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Bedürfnismentalität erzeugt Frustration

Foto: pio3/ Shutterstock
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Die Lebensumstände wertschätzen, Teil 1

Die Menschen im Westen sind selten zufrieden. Stets warten sie auf die richtigen Lebensumstände, den Kick, um glücklich zu sein, so die Beobachtung des buddhistischen Lehrers Tsoknyi Rinpoche. Besser wäre, das wertzuschätzen, was es an guten Dingen gibt.

 

Wie viele Milliarden Jahre seit der Entstehung der Erde hat es gedauert, um zu werden, wie wir jetzt sind? Als wir uns von der Amöbe bis zum Menschen entwickelten, wie viele unzählige Male mussten wir uns da anpassen? Und gegenwärtig, wo kommen wir in dieser jetzigen Existenz her?

Lassen Sie uns einige grundlegende Tatsachen vergegenwärtigen: Als Menschen haben wir eine lebendige Emotionalität und sind in der glücklichen Lage, unser Leben zu gestalten. Wir haben ein Bewusstsein, Empfindungen, Wahrnehmungen. Mit dieser menschlichen Existenz sind Höhen und Tiefen verbunden.

Aus buddhistischer Sicht ist unsere jetzige Situation, dieser Körper mit dem Gehirn und all seinen Vorzügen, das Resultat von unendlich vielen positiven Handlungen, die wir in früheren Leben begangen haben. Von der Wissenschaft her gesprochen, ist es ein langer Weg der Evolution von der Amöbe bis zu uns.

Von dieser weiten Perspektive aus betrachtet, müssten sich unsere persönlichen Angelegenheiten eigentlich relativieren. Doch wenn sich einmal in unserem menschlichen Verwobensein ein kleines Unbehagen, eine Leidenssituation zeigt, kommt uns das gleich gigantisch vor. Es ist eine Aufgeblasenheit, dass wir ein momentanes Leiden als große Tragik empfinden. Vom großen Ganzen aus betrachtet ist es eigentlich eher eine Kleinigkeit.

Den Verstand nutzen, um Dinge wertzuschätzen

Mein Anliegen ist, dass wir die eigenen Lebensumstände der Wirklichkeit entsprechend anerkennen. Anerkennung oder Wertschätzung sollte meiner Meinung nach aus einem grundlegenden Verständnis kommen.

Wir können Dinge auch von der Gefühlsebene her würdigen. Das passiert automatisch, wenn wir beispielsweise aus der Kälte von draußen ins Haus kommen und gleich ein schönes Bad nehmen. Der erste Moment, wenn ich in das wohlig warme Wasser steige “Oooh, super. Ich bin in Deutschland, nicht mehr in Indien”.

Dieser angenehme Sinneseindruck hat eine Stimmung des körperlichen Wohlbehagens ausgelöst, die mich sagen lässt “Mmmh, das mag ich!”. Wenn Sie aber jeden Tag ein warmes Bad nehmen, kann es sein, dass dies für die körperliche Empfindung keinen anregenden Reiz mehr bietet. Wir nehmen einfach eine heiße Dusche und fertig. Die intensive Sinneswahrnehmung bleibt dabei aus. Wenn keine anregenden Gefühle ausgelöst werden, werden wir die Situation auch nicht besonders hochschätzen.

Es gibt aber auch eine Wertschätzung auf der Verstandesebene, die auf Fakten beruht. Diese beiden Arten sollten wir klar auseinander halten. Eine logische Begründung ist im Einklang mit den Tatsachen. Im Gegensatz zu einer emotionalen Reaktion, nutzt sie sich nicht ab und ist immer frisch.

An dieser Stelle ist es wichtig, dass wir den Geist schulen. Einer wie der Dalai Lama, wenn er am Morgen aufwacht, kontempliert als erstes die Wertschätzung. Darüber, dass er noch am Leben ist und einen kostbaren menschlichen Körper besitzt. Viele meiner Lehrer haben es genauso gehalten – die menschliche Existenz, die man besitzt, wertzuschätzen.

Meine 2000 Nonnen im Osten Tibets rezitieren allmorgendlich eine Liturgie, die damit beginnt, das kostbare menschliche Dasein zu würdigen. Darin heißt es “Wache auf, verbringe Dein Leben nicht in Unwissenheit! Zolle Deiner jetzigen Situation Anerkennung – und nutze sie sinnvoll!”

Manchmal brauchen wir eine verstandesmäßige Anregung, um unsere Lebensfreude anzufachen. Sonst wird man seine Zeit vielleicht geistlos vergeuden in der Hoffnung, dass irgendwann mal die richtigen Umstände von Außen auf einen zukommen und den richtigen Empfindungsautomatismus auslösen. Diese Geisteshaltung beobachte ich in weit entwickelten Ländern häufiger.

Tibet beispielsweise ist zwar ein rückständiges Land. Dennoch machte ich die Erfahrung, dass die Menschen dort trotz ihres niedrigen Lebensstandards in jeder Lage etwas Erhebendes zu finden vermögen. Ich behaupte, dass sich Wertschätzung durch eine Änderung des grundlegenden Vorverständnisses einstellen kann. Erlauben Sie mir daher, dass ich an dieser Stelle auf solche Denkmuster hinweise, wie ich sie in der modernen Welt beobachte.

Wir haben maximale Ansprüche

Wir sitzen in einem geschlossenen Raum und die Luft ist stickig. Was empfinden wir, wenn eine freundliche Person uns durch das Öffnen der Tür mit Frischluft versorgt? Eine frische Brise! Was bewirkt sie bei Ihnen?

Ein angenehmes Gefühl etwa? Keine Frage, wir sind der Meinung, frische Luft stehe uns zu. Mit vielen Dingen verhält es sich so. Weil wir an einen relativ hohen Lebensstandard gewöhnt sind, halten wir Annehmlichkeiten für selbstverständlich. Es steht uns doch zu, denken wir. Warum dann noch wertschätzen? Mit dieser Haltung würdigen wir nicht die Umstände, in denen wir leben. Darin ist kein Platz für Wertschätzung.

Unser Anspruch an das, was uns zusteht, ist meist höher, als das, was das Leben uns zuteilt. Der mediale Einfluss treibt das ganze noch in die Höhe. Wenn unser Leben also auf, sagen wir mal ein Niveau von 30 Prozent angelegt ist, wird es durch die Werbefeldzüge der Industrie auf das Doppelte hochgedrückt. Dadurch werden uns dann fiktive 60 Prozent als Norm vorgetäuscht.

Jetzt haben wir aber keine 60-prozentige Erfüllung unseres Lebensanspruchs, sondern lediglich 30 Prozent. Dadurch entsteht eine Mindestleidensquote von 30 Prozent – die jeglichen Realitätsgehalt entbehrt. Diese vermeintlich fehlenden 30 Prozent zum Idealbild sind somit die Ursache für eine nagende Unzufriedenheit. Das ist eine falsche Vorstellung.

Aus Sicht der Industrie ist Unzufriedenheit eine prima Sache und fördernswert. Ihre Bestrebung ist, dich glauben zu machen, du seist im Inneren hohl. Sie zielt darauf ab, in uns ein grundlegendes Gefühl der Unzufriedenheit zu erzeugen, die natürlich nur von ihren Produkten erlöst werden kann. Eine traurige und beängstigende Sachlage. Es herrscht hier eine Grundverwirrung. Weil wir nicht so genau wissen, wie wir eine Lösung herbeiführen können.

Zunächst einmal kennen wir das obere Ende der Glücksskala nicht.Alles über diese erwähnten 30 Prozent entspricht nicht der Wahrscheinlichkeit. Man könnte sich allerdings auch mit nur 20 Prozent zufrieden geben. Doch ein vorzeitiger Verzicht ist auch nicht unbedingt das richtige. Es sei denn, Sie sind ein Asket, der sich mit wenig begnügen kann.

Wann also ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir sagen, ich bin zufrieden, ich jage nicht nach mehr? Die konventionelle Welt ist relativ, daher ist es für uns nicht einfach zu erkennen, wann diese Grenze der Zufriedenheit erreicht ist. Im unternehmerischen Sinne ist die Welt voll unbegrenzter Chancen und Möglichkeiten. So zumindest die Werbebotschaften. Auch wenn das einen wahren Kern haben mag, wie gehen wir persönlich damit um?

Unsere selbst kultivierte Bedürfnismentalität

Manche sagen, die Hauptursache der Unzufriedenheit sei es, Ansprüche zu haben, keine Genügsamkeit zu kennen. Ich persönlich glaube vielmehr, dass ein Großteil des Leidens aus einer mangelnden Fähigkeit herrührt, Dinge wertzuschätzen. Sehen Sie einen Unterschied zwischen Wertschätzung und Anspruchslosigkeit? Oder ist Anspruchslosigkeit – mit wenig zufrieden sein – identisch mit Wertschätzen der Lage, in der wir sind?

Genügsamkeit und Wertschätzung – das sind zwei unterschiedliche Themen. Wertschätzen heißt durchaus nicht, dass man nicht nach Höherem streben sollte. Man kann sich für mehr einsetzen, dann aber
auch diese Ebene honorieren. Wenn wir mehr Geld haben, können wir das umso mehr schätzen. Möchten wir uns in wohltätiger Weise engagieren – je mehr wir für andere tun, um so mehr können wir das auch wertschätzen. Oder wir ziehen uns zurück und meditieren länger und würdigen das auch entsprechend. Anspruchslosigkeit und Wertschätzung sind nicht dasselbe.

Bedürfnislosigkeit ist für uns gewöhnliche Leute keine Alltagserfahrung. Wenn wir diese Erwartung an uns stellen, ohne dem gerecht werden zu können, führt das nur zu schlechtem Gewissen. Wenn wir als Wohlstandsgesellschafter mehr an Genuss wollen, als uns zur Verfügung steht, quasi diese 60 Prozent als erstrebte Sollrealität anpeilen, befinden wir uns in einer konstanten Bedürfnismentalität.

Auszug aus einem Vortrags von Tsoknyi Rinpoche, ausgewählt und bearbeitet von Ayshen Delemen; mündliche Übersetzung von Andreas Kretschmar.

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Foto: Hans-Georg Meschede

Drubwang Tsoknyi Rinpoche ist ein Meditationsmeister des tibetischen Buddhismus. Er ist Oberhaupt mehrerer Klöster und Klausur-Einrichtungen in Tibet und Nepal sowie Autor mehrerer Bücher.

Rinpoche vermittelt den Buddhismus an eine wachsende Schülerschaft in der ganzen Welt. Seine Lehrmethode zeichnet sich aus durch eine moderne, auf die westliche Psyche zugeschnittene Art. www.pundarika.de

 

 

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