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Interkulturelles Portal über Weisheit

Simon Wilkes/ Unsplash
Simon Wilkes/ Unsplash

Verständigung über Grenzen hinweg

Die Frage nach der Weisheit und wie wir gemeinsam leben sollen, ist aktueller denn je. An der ETH Zürich gibt es ein neues Portal, das Weisheitstexte und -praktiken aus allen Traditionen sammeln will. Denn je mehr Menschen mit Weisheit in Berührung kommen, umso mehr können sie sich so verhalten, dass es dem Leben dient.

Weisheit ist ein schillernder Begriff: Wir alle verbinden damit etwas Wertvolles, wie einen weisen Menschen, eine weise Entscheidung, aber gleichzeitig spielt Weisheit in unserem individuellen und gesellschaftlichen Leben kaum eine Rolle. Weisheit scheint wie ein weit entferntes Ideal zu sein, das wir wertschätzen, aber wir wagen kaum, sie als Maßstab unseres Lebens anzuerkennen.

Gleichzeitig gibt es in allen Kulturen eine umfangreiche Weisheitsliteratur und zahlreiche Weisheitspraktiken, die seit vielen Jahrhunderten gepflegt werden. Und in einer Zeit, in der wir trotz eines immensen Zuwachses an Wissen auf eine Weise handeln, die uns als Menschen an den Rand der Selbstzerstörung bringt, ist die Frage nach der Weisheit aktueller denn je.

Aus dieser Überzeugung initiierte jetzt der Philosophieprofessor an der ETH Zürich Michael Hampe mit seinem Team das Portal Metis für Weisheitsliteratur und Weisheitspraktiken.

Michael Hampe hat sich eingehend mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt. Er hat beobachtet, dass es in Umbruchzeiten immer auch zu einer Desorientierung kam, und diese führte interessanterweise zu einer Blüte der Weisheitsliteratur.

In der Achsenzeit um 1000 bis 400 v. u. Z. entstanden Großreiche mit neuen kulturellen Kontakten. Eine Reaktion auf die dadurch ausgelöste Instabilität  waren seiner Ansicht nach auch die Weisheitstexte von Laotse, Konfuzius, Buddha, Zarathustra, der biblischen Propheten, des Koran oder Talmud.

Eine zweite große Desorientierung entstand durch die Entwicklung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Plötzlich war es möglich, Informationen in einer nie gekannten Geschwindigkeit an viele zu vermitteln. Menschen suchten Orientierung in den Ideen Martin Luthers und des aufsteigenden Protestantismus oder den Schriften der Mystiker.

Heute befinden wir uns, so Hampe, mit der Digitalisierung in einer ähnlichen Situation. Er sieht darin aber auch die Chance, das Internet zu nutzen, um kulturelle Verständigungsprozesse zu unterstützen. Und genau das soll das neue Online-Portal Metis.

Weisheitstexte und Weisheitspraktiken

Die zweisprachige Seite (Englisch/Deutsch) enthält Texte zu Weisheitsthemen, Podcasts mit Kennern verschiedener Weisheitstexte wie dem Tao Te King, dem Ägyptischen Totenbuch oder der Stoa. Es kommen auch Menschen zu Wort, die Weisheitspraktiken leben wie Meditation, Teezeremonie, Bogenschießen oder Sufi-Tänze.

Die Podcasts stehen auch als Transkripte bereit und es gibt Zugang zu den originalen Texten. Weiter steht ein ABC der Weisheit zur Verfügung, wo Stimmen aus verschiedenen Traditionen etwas zu Themen wie Freundschaft, Liebe, Feindschaft, Krieg, Verzweiflung sagen. Das Portal sucht den Austausch mit den Nutzerinnen durch Kommentarfunktion, Essaywettbewerbe und Fotoeinsendungen zu Weisheitsthemen.

Das Projekt möchte möglichst vielen Menschen die Grundgedanken der Weisheitsliteratur nahebringen, deshalb werden essenzielle Einsichten auch in Form von Comics gestaltet.

Weisheit als Kultivierung des Lebens

Das Besondere ist ein interkultureller Zugang, der nicht nur die westliche Philosophie und Literatur umfasst, sondern auch den Koran, die Upanischaden oder die Schriften des Zen-Meisters Dogen behandelt.

Dabei geht es aber nicht darum, zu einer Art kleinstem gemeinsamen Nenner der Weisheit zu kommen. Dieser interkulturelle Blick ermöglicht vielmehr eine gegenseitige Spiegelung von Weisheitsliteratur. Dies könne zu einer Verständigung über die Lebensorientierung beitragen, ohne  konfessionell gebunden zu sein; gleichzeitig geht sie über eine rein wissenschaftliche Perspektive hinaus. Denn „Naturwissenschaft und Technik führen nicht zu einer Lebensorientierung“, erklärt Hampe.

Hampe ist davon überzeugt, dass die Einsichten und Praktiken der Traditionen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Für ihn hat Weisheit mit einer bewussten Kultivierung des eigenen Lebens zu tun. Im Zentrum der Weisheitspraktiken aller Kulturen steht eine Schulung der Aufmerksamkeit, die gleichbedeutend ist mit Empathie. Denn, so Hampe:

„Je mehr Aufmerksamkeit man auf etwas anwendet, umso wertvoller wird es für einen und umso schwieriger ist es, sich demgegenüber zerstörerisch, verbrauchend oder schädigend zu verhalten.“ Orientierung, Aufmerksamkeitsschulung und ethisches Handeln können also durch Weisheitstexte und -praktiken gefördert werden. Deshalb ist Weisheit für Hampe heute so relevant.

Erfahrungen mit Weisheit machen

Durch Podcasts mit Praktizierenden solcher Übungswege möchte das Projekt Berührungsängste und Vorurteile abbauen und Menschen ermutigen, selbst erste Erfahrungen mit entsprechenden Praktiken zu machen.

Dabei war das Ziel von Weisheitspraktiken immer auch ein innerer Wandel, wie Hampe erklärt: „Durch solche Praktiken kann, wenn sie nur lang genug ausgeführt werden, so etwas wie eine Transformation, eine Veränderung des Lebens stattfinden. Häufig hat diese Transformation damit zu tun, dass man keine Orientierung mehr hat und durch diese Transformation wieder zu einer Orientierung zu finden hofft.“

Diese Transformationen betreffen nicht nur das Wissen und den Intellekt, sondern den ganzen Menschen mit seinen Affekten, Sichtweisen und körperlichen Prozessen. „Das Ziel vieler Weisheitstraditionen besteht darin“, so Hampe, „dass Menschen verträglicher und freundlicher werden.“

Durch solche inneren Prozesse der Neuorientierung und Transformation besinnen wir uns auf das, was im Leben wirklich wichtig ist. „Die Entwicklungen, die von den Marktmechanismen, von Naturwissenschaft und Technik vorangetrieben werden, beantworten eben die Frage: Wie wollen wir eigentlich gemeinsam leben? nicht“, erklärt Hampe. Das Portal Metis will zu diesem kulturellen Gespräch über unsere Lebensorientierung und das Wesentliche beitragen.

Mike Kauschke

Hier geht es zum Weisheitsportal Metis

Lesen Sie auch das Interview mit dem Initiator Michael Hampe auf Ethik heute: “Nur Erkenntnis ist ein nachhaltiges Gut”

 

Foto: privat

Michael Hampe ist ord. Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Philosophiehistorisch beschäftigt er sich mit der europäischen Philosophie in der Frühen Neuzeit, vor allem mit Spinoza und der Aufklärungsbewegung und der Geschichte des Pragmatismus, vor allem mit John Dewey und Alfred North Whitehead, systematisch mit dem Verhältnis von Literatur und Philosophie und von Weisheit und Philosophie (auch interkulturell). Veröffentlichungen: „Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik“, Berlin 2014. „Die Wildnis. Die Seele. Das Nichts. Über das wirkliche Leben“, München 2018. Mitinitiator des Weisheitsportals Metis der ETH Zürich

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