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“Zwei alte Menschen beim letzten Tanz ihres Lebens“

Cover Yalom, Unzertrennlich

Über Liebe und Abschiednehmen

Der bekannte Psychoanalytiker Irvin D. Yalom und die Wissenschaftlerin Marilyn Yalom waren 65 Jahre verheiratet und unzertrennlich. Im hohen Alter beginnen sie, gemeinsam ein Buch über ihre Liebe und das Abschied nehmen zu schreiben. Als seine Frau stirbt, muss Irvin das Werk allein vollenden. Eine herzzerreißende Homage an die Liebe.

 

 

 

 

„Trauern ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir den Mut haben, andere zu lieben.“ Diese Worte stellten Irvin und Marylin Yalom ihrem Buch voran, das beide in hohem Alter gemeinsam verfassten. Irvin, der weltweit bekannte Psychotherapeut, und Marylin, die hochgeschätzte feministische Professorin für Literaturwissenschaft. „Unzertrennlich. Über den Tod und das Leben“ nannten sie das Buch, das sie gemeinsam begannen und das Irvin acht Monate später alleine zu Ende brachte.

 

„Ich habe mich vor 73 Jahren in sie verliebt. Ich weiß, dass es ungewöhnlich ist, einen anderen Menschen so sehr und über eine so lange Zeit zu bewundern. Aber selbst heute strahle ich noch, wann immer sie den Raum betritt. Ich bewundere alles an ihr – ihre Anmut, ihre Schönheit, ihre Güte und ihre Weisheit,“ schreibt Irvin über Marylin. Ein Leben lang waren die beiden unzertrennlich. Als bei Marylin im Alter von 87 Jahren ein Multiples Myelom, ein Krebs der Plasmazellen, diagnostiziert wird, beginnt die Zeit des Abschiednehmens voneinander.

Wie aber geht das? Abschied zu nehmen von dem geliebten Menschen, der einen ein Leben lang begleitete? Wie gelingt es, einander loszulassen, wenn zwei Leben nahezu unauflösbar miteinander verflochten sind?

Reid Yalom

Das gemeinsame Buch wird zu einem wichtigen Medium des Abschieds, in dem beide ihre Gefühle und Erfahrungen offenlegen: „Wir schreiben, um unserer Existenz einen Sinn zu verleihen, auch wenn es uns in die dunkelsten des körperlichen Verfalls und des Todes befördert. Vielleicht helfen unsere Erfahrungen anderen Paaren, bei denen ein Partner an einer tödlichen Erkrankung leidet.“

Anfangs besteht die Hoffnung, die Krankheit zu besiegen. Und so unterzieht sich Marylin einer schmerzhaften und kräftezehrenden Chemotherapie. Die gemeinsame Zeit wird nun als kostbarer denn je erlebt. „Ich weiche nicht von ihrer Seite. Ich halte ihre Hand, wenn wir einschlafen. Ich kümmere mich um sie auf jede erdenkliche Weise,“ schreibt Irvin und Marylin findet für diese Zeit anrührende Worte: „Zwei alte Menschen beim letzten Tanz ihres Lebens“.

Das Ende vor Augen

Die Therapie schlägt nicht an. Marylin bleiben nicht mehr als zwei Monate, um Abschied von ihrem Leben und geliebten Menschen zu nehmen. Während Irvin sich noch gegen das Unvermeidbare stemmt, akzeptiert Marylin das Todesurteil und blickt ihrem nahenden Ende mit bewundernswerter Gelassenheit entgegen: „Die Vorstellung des Todes schreckt mich nicht.“

In Kalifornien ist ärztliche Suizidhilfe möglich. Marylin sucht und findet einen Arzt ihres Vertrauens, der ihr beim Sterben beistehen wird. Sie plant ihren Abschied, regelt ihren Nachlass, verabschiedet sich von Freunden weltweit, packt Abschiedsgeschenke für die Kinder und Enkel. Und stellt sich dem Schwersten, was es nun zu tun gilt: sich von den Menschen zu lösen, die sie liebt.

Gemeinsam lassen sie ihr Leben Revue passieren und kommen zu dem Schluss: „Beide haben wir das Gefühl, unser Leben ganz gelebt zu haben.“ Ein privat und beruflich erfülltes Leben mit einem weltweiten Netzwerk an Freundinnen und Freunden liegt hinter ihnen.

Die tödliche Krankheit gewährt Marylin nur eine kurze Schonzeit. Das Leben leuchtet noch einmal in all seiner Schönheit auf. Dann schlägt die Krankheit mit voller Wucht zu. Die Schmerzen werden übermächtig und können nur durch hohe Morphindosen gelindert werden.

Marylin ist nun kaum mehr bei Bewusstsein. Bis zu dem Morgen, an dem sie die Augen öffnet und mit klarer Stimme sagt: „Es ist an der Zeit, Irv. Es reicht. Ich möchte nicht mehr leben.“

Der Mittelpunkt fehlt

40 Tage nach Marylins Tod nimmt Irvin die Arbeit am gemeinsamen Buch wieder auf. Im Alter von nahezu 90 Jahren lebt er nun zum ersten Mal alleine. „Der Mittelpunkt fehlt. Ich fühle mich frostig und kalt.“

Mit der langjährigen Erfahrung eines Psychotherapeuten beleuchtet er nun sein eigenes Leben, seine Trauer, seine Gefühle, sein Abgleiten in Phasen der Depression.

Konnte er, der bis dahin keinen ernsthaften Verlust erlitten hatte, seinen trauernden Patientinnen und Patienten tatsächlich gerecht werden? Er erinnert sich an die Patientin, die ihren Mann verloren hatte und ihm wütend entgegenhielt: „Was wissen Sie denn schon von Verlust!“

Nun spürt er selbst den Verlust in jedem Augenblick seines Lebens. „Sie ist nirgendwo. Sie existiert nicht länger – außer in meiner Erinnerung und in der Erinnerung all jener Menschen, die sie liebten.“

Der tröstliche Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod bleibt ihm als überzeugten Atheisten versagt. Ein Weiterleben kann es nur in Form von Erinnerungen derer geben, die noch am Leben sind. Ein Weiterleben als eine Art Welleneffekt der Taten und Ideen, die der Mensch in den großen Lebensteich warf und die einem Stein gleich ihre Wellen schlagen.

Leben mit dem Tod

Nicht nur der Körper, auch die Seele stirbt. Mit dem Tod endet alles. In dem Buch In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet hatte er hierfür den Philosophen Epikur und dessen berühmtes Zitat “Bin ich, ist der Tod nicht. Ist der Tod, bin ich nicht“ ins Feld geführt.

Doch vermag diese Philosophie der Auslöschung durch den Tod dem Zurückgebliebenen Halt geben? Und kann das, was er seinen trauernden Patienten als Trost weitergab, letztlich ihn selbst trösten?

„Geliebte Marylin, ich weiß, dass ich alle Regeln breche, indem ich dir schreibe, aber ich komme jetzt zu den letzten Seiten unseres Buchs, und ich kann nicht anders, ich muss ein letztes Mal Kontakt zu dir aufnehmen.“ Nun richtet sich der Trauernde erstmals direkt an die Verstorbene.

Der innere Disput des wissenschaftlichen, rationalen Geistes mit dem emotionalen, liebevollen Herzen wird nun zugunsten letzterem entschieden.

Irvin erkennt, dass die Angst vor dem Tod, die ihn ein Leben lang gequält hatte, nun verschwunden ist: „Wann immer ich über den Tod nachdenke, beruhigt mich der Gedanke, zu dir zu gehen.“ Und er kann hören, wie Marylin ihm antwortet: „Ich weiß alles, mein geliebter Irv. Ich war an deiner Seite, ich habe dich auf dieser Reise in jedem Moment begleitet.“

Christa Spannbauer

Die Bücher von Irvin Yalom begleiten und begeistern unsere Autorin Christa Spannbauer seit vielen Jahren. Das neue Buch „Unzertrennlich. “ wird für sie jedoch immer einen besonderen Stellenwert einnehmen. Denn es gab ihr Trost und Kraft, als kurz nach dem Tod ihrer Mutter auch ihr hochbetagter Vater starb, der ohne seine Frau nicht mehr leben wollte.

Irvin D. Yalom, Marylin Yalom. Unzertrennlich. Über den Tod und das Leben. btb Verlag 2021

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