Ein Aufruf
Die Menschen betrachten die Natur als bloße Ressource, die man zerstören und aufbrauchen kann. Der Philosoph Peter Vollbrecht denkt Kant weiter: Die Welt brauche einen ökologischen Grundvertrag, ähnlich dem Völkerrecht. Auf diese würden sich alle Menschen einigen und er sollte der Politik als Grundlage für umweltpolitische Maßnahmen dienen.
Vor 219 Jahren veröffentlichte Immanuel Kant seine publizistisch erfolgreichste Schrift Zum Ewigen Frieden. Darin zeichnete er drei große politische Kreise, konzentrisch angeordnet: in der Mitte eine republikanische Verfassung, die den Bürgern den innenpolitischen Frieden sichert. Daran schließt sich der Ring des Völkerrechts an, das die zwischenstaatlichen Beziehungen in die Hände eines Staatenbundes legt, der über den außenpolitischen Frieden wacht. Und schließlich, als Vollendung der politischen Sphäre, das Weltbürgerrecht. Es garantiert den Individuen die freie Bewegung über den Globus, denn, so Kant, in weltbürgerlicher Perspektive gebe es kein angestammtes Recht auf den Besitz einer heimatlichen Landscholle, die anderen Erdenbürgern verwehrt werden könne. Die begrenzte Oberfläche der Erde ist ein allgemeines Gut.
Das politische Friedenswerk der Vernunft
Kants Entwurf hat damals auch deshalb Furore gemacht, weil er sich als Vertragswerk den Fürsten und Parlamenten zur Ratifizierung anbot: Der politische Wille zum umfänglichen Weltfrieden unterschreibe Kants Grundvertrag aller Friedensverträge. Denn nicht ein Autor habe hier die Feder geführt, sondern die philosophische Vernunft selbst.
Kants Schrift war wegweisend gewesen für die Gründung des Völkerbundes 1920 und der Vereinten Nationen 1945. Allerdings findet sich im Vertragswerk der UNO auch die Handschrift der Sieger des Zweiten Weltkriegs, denn die großen Fünf haben sich ein Vetorecht im Sicherheitsrat ausbedungen.
Kant hätte darin einen Mangel an republikanischen Geist gesehen. Der Republikanismus stellt alle Beteiligten, ob Bürger oder Staaten, auf gleiche Augenhöhe, es zählen hier weder Macht, Einfluss, Abstammung oder wirtschaftliche Potenz. Aber dennoch, trotz aller Mängel, das internationale Vertragswerk ist ein großer weltgeschichtlicher Fortschritt. Heute kann und muss man den völkerrechtlichen Institutionen einen weiteren, einen vierten Ring hinzufügen: den ökologischen Grundvertrag. Er regelt die Rechte und Pflichten des Menschen gegenüber der Natur.
Das ökologische Friedenswerk der Vernunft
Der ökologische Grundvertrag könnte das Friedenswerk der Vernunft auf ein auskömmliches Verhältnis des Menschengeschlechts zur Natur ausweiten. Ein solcher Grundvertrag ist ein sehr ambitioniertes Unternehmen. Denn die Themen der aktuellen umweltpolitischen Diskussion – Klima, Kontaminierung der Böden und des Wassers, industrielle Landwirtschaft und Biodiversität – müssen naturphilosophisch neu justiert werden.
Immer noch betrachtet die Menschheit die Natur überwiegend als bloße Ressource. Daran ändert auch die Einsicht nichts, dass die Natur nur über begrenzte Regenerationskräfte verfügt. Doch die Natur ist nicht nur ein Lieferant von Energie und Rohstoffen. Wir bewundern und lieben sie, sie ruft in uns ästhetische und moralische Empfindungen hervor.
Möglicherweise leben auch Tiere in einer emotionalen Bindung zur Natur, aber unbestreitbar dürfte sein, dass das Menschengeschlecht seiner Naturverehrung eigens Ausdruck gibt in Architektur, Gartenkultur, Kunst, Wissenschaft und Spiritualität. Und aus eben dieser emotionalen Bindung heraus leben die unzähligen kleinzelligen Umweltinitiativen, ohne die das ökologische Bewusstsein gar nicht entstanden wäre. Ein ökologischer Grundvertrag müsste mit dem Stift einer Vernunft geschrieben werden, die weiträumiger ist als diejenige Kants, die sich zu einseitig an nüchternen Rechtsverhältnissen orientiert. Die ökologische Vernunft gründet auch auf Gefühlen.
Mit Gefühlen zu argumentieren ist allerdings ein schwieriges, wenngleich nicht aussichtsloses Unterfangen, schließlich haben die Rechtsstaaten viel Erfahrung mit Diskriminierungsparagraphen. Für einen ökologischen Grundvertrag stellt sich ein weiteres, wahrscheinlich noch vertrackteres Problem: das ethische nämlich. Hier begegnet uns ein heikles Drei-Körper-Problem: Da äußern die gegenwärtig Lebenden ihr legitimes Recht an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Dasselbe gilt selbstredend auch für die noch Ungeborenen. Und schließlich kann auch die Natur Rechte geltend machen, am Einsichtigsten formuliert als Lebensrecht der biologischen Arten.
Das Drei-Körper-Problem erweitert sich zudem mit einem vierten Posten, den auch ein ökologischer Grundvertrag nicht aus dem Blick verlieren darf: die Stabilität menschlicher Gesellschaften. Sie gehört ebenso wie eine lebenstaugliche Umwelt zur Erbmasse, die jede Generation weitergibt.
Entwurf einer ökologischen Weltphilosophie
Ich bin persönlich der Ansicht, dass die Philosophie Kants nicht hinreicht, um in einem ökologischen Grundvertrag die emotionalen und die ethischen Dimensionen ausreichend zu würdigen. Kant bietet Ansätze dazu, so stellt er etwa das Naturschöne über das Kunstschöne. Und auch die Naturgesetzformel des Kategorischen Imperativs lässt sich ökologisch ausdeuten (»Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte«).
Doch für eine Umweltethik scheint mir gerade die Bewertung von Handlungsfolgen unverzichtbar. Hier zeigen utilitaristische Ethikkonzepte ihre Stärken. Und worauf könnte sich eine Philosophie der Naturverehrung gründen? Von zarten ästhetischen Tönen bis zu überwältigenden Sinnbildern reicht der weltliterarische Kanon der europäischen Romantik, der indischen All-Einheits-Lehre der Upanishaden, der Naturkosmologie des chinesischen Taoismus und bei den afrikanischen und indianischen Philosophien.
Eine ökologische Vernunft wäre ein großer weltphilosophischer Wurf. Die Menschheit würde dazu ihr Bestes einbringen, und der Philosophie käme dabei die Aufgabe zu, die verschiedenen Weltströmungen zu moderieren. Im Grundvertrag mit der Natur sollte sich die ökologische Vernunft auf die wichtigsten Hauptlinien beschränken. Er würde gleichsam das Rückgrat der ökologischen Vernunft bilden, er würde alles umweltpolitische Handeln auf einen universalen Orientierungsrahmen gründen. Das Maximum aller ökophilosophischen Erwartungen dabei wäre die Verankerung des Grundvertrages in einer UN-Charta. Gleichwohl verblieben die konkreten Maßnahmen im Handlungsfeld der Politik, die sich an den jeweiligen ökonomischen und sozialen Verhältnissen ausrichten muss, doch die Philosophie formulierte dazu die Präambel für den chancengünstigen Fluss des Lebens.
Im Sinne Kants über Kant hinaus
Kant war mit seinem Entwurf des ›Ewigen Friedens‹ weltgeschichtlich erfolgreich gewesen, weil er sich diskursökonomisch knapp gehalten hatte. An der Prägnanz könnte sich der ökologische Grundvertrag ein Vorbild nehmen: Gerade einmal 60 Seiten umfasst Kants Vertragswerk. Den Definitivartikeln hat Kant sechs Präliminarartikel vorangestellt, die unmittelbar auf die friedensfeindlichen Faktoren der zeitgenössischen Gegenwart des 18. Jahrhunderts eingingen: stehende Heere, Kriegsanleihen, Heiratspolitik der Fürstenhäuser, Intrigen, Verschwörungen und Verletzung der Integrität anderer Staaten.
Ein ökologischer Grundvertrag würde ebenso in Präliminarartikeln das umweltpolitische Sündenregister auflisten, um das unmittelbar zu Tätigende anzumahnen. Eigentlich philosophisch aber wären die Definitivartikel des Grundvertrages, die die lebensfreundlichen Grundlagen des ökologischen Bewusstseins ausbuchstabieren.
Die ökologische Vernunft ergänzt die politische Vernunft. Kant hatte die drei Rechtssphären aus republikanischer Verfassung, Völkerrecht und Weltbürgerrecht in historisch aufsteigender Linie angeordnet: aus der ersten entstehen die beiden anderen. Jede historisch spätere stabilisiert dabei aber auch die je voraufliegende: Erst ein Weltbürgerrecht befriedet die internationalen Beziehungen, erst ein Völkerbund konsolidiert die republikanische Verfassung der Einzelstaaten.
Der ökologische Grundvertrag würde der Kantischen Anordnung folgen, er bildete die vierte Sphäre. Er stärkt nicht nur die Rechte der Natur, sondern er stabilisiert auch die republikanische Vernunft mit all ihren gewachsenen Institutionen. Einen belastbaren gesellschaftlichen Frieden kann es nur geben, wenn die Menschheit Frieden mit der Natur schließt.
Die Philosophen sind aufgerufen, einen ökologischen Grundvertrag zu entwerfen. Es ist jetzt an der Zeit!
Peter Vollbrecht
Peter Vollbrecht, nach dem Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft DAAD-Lektor an der University of Delhi. 1997 Gründung des ‚Philosophischen Forums Esslingen‘, seitdem philosophische Reisen in Europa und Südasien, Kooperation mit „Die Zeit“ seit 2006. 2017 erschien sein philosophischer Roman „Ich allein bin wirklich. Die Philosophie und das launige Leben“ bei Klöpfer&Meyer. Das philosophische Programm auf www.philosophisches-forum.de
Sehr geehrter Herr Vollbrecht
Vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag.
Ich bin ebenso Ihrer Meinung, dass es einen Vertrag mit der Natur geben muss, um die Schätze dieser Welt für unsere sowie auch für zukünftige Generationen zu bewahren. Daher interessiert mich, in wie weit Ihr Aufruf bisher Anklang fand oder ob es vielleicht schon den ersten Entwurf eines solchen Vertrages gibt?
Herzlichst
Christian G.