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Der Herrschaft der Zeit enthoben

superdesign/ photocase.de
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Interview mit Muße-Forscher Stefan Schmidt

Stefan Schmidt leitet mit Joachim Bauer Projekte im Rahmen des Sonderforschungsbereichs Muße an der Universität Freiburg. Im Interview spricht er über „erfülltes Tun in Freiheit“ und darüber, was Muße von Wellness und Freizeit unterscheidet. Lesen Sie die Kurzfassung.

 

 

Das Interview führte Michaela Doepke

Frage: Was bedeutet der Begriff Muße für Sie? Wie würden Sie Muße im Unterschied zu Wellness definieren?

Schmidt: Der Begriff hat unterschiedliche Bedeutungen. Wir haben in unserem Sonderforschungsbereich Muße zwei Arbeitsdefinitionen entwickelt. Die erste wäre: Erfülltes Tun in Gelassenheit und Freiheit. Wellness ist etwas, was Sie tun. Aber ob Sie das auch erfüllt, ist erst einmal offen. Und da würde ich auch den Unterschied zum Begriff Muße machen.

Muße würden wir also gar nicht so sehr als Freizeit, Ausruhen, Nicht-Arbeiten verorten, sondern – das ist z.B. eine Diskussion, die wir oft führen – es kann auch eine Muße in der Arbeit geben. Es geht eher um das Gefühl der inneren Freiheit und ganz zentral um die Gelassenheit. Mit Gelassenheit ist ein Zustand gemeint, in dem ich nicht abhängig vom Ergebnis bin. Also das, was ich gerade tue, passt für mich.

Und damit komme ich zu der zweiten Definition, die ich fast noch passender finde: Muße ist, wenn man in der Herrschaft der Zeit der Zeit enthoben ist. Das heißt, Sie sind nach wie vor in Ihrer ganz normalen zeitlichen Entwicklung unterwegs. Aber es steht nicht mehr dieser sequentiell enge, eventuell schnell ablaufende Zeitrhythmus im Vordergrund. Vielmehr sind Sie so gegenwärtig in Ihrem Zustand, dass eine Weite und ein Raum aufgeht, während die Zeit, das Zeiterleben in den Hintergrund tritt. Sie sind damit der Herrschaft der Zeit enthoben. Diesen Zustand würden wir als Muße bezeichnen.

Also vom Tun ins Sein kommen?

Schmidt: Ja. In der buddhistischen Tradition oder im Englischen würde man vom „Being-Mode“ sprechen, also vom Seins-Modus oder von Gegenwartsbezug. Hinzu kommt dieses Moment der Erfüllung. Ich kann ja auch sehr gegenwärtig sein, ohne dass es erfüllend ist. Aber auch da ist strittig, ob Muße ein durchweg positiver Begriff ist oder nicht.

Muße ist tief in westlicher Denkkultur verankert

Unsere gehetzte und zeitlich durchgetaktete Gesellschaft ist sehr oft nicht in diesem Zustand. Dient Ihr Sonderforschungsbereich dazu, die Muße mehr in die Gesellschaft zu integrieren?

Schmidt: Ja, das ist auch ein Ziel. Aber zuerst wollen wir untersuchen: Was ist die Muße? Historisch wurde Muße oft negativ identifiziert, etwa mit so etwas wie Faulheit oder Müßiggang, denn wir kultivieren in unserer Gesellschaft ein Arbeitsethos. Wichtig ist, dass wir das Verhältnis von Arbeit und Freizeit, von erfüllter und funktionalisierter Zeit in einen gesellschaftlichen Diskurs bringen. Und andererseits untersuchen, wo kommt das her. Das finde ich persönlich sehr spannend.

Die Muße ist tatsächlich tief in unserer westlichen Denkkultur verankert, sie kommt schon bei Aristoteles vor. So ist das griechische Wort für Muße „scholae“; daraus leitet sich auch das Wort Schule ab. Wir machen übrigens ein Projekt „Muße in der Schule“.

In der Antike wurde Muße als zweckfreier Raum gesehen, der ein glückliches Leben, kreative Freiheit für kontemplatives Denken und politische Betätigung ermöglichte. Bei Kant, Hegel und Marx erhielt der Begriff eine neue Bedeutung. Durch die Aufwertung des Arbeitsbegriffs wurde die Muße plötzlich als Müßiggang, Untätigkeit und unproduktive Zeit abgewertet. Wie sehen Sie das Verhältnis von Muße und Arbeit heute?

Schmidt: Man neigt dazu, diese Begriffe zueinander in Widerspruch zu setzen. Wenn wir die Begrifflichkeiten korrekt betrachten, dann sieht man, was Marx der Arbeit gegenüber setzt: die Freizeit und nicht die Muße.

Wir dürfen nicht den Fehler machen, Muße und Freizeit gleichzusetzen. Denn Muße ist eher ein Seinszustand, und – ganz wichtig – der Begriff der Freizeit definiert sich immer nur aus der Arbeit heraus. Ich kann nur Freizeit haben, wenn ich zuvor gearbeitet habe.

Das sehen Sie gut bei Aristoteles, der sagt, es gibt die Arbeit, die Erholung von der Arbeit und dann kommen wir zum eigentlichen Sein. Das ist die Muße. Und diese könnte es nach unserer Auffassung auch während der Arbeit geben. Muße überschreitet das Spannungsfeld von Arbeit und Freizeit und liegt in einer anderen Dimension.

Das vollständige Interview können Sie hören und sich als Audiodatei herunterladen. Ab Januar 2016 gehört die Audiothek zum Premium-Bereich dieser Website. Wenn Sie Mitglied im Freundeskreis Ethik heute werden (für 60 Euro im Jahr) erhalten Sie Zugang. Sie unterstützen damit auch diese Website, die jede Woche neu, kostenlos, ohne Werbung gute Nachrichtet liefert.

 

Professor Stefan SchmidtProf. Dr. Stefan Schmidt leitet die Sektion für Komplementärmedizinische Evaluationsforschung an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Universitätsklinikum Freiburg. Seit 2013 ist er dort Mitglied und Projektleiter für den Sonderforschungsbereich Muße. Er ist Juniorprofessor für transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Europa Universität Viadrina, Frankfurt/Oder.
www.prof-stefan-schmidt.info

 

 

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Es bedarf nicht selten einer großen Lebenskrise, einer schweren Krankheit, kurz eines außergewöhnlichen Ereignisses, um sich aus dem Hamsterrad der Dauergeschäftigkeit zu lösen. So war es auch mir ergangen. Was mir zuerst als Katastrophe erschien, hat sich im Rückblick als Geschenk des Lebens erwiesen, die Wiederentdeckung der Muße, des freien Wechsels zwischen Tuen und Ruhen, ohne je Langeweile zu empfinden. Doch machen wir uns nichts vor, die Abgewöhnung des Müßigganges, welche viele Kinder natürlich leben, ist eine der Hauptaufgaben der elterlichen Erziehung und unseres Schulsystems. Es schlägt demjenigen, der vor Eintritt ins Rentenalter aus der allgemeinen Geschäftigkeit aussteigt und der Muße frönt, nicht selten offene Feindseligkeit entgegen.

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