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Mit Schmerzen leben lernen

Mellefrenchy/ shutterstock.com
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Mehr Lebensqualität durch Achtsamkeit

Die Schmerzforschung bestätigt die positive Wirkung von achtsamkeitsbasierten Methoden. Besonders Patienten mit chronischen Schmerzen erleben sich dank Achtsamkeitstraining selbstbestimmter, ihre Lebensqualität steigt. Der Schlüssel zur Schmerzlinderung ist die Akzeptanz.
Jörg Meibert ist Gesundheitstherapeut und Achtsamkeitslehrer. Seit 2004 arbeitet er mit chronisch erkrankten Schmerzpatienten an der Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin. Diese zählt zu den Kliniken in Essen-Mitte. Oft haben die Patienten ein jahrelanges Martyrium hinter sich, bevor sie in die Klinik kommen. Immer wieder berührt es ihn, wenn Patienten sagen, dass sie dank der bei ihm erlernten Achtsamkeitsmethoden heute gelassener mit ihren Schmerzen umgehen können.
Eine seiner Patientinnen beschreibt ihre neue Lebensqualität so: „Seitdem ich meditiere, fühle ich mich meinen Schmerzen nicht mehr so hilflos ausgeliefert. Ich kann mich ihnen bewusst zuwenden, wenn die Schmerzen wieder fast unerträglich sind. Das macht es mir möglich, wieder entspannen zu können. Mein Schlaf hat sich verbessert und ich kann letztlich besser für mich sorgen. Das wirkt sich positiv auf meine Beziehungen aus. Es entlastet mich und andere.“
Viele Patienten profitieren von der Behandlung. Oft hört er jedoch auch: „Der Schmerz ist unverändert, aber ich kann viel leichter damit umgehen und wieder am Alltag teilnehmen.“ (1)
Eine andere Patientin hatte zwar große Schwierigkeiten mit der Körpermeditation (bodyscan), aber sie sagte ihm, dass das Achtsamkeitstraining in der Klinik das einzige war, was ihr geholfen hatte, ihren Konsum von Migränetabletten zu reduzieren. Obwohl sie die Übung also nicht mochte, hatte sie dennoch eine positive Wirkung.
Meibert: „Menschen mit chronischen Schmerzen achtsam zu begleiten, heißt, ihnen den Schmerz zuzumuten, sie aber darin nicht alleine zu lassen, sondern den Schmerz mit ihnen zu teilen.“ Dafür sei die Meditationspraxis von unschätzbarem Wert.

13 Millionen Menschen leiden an chronischen Schmerzen

Die Deutsche Schmerzgesellschaft DGGS schätzte die Anzahl der an einer chronischen Schmerzerkrankung leidenden Patienten in 2015 auf rund 13 Millionen. Der Umgang mit dieser Problematik ist sowohl für die Betroffenen als auch für die Therapeuten eine große Herausforderung. Viele Schmerzpatienten leiden, weil sie arbeitsunfähig sind, sozial isoliert und am normalen Alltagsleben nicht mehr teilnehmen können.
Von den in den Tageskliniken in Essen-Mitte behandelten chronisch Erkrankten sind rund 80 Prozent Schmerzpatienten. Ihre Diagnosen lauten in der Regel: Migräne, Spannungskopfschmerz, Rückenleiden, Darmerkrankungen, Rheuma und Fibromyalgie, ein bislang unheilbarer Faser-Muskelschmerz. Zu den rund 50 Kollegen von Meibert zählen Sportwissenschaftler, Psychologen, Ökotrophologen, Physiotherapeuten und Ärzte für Schulmedizin und Naturheilkunde. Das Team ist in achtsamkeitsbasierten Methoden geschult.
Um einen besseren Umgang mit der Erkrankung zu ermöglichen, arbeitet man an den Kliniken mit einem innovativen multi-modalen Ansatz. Zum Einsatz kommen sowohl die naturheilkundliche Reizreaktionstheapie als auch Methoden von Benson und Kabat-Zinn im Rahmen der Stressbewältigung und Selbstfürsorge. Meibert: „Hier kann insbesondere das Achtsamkeitstraining helfen, den durch den Schmerz ausgelösten unruhigen Geist zu zentrieren.“
Die eigenen Kräfte werden geschont, was Patienten mit den Worten beschreiben, dass sie gelernt haben, sich wieder zu entspannen und damit zu regenerieren. Es entsteht ein Gefühl, wieder etwas aktiv tun zu können, auch mit den Hilfsmitteln der Naturheilkunde wie Wickeln, Auflagen, Phytotherapie, Wasseranwendungen, Schröpfkopfmassagen, aber auch mit den Übungen aus Yoga und QiGong/Taichi.
Nicht alle Patienten lernen in der Klinik Achtsamkeitmethoden. Aber diejenigen in der Tagesklinik haben häufig das MBSR-Programm als Basis. Dies ist auch als Anschlussbehandlung nach einem stationären Aufenthalt vorgesehen.

Die innere Haltung zum Schmerz verändern

Das inzwischen rund um den Globus populäre MBSR-8-Wochen-Programm (Mindfulness Based Stress Reduction) wurde ursprünglich vor rund 35 Jahren von Jon Kabat-Zinn an der University of Massachusetts zu Behandlung von Schmerzpatienten entwickelt, bei denen andere Therapien keine Wirkung gezeigt hatten. Er löste damit einen wahren Achtsamkeitsboom aus.
Bei diesem Achtsamkeitstraining lernen die Teilnehmer, ihre Aufmerksam gezielt und bewusst zu lenken. Bei Schmerz oder Burn-out-Patienten geht es dann darum, die innere Haltung zum Schmerz zu verändern in Richtung Akzeptanz, Offenheit, Freundlichkeit, Milde und Selbstmitgefühl.
Kabat-Zinns Ansatz: Patienten lernen, dass sie mehr als ihr Schmerz sind und sich mit ihrem Schmerz nicht identifizieren müssen. Häufig stellt sich durch Übung auch die Selbsterkenntnis ein, dass Vermeiden, Kampf, Widerstand und Opferhaltung das Leiden nur verstärken. Langfristig entsteht so etwas wie ein neuer Freiraum, der neue positiv erlebte Lebensqualitäten wie Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmtheit zulässt.
Wichtig ist es für den Achtsamkeits-Pionier Kabat-Zinn, dass es bei MBSR nicht darum geht, eine Krankheit zu beseitigen, sondern zu lernen, damit umzugehen. So hieß sein Bestseller „Gesund durch Meditation“ in der Ursprungsfassung treffender „Leben mit der ganzen Katastrophe“. Für ihn gehört Schmerz zum Leben dazu: „Achtsamkeitstraining befähigt uns, die Bedingungen im jetzigen Moment zu akzeptieren und damit zu sein, auch wenn es schwierige Erfahrungen sind.“
Patienten lernen so den sanften und bewussten Umgang mit Schmerz, ihn nicht abzulehnen, sondern ihn liebevoll anzunehmen, so wie er ist. Dabei könne der Atem ein wichtiger Anker sein, sich dem Schmerz zuzuwenden, ohne sich von ihm überwältigen zu lassen.
Patienten, so Kabat-Zinn, die mit der Erwartungshaltung kämen, dass die Ärzte es schon „richten“ würden, seien für Achtsamkeitstraining weniger geeignet, da sie keine Selbstverantwortung übernähmen und nicht an ihren Beschwerden arbeiten wollten. Viele würden vom Arzt nur eine Reparaturmaßnahme zur Behebung ihrer Schmerzen erwarten, etwa so, wie man Defekte bei einem Auto behebt. Dies sei verständlich, wenn man von seinem Körper eine Vorstellung habe, die dem Modell einer Maschine nachgebildet sei, so der Achtsamkeits-Pionier. (2)

Leben mit der ganzen Katastrophe

Aus der Schmerzforschung weiß man heute, dass die Schaltstellen im Gehirn und im zentralen Nervensystem über höhere kognitive und emotionale Funktionen gezielt auf die Schmerzerfahrung einwirken können. Die hilfreiche Erkenntnis hieß also, dass Körper und Geist nicht unabhängig voneinander existieren und jeder Schmerz auch eine mentale Dimension hat. Fazit ist bis heute die wissenschaftliche Erkenntnis, dass man jede Schmerzerfahrung durch mentales Geistestraining beeinflussen kann.
In der säkularen Achtsamkeitsszene greift man auf das Wissen des Buddhismus zurück. Dort heißt es, dass es zweierlei Leiden gibt, ein Leiden des Körpers und ein Leiden des Geistes, das man hinzufügt, indem man z. B. das körperliche Schmerzempfinden emotional bewertet, sich hineinsteigert, sich bemitleidet oder Gedanken katastrophisiert.
Typische Aussagen lauten hier: „Das halte ich nicht mehr aus“, „ich drehe gleich durch“, „das hört ja überhaupt nicht mehr auf“. Durch den achtsamen Umgang mit dem Schmerz ändert sich also nicht die Stärke des Schmerzes, wohl aber das Bewusstsein über das häufig selbst produzierte subjektive Schmerzerleben.
Obwohl die Schmerzforschung noch in den Kinderschuhen steckt, belegt eine stattliche Anzahl von Studien, dass das subjektive Schmerzempfinden durch Achtsamkeit verändert werden kann. Die Neurowissenschaftler Tim Gard und Britta Hölzel berichten über Studien mit achtsamkeitsbasierten Interventionen bei Patienten mit verschiedenen Arten von chronischen Schmerzen.
„Es zeigte sich, dass achtsamkeitsbasierte Verfahren positive Effekte auf das Schmerzempfinden und auf schmerzbezogene Variablen wie Depressionen, Ängstlichkeit, körperliches Wohlbefinden und Lebensqualität haben.“ Somit stellen achtsamkeitsbasierte Verfahren heute eine potenzielle Alternative zu herkömmlichen psychologischen Behandlungsmethoden von chronischen Schmerzen dar.
Bei Querschnittstudien mit erfahrenen Meditierenden im Vergleich zu Probanden ohne Meditationserfahrung folgerten Tim Gard und Britta Hölzel, dass sich durch Achtsamkeitspraxis weniger die Gegebenheiten der Empfindung verändert als vielmehr die innere Haltung, die man zu den Schmerzen einnimmt.
„Es zeigte sich, dass die erfahrenen Meditierenden im Zustand der Achtsamkeit die Schmerzreize als signifikant weniger unangenehm erlebten und dass sie deutlich weniger Angst vor den Schmerzen hatten, während sie die Stärke der Reize nicht anders wahrnahmen als die Kontrollgruppe.“
Ein weiterer kleiner Unterschied, den die Forscher beobachteten: Während Anfänger der Achtsamkeitspraxis zunächst verstärkt kognitive Bewertung und Kontrolle einsetzten, um Schmerzen zu regulieren, erlangt man in weiter fortgeschrittenen Stadien der Praxis Akzeptanz gegenüber den Empfindungen, die offensichtlich das subjektive Schmerzempfinden maßgeblich verringert. (3)
Und Jörg Meibert weiß aus seiner Erfahrungspraxis bestätigen: „Viele meiner Patienten berichten, dass sie sofort spüren, wenn sie einen Tag nicht üben. Sie erleben dann wieder mehr Schmerzen, innere Unruhe sowie Erschöpfung.“
Fazit: Die Achtsamkeitspraxis eröffnet Schmerzpatienten Hoffnung und Zuversicht. Achtsamkeit ist keine magische Pille, aber die Praxis befähigt, neue heilsame Wege zu gehen, um mit Schwierigkeiten und Schmerzen in unserem Leben umzugehen.
Michaela Doepke

Foto: Andreas Ren

Foto: Andreas Ren

Jörg Meibert, Dipl. Sozialpädagoge, MBSR- und MBCT-Lehrer. Er ist Mitarbeiter der Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin an den Kliniken Essen-Mitte (Prof. Dobos), Als Dozent und Supervisor des Instituts für Achtsamkeit und Stressbewältigung (IAS) arbeitet er in der MBSR-Lehrer/innen-Weiterbildung und leitet MBSR- und MBCT-Kurse.
www.j-p-meibert.de

(1) Petra Meibert, Achtsamkeitsbasierte Therapie und Stressreduktion MBCT/MBSR, Wege der Psychotherapie, Ernst Reinhardt Verlag, erscheint im Mai 2016. Das Buch enthält ein Kapitel über den achtsamen Umgang mit Schmerz von Jörg Meibert.
(2) Jon Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, Das vollständige Grundlagenwerk zu MBSR, O. W. Barth Verlag, S. 468
(3) Tim Gard und Britta Hölzel, Achtsamer Umgang mit Schmerz, in: Achtsamkeit mitten im Leben. O. W. Barth Verlag, S. 79 ff.

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