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2024: Ein Jahr verabschieden

Foto: Ilka Heckenmüller
Foto: Ilka Heckenmüller

Philosophische Kolumne

Wieder neigt sich ein Jahr seinem Ende zu. Ein ganzes Kalenderjahr, zusammengesetzt aus so unterschiedlich erlebten Tagen, Wochen und Monaten. Ein unübersehbares Zeichen: Die Jahresrückblicke in den Medien häufen sich.

Man blickt zurück auf Sport- und Kulturereignisse (ein Beispiel für beides: die Olympiade in Paris), auf die politischen Entwicklungen in Deutschland (dem unrühmlichen Ende der ambitioniert gestarteten Ampelregierung), Europa und anderswo (die erneute Trump-Wahl in den USA, der Fall des Assad-Regimes in Syrien), auf die nicht enden wollenden Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten oder im Süd-Sudan, die nach wie vor täglich unermessliches Leid verursachen.

Die schleichend, aber ungemindert fortschreitende Klimakatastrophe kam immer offensichtlicher und bedrängender in den Nachrichten über Unwetter, Überschwemmungen und Flächenbrände zum Vorschein, ohne dass eine angemessene weltweit konzertierte Reaktion ansatzweise erkennbar wäre. 2024 haben wir zum ersten Mal weltweit das 1,5 Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens überschritten.

In seinem – nach einem knapp überlebten Herzinfarkt und der eigenen Sterblichkeitserfahrung verfassten – „Nachruf auf mich selbst“ mahnt der Soziologe Harald Welzer, angesichts von Endlichkeitsphänomenen wie Erderhitzung und Artensterben jede beschönigende Rede von zu überwindenden „Krisen“ fallen zu lassen und uns der Einsicht zu stellen, dass wir uns von vielen vertrauten Vorstellungen trennen müssen, um Lösungen zu finden.

Aus den allgegenwärtigen Folgen verlorener Jahren des Augenverschließens und Stillehaltens könnten auch wir längst gelernt haben: Nicht alles wird von selbst wieder gut, wenn wir es auszusitzen versuchen und wie bisher weitermachen.

Bewusstsein der eigenen Endlichkeit

Die Philosophin Natalie Knapp erklärt in ihrem Buch „Der unendliche Augenblick“, dass wir die Phasen von Verdrängung, Schönreden und partieller Akzeptanz, Wut und Verzweiflung hinter uns lassen müssen, wenn wir uns für neue Perspektiven öffnen wollen: „Es ist Zeit, von der Welt, in der wir aufgewachsen sind, Abschied zu nehmen.“ Nicht nur aus diesen Gründen möchte ich das Ende des Jahres diesmal bewusster angehen als sonst und mich angemessener von ihm verabschieden. Doch wie Abschied nehmen von einem Jahr?

Sicher, indem ich mich zunächst erinnere, was sich verändert hat, was ich erlebt und wie ich mich dadurch verändert habe. Ein persönlicher Jahresrückblick also? Das klingt gleichzeitig zu oberflächlich und zu detailversessen, selbst ohne Anspruch auf Medientauglichkeit oder Vollständigkeit.  Objektivität und Ausgewogenheit können nicht das Ziel sein. Vielleicht gelingt es, aus prägenden Erfahrungen einen persönlichen Gesamteindruck zu gewinnen – erst das Ganze ist mit Hegel das Wahre. Das Wichtigste wären nicht die Großereignisse, sondern die Menschen, mit denen ich mein Leben teile – oder geteilt habe.

Bereits im Januar hat mit meinem Bruder das letzte mir noch verbliebene Mitglied meiner engeren Herkunftsfamilie die Welt verlassen. Die Trauer über diesen Verlust hat selbst die sonnigsten Tage überschattet, denn der Verlust an Heimat, der damit zusammenhängt und die durch die Trauer aufgerufenen vergangenen Verluste nahestehender Menschen treiben jede Menge dunkler Wolken noch über den blauesten Himmel.

Zudem ist mir das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit unabweisbar nahe gerückt und zu einem ständigen Begleiter geworden, der sich nicht ohne fortgesetztes intensives Zwiegespräch vom düsteren Gesellen zum augenöffnend ratgebenden Gefährten wandeln wird. Im Sommer ist ein langjähriger Freund in eine entfernte Stadt gezogen. Und ehemalige Arbeitskolleginnen hatten mich zu ihren Jubiläums- und Abschiedsveranstaltungen eingeladen. Wie viele Freunde und Bekannte werde ich in diesem Jahr ein letztes Mal gesehen haben?

Das Jahr bewusst vollenden

Wilhelm Weischedel empfiehlt die „Abschiedlichkeit“ als „die gemäße Antwort des Skeptikers auf den Anblick der Vergänglichkeit, die alles Wirkliche bestimmt und durchherrscht“ und meint damit „die zur Haltung gewordene Tätigkeit des Abschieds. Wer abschiedlich existiert, der nimmt ständig von dem Abschied, worin er sich aufhält: von der Situation, in der er fraglos der Welt und sich selber verhaftet ist.“

Lässt sich mit solcher Illusionslosigkeit alleine leben – oder braucht es die Hoffnung als Gegengewicht, um im Leben die Balance halten zu können? Doch keinen trügerischen Optimismus. Es gibt die Abschiede, die die Wehmut mit der Hoffnung und Vorfreude auf ein Wiedersehen verknüpfen können und es gibt die endgültigen Abschiede.

Damit gehört nicht nur Erinnern, sondern auch Betrauern zum Abschied. Aber wie man ein Jahr angemessen betrauert, ist mir genauso unklar. Sicher hilft es nicht, sich nur über verlorenes Glück und verpasste Gelegenheiten zu grämen. Doch auch nicht, sie einfach wegzuwischen. Eher schon, sie zu bedauern, vielleicht zu beweinen, um auf der Basis der Trauer, die uns unmissverständlich offenbart, was uns lieb und ein Wert war, Entscheidungen für künftiges Verhalten abzuleiten und zu treffen.

Andererseits habe ich gerade in diesem traurigen Jahr Menschen, mit denen ich mich schon länger mehr oder weniger bekannt wähnte, noch einmal anders und besser kennen und schätzen gelernt und dabei erfahren, was Trost bedeutet. Ich hoffe, das war ein Anfang, der weiter trägt. Zum Abschied gehört der Dank dafür und für alles, das sich nicht gleich mit verabschiedet, sondern mich im Leben gehalten hat: Familie, Freunde, kleine Alltagsfreuden, die philosophische Arbeit alleine und mit anderen.

Der Abschied vom vergangenen Jahr ist ein vorgegebener, kein frei gewählter. Das Jahr endet von selbst am Silvesterabend, ob ich will oder nicht. Um diesen Zwang für mich aufzulösen, muss ich ihn selbst noch einmal vollziehen, ihn mit meinem Einverständnis quittieren. Das Jahr gehen lassen.

Dieser Abschied kann kein Jahresabschluss wie im Rechnungswesen sein, kein „Basta!“, dem es ein für allemal reicht. Es wird eher darum gehen, das Jahr bewusst zu „vollenden“, es zu würdigen, seine Ereignisse und Erlebnisse als vergangen zu erkennen, ohne ihre Nachwirkung zu unterschätzen. Sie in Erinnerungen und Erfahrungen zu überführen, um mit Odo Marquard in der Orientierung auf die verbleibende Zukunft die Rolle der Herkunft nicht zu vernachlässigen. Wiederum mit Hegel gesprochen, wäre das Jahr im dreifachen Sinne „aufzuheben“: seine Unwiederbringlichkeit zu akzeptieren, seine Wegmarken im Gedächtnis zu bewahren und die von ihm erhaltenen Lehren fruchtbar werden und wirken zu lassen.

Ich werde mich zu ihm umdrehen, ihm wehmütig hinterherwinken, in der Klarsicht: es wird nicht wiederkommen, wir werden uns nicht wiedersehen. Dann werde ich mich wenden und mit einem Jahr mehr im Rücken ein Stück weitergehen müssen. Mit welchen überraschenden Ereignissen, Erlebnissen und Erfahrungen wird sich das neue Jahr füllen, von dem bisher wenig mehr feststeht als die Sonnenauf- und -untergangszeiten, Ferientermine und Feiertage? Wovon werden wir 2025 Abschied nehmen müssen? Und welche Hoffnungen werden in Erfüllung gehen?

Ludger Pfeil, 23. Dezember 2024

Foto: Ilka Heckenmüller
Foto: Ilka Heckenmüller

Ludger Pfeil

studierte Philosophie mit den Abschlüssen Magister artium und Promotion in Bochum und erfüllte diverse Lehraufträge an Universitäten. Er kennt die Arbeitswelt eines global agierenden Großunternehmens aus Mitarbeiter-, Führungs- und Beraterperspektive ebenso wie die Lebenswelt eines aktiv eingebundenen Familienvaters. Er arbeitet seit 1996 als Philosophischer Praktiker mit Seminaren, Cafés, Workshops  sowie Einzelberatungen. Ludger Pfeil hat zur analytischen Ethik, zur Führungsethik und zur Philosophie im Alltag veröffentlicht. 2015 ist bei Rowohlt sein Buch „Du lebst, was Du denkst“ erschienen. www.philosophie-im-leben.de

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