mutti das peinliche Schweigen: “Macht nichts, das kriegen wir schon wieder hin! Deepti trifft keine Schuld, sie ist ja noch ein Kind!” Wie viele indischen Familien lassen auch die Sharmas ihren Kindern einen breiten “Spielraum”. Man toleriert ihre Patzer und Fehler, auch wenn es manchmal weh tut. Als Leitbild dient der Hindugott Krishna, der gerne als verspieltes Kind und schelmischer Dieb dargestellt und verehrt wird.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Jedesmal, wenn ich mich mit dem Auto auf die Straßen der Millionenstadt Pune begebe, bereite ich mich auf ein heilloses Durcheinander und rüpelhafte Fahrer vor. Die mentale Distanzierung hilft mir, Ruhe zu bewahren und das Chaos geduldig zu ertragen: Man drängt mich laut hupend auf die Seite, schneidet mir waghalsig den Weg ab und zwingt mich zum Bremsen.

Rote Ampeln werden nonchalant überfahren, Fußgänger und Radfahrer rücksichtslos aus dem Weg gehupt. Es scheint, als glaubten viele, die Verkehrsregeln, die es hier natürlich auch gibt, seien nur für die anderen gemacht. Die meisten Verkehrsteilnehmer nehmen es gelassen hin, nur selten gerät jemand in Wut und beschwert sich über das Fehlverhalten anderer. Offenbar nimmt man an, dass nicht jeder die gleiche Fahrtüchtigkeit besitzt und daher auch einmal Fehler machen kann. Bei der Führerscheinprüfung wird nämlich sehr wohlwollend und nachlässig verfahren.

Mir gelingt es erst nach vielen Jahren in Indien, meine Gefühle im Zaum zu halten, aber je nach Laune und Zeitplan platzt mir auch manchmal der Kragen und ich mache meinem Ärger durch lautes Schimpfen durch das offene Fenster Luft. Dabei ernte ich häufig völlige Ignoranz, im besten Fall ein entschuldigendes Lächeln. Damit will man mir sagen: “So ist es nun mal hier in Indien. Bitte nicht aufregen. Ich verzeihe dir, du bist ja ein Fremder und kennst dich hier nicht so gut aus.”

Im Land der Vielfalt

Natürlich folgt auch in Indien der Alltag gewissen Regeln. Hier gibt es im Unterschied zu anderen Ländern jedoch viel mehr und sehr unterschiedliche Regeln, und zu jeder gibt es bekanntlich auch Ausnahmen. Aufgrund einer 5000 Jahre langen Kulturgeschichte, während derer verschiedene Volksgruppen aus allen Himmelsrichtungen einwanderten und sesshaft wurden, verfügt das riesige Land über eine ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt, die in der Welt ihresgleichen sucht.

Außenstehende nehmen diese Vielfalt häufig in Widersprüchen wahr: Software-Ingenieure neben Waldnomaden, patriarchalische Machos und auch matrilineare Erbfolge, sagenhafter Prunk und bittere Armut. Die indische Nation ist in unzählige Gemeinschaften und Gesellschaften gegliedert, die jeweils in einem eigenen Zeitalter zu leben scheinen.

Während in vielen traditionellen Gemeinschaften der Zusammenhalt der Gruppe über allem steht, tendieren moderne Menschen zur individuellen Freiheit.

Die meisten Hindus und Jainas ernähren sich vegetarisch, für Moslems, Christen und Parsen aber enthält ein gutes Essen einen großen Batzen Fleisch. Moslems ist der Verzehr von Schweinefleisch untersagt, aber sie verachten keineswegs Rindfleisch. Dieses ist wiederum in den meisten Hindu-Haushalten tabu, da ihnen die Kuh als heiliges Tier gilt. Im kleinen südindischen Staat Kerala jedoch verzehren selbst Hindu-Priester ab und zu ein Stück Rindfleisch.

Gelassener Umgang mit Gesetzen

Die Vielzahl unterschiedlicher, teilweise sogar widersprüchlicher Regeln verbietet eine Homogenisierung des sozialen Lebens und macht es leicht, Fehlverhalten zu kaschieren. Alle Regeln können eben nicht für alle verbindlich sein. Daher begegnet man Ge- und Verboten mit einem großen Maß an Toleranz.

Dieser Haltung entspricht auch ein relativ „gelassener“ Umgang mit staatlichen Gesetzen. In privaten Gesprächen stelle ich immer wieder fest, dass nur wenige meiner indischen Freunde meine Empörung über soziale und politische Skandale teilen. Ein Politiker, der kraft seines Amtes einem Verwandten einen gutdotierten Posten in einer Behörde verschafft, wird von vielen als fürsorgliches Familienmitglied betrachtet, nicht als korrupter Nepotist. Wenn sich ein Richter dem Willen einer einflussreichen Firma beugt und sein Urteil entsprechend formuliert, könnte er damit Vorsorge für das berufliche Vorankommen seiner Kinder treffen, die auf eine Stelle in eben jener Firma hoffen. Wenn jemand mit voller Geschwindigkeit eine rote Ampel überfährt, hat er es bestimmt sehr eilig!

Kein Bedürfnis nach Perfektion

Die anerzogene Toleranz der meisten Menschen entspringt teilweise auch dem Glauben an die Wiedergeburt des Individuums. Die Chance auf viele weitere Existenzen verringert das Bedürfnis nach Perfektion. Was ich in diesem Leben nicht erledigen kann, schaffe ich vielleicht in einer der kommenden Existenzen. Daher rührt auch die Bereitschaft, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, mit allem Freud und Leid.

Alle Menschen können nicht ständig glücklich sein. Es gibt auch Armut, Unrecht undGrausamkeiten in dieser Welt. Viele Menschen der niederen Gesellschaft leben mit Schmutz und leiden unter Diskriminierung, aber vielleicht haben sie es im nächsten Leben ein wenig besser?

Nicht, dass man sich den negativen Seiten des Lebens verschließt. Schließlich kennt man auch die buddhistischen Tugenden von Mitgefühl und Achtsamkeit. Aber kann man eine ideale Welt mit Gewalt schaffen? Diese Haltung könnte der Grund dafür sein, dass nur wenige Inderinnen und Inder zum Fanatismus neigen, der Gedanke der Revolution ist ihnen grundsätzlich fremd.

Die Toleranz der meisten Menschen grenzt fast schon an Fatalismus: Sie macht auch vor dem Müll auf den Straßen nicht Halt, vor der kaum verlässlichen Versorgung mit Strom und Trinkwasser, bei korrupten Politikern und halsabschneiderischen Geschäftspraktiken. Die Toleranz kennt praktisch keine Grenzen.

Nach mehr als 25 Jahren eines ereignisreichen und erfüllten Lebens in Indien erlebe ich das hohe Toleranzniveau der Menschen dennoch als wohltuend und sehr praktisch. Es erweitert meine persönliche Freiheit und bringt eine gewisse Lässigkeit und Leichtigkeit in mein Leben.

Wenn ich Europa besuche, muss ich mich manchmal darüber wundern, wie verbohrt und engstirnig manche Menschen dort durch’ s Leben gehen. Ich wünsche mir, sie könnten ein wenig von indischen Tugenden lernen. Und die Menschen in Indien müssen wachsam sein angesichts der Versuche rückwärtsgewandter politischer Kräfte, die Atmosphäre der Toleranz zu vergiften.

Rainer Hörig

Rainer Hörig, IndienRainer Hörig, geb. 1956, reiste als Student zum erstenmal nach Indien. Nach der Hochzeit mit einer indischen Deutschlehrerin ließ er sich 1989 in der südindichen Stadt Pune nieder. Er schreibt für deutschsprachige Hörfunkprogramme, Zeitungen und Magazine.

www.rainerhoerig.com

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