Ein Interview über Achtsamkeit und Handeln
Hinschauen statt wegschauen – das ist die Praxis der Achtsamkeit. Prof. Kazuma Matoba erforscht das Konzept Global Social Witnessing, das die Achtsamkeit von einer persönlichen Praxis hin zu einer sozialen Achtsamkeit erweitert. Das Ziel ist, einen aktiven Umgang mit dem Leid der Welt zu finden, ins Handeln zu kommen und kollektive Traumata aufzulösen.
Das Gespräch führte Mike Kauschke
Frage: Global Social Witnessing, entwickelt von Thomas Hübl, ist eine soziale Praxis der Achtsamkeit. Wie kam es zu dieser Erweiterung?
Matoba: Die japanische Übersetzung von Achtsamkeit bezieht den sozialen Aspekt mit ein. Achtsamkeit ist für viele Japaner von Anfang an sozial, weil wir Teil der Gesellschaft und des ganzen Systems sind. Es gibt zuerst Achtsamkeit gegenüber den Anderen, gegenüber der Gesellschaft, und dann bin ich auch achtsam mit mir selbst.
Achtsamkeit im Sinne japanischer Achtsamkeit bedeutet eigentlich, Chi-Energie zum anderen zu schicken. Chi ist eine subtile Energie, die zwischen der Welt und mir immer hin und her geht. Das ist auch ein Grundgedanke von Global Social Witnessing, wenn du achtsam wahrnimmst, was in der Welt passiert. Was zum Beispiel im Moment in der Ukraine oder auch in Palästina geschieht, ist schrecklich. Man kann natürlich wegschauen. Aber man kann sich durch Anschauen und durch Zuhören auch intensiv damit auseinandersetzen.
Können Sie ausführen, wie Global Social Witnessing praktisch aussieht?
Matoba: Es gibt mehrere Methoden. Eine ganz einfache Methode ist, dass man ein Foto aus der Zeitung oder den Sozialen Medien betrachtet, zum Beispiel ein Palästinenser oder Israeli im Krieg. Wenn du das Foto anschaust, bist du zunächst Betrachter und das Foto, zum Beispiel ein kleines Kind im Kriegsgebiet, ist ein Objekt. Es ist eine dualistische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt.
Wenn du das Foto mit Achtsamkeit betrachtest, dann siehst du es nicht nur kognitiv, sondern auch mit deinem Körper und mit deinen Emotionen. So entsteht eine Beziehung zwischen dir und dem Menschen auf dem Foto.
Du spürst das große System, zu dem dieser Mensch auf dem Bild und du als Betrachter gehört. Dadurch wird die dualistische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt schwächer. Denn du bist Teil des Systems, zu dem der andere Mensch auch gehört. Es wird eine gefühlte Einheit spürbar.
Wenn das geschieht, dann erhältst du Informationen von dem System. Das zeigt sich manchmal als eine Frage, die von dem System gestellt wird und in deinem Innern auftaucht. Dann hast du die Chance, auf diese Frage oder die Information, die zu dir gesendet wird, zu antworten. Das ist Verantwortung. Du kannst auf die Frage hören und versuchen, darauf zu antworten.
Achtsamkeit und Handeln gehen Hand in Hand
Wie läuft diese Übung praktisch ab?
Matoba: In einem kleinen Setting können Studierende ein Foto anschauen und diese kontemplative Übung praktizieren. Darüber hinaus veranstalte ich mit Studierenden jährlich eine Exkursion nach Calais in Nordfrankreich, wo immer noch mehr als 1000 illegale Geflüchtete wohnen und darauf warten, dass sie nach England einreisen können.
Wir arbeiten in einer Organisation ehrenamtlich mit. Abends praktizieren wir diese kontemplative Übung, um achtsam zu spüren und konstruktiv zu reflektieren, was wir tagsüber in der ehrenamtlichen Tätigkeit erlebt haben.
Nach dieser Exkursion lasse ich von den Studierenden einen Fragebogen ausfüllen. Manche spüren eine Frage von dem System, in dem sie sich befinden. Sie möchten diese Frage beantworten; einige Studierende sind motiviert, etwas mehr für Geflüchtete zu tun. Diese soziale Aktivität ist für mein Konzept des Global Social Witnessing eine wichtige Auswirkung.
Die Idee, dass Systeme Informationen haben oder Fragen stellen, hört sich zunächst merkwürdig an. Wie erklären Sie diese Erfahrung?
Matoba: Otto Scharmer spricht davon, dass wir das System, von dem wir Teil sind, spüren können. Er geht dann einen Schritt weiter und sagt, dass man einen Raum schaffen kann, in dem das System sich selbst spürt. Das System, zu dem ich gehöre, ist auch in mir. Man könnte sagen, ich bin Teil des Systems. Aber ich bin auch das System.
Wie kann durch solch ein tieferes Verständnis von Systemen einen Wandel entstehen?
Matoba: Die Gesellschaft kann sich nur durch Aktion transformieren. Eine optimale Aktion braucht gute Meditation oder Achtsamkeit. Transformation braucht konkretes Tun in der Gesellschaft, in der Politik, im Bildungswesen. Konkretes Tun ist notwendig, aber wirksamer, wenn es durch eine kontemplative Praxis motiviert ist.
Soziale Achtsamkeit erweitert die Ich-Vorstellung
Wie gestaltet sich Ihre Forschungsarbeit zur sozialen Achtsamkeit?
Matoba: Wir haben in den letzten drei Jahren einen Forschungszuschuss von der EU bekommen und mit Partnern aus Italien, Kroatien, Türkei, Griechenland und England eine Lernplattform für Global Social Witnessing entwickelt (https://lms.dig-gsw.eu).
Die Zielgruppe sind Studierende, Schüler oder junge Erwachsene. Im Zentrum steht das Witnessing in Bezug auf Geflüchtete in Europa. Auf der Plattform erhält man wissenschaftliches Informationsmaterial, hier kann man auch die Methode Global Social Witnessing kennenlernen und praktizieren.
Außerdem gibt es Videointerviews mit 15 Geflüchteten. Junge Menschen können zehn Minuten mit Begleitung dieses Video anschauen, und kommen, wenn es gut gelingt, zu der Phase, wo sie kontemplativ achtsam Informationen empfangen. Dazu können sie sich mit verschiedenen Fragen auseinandersetzen, die wir gestellt haben, zum Beispiel: Wie formulierst du die Information aus dem Video und wie möchtest du diese Information konkret beantworten?
Warum ist Ihnen in dem Forschungsprojekt so wichtig, diesen Ansatz gerade auch in die Bildung mit einzubeziehen?
Matoba: In der Forschung über kollektives Trauma liegt der Fokus meist auf den Opfern. Aber es gibt auch das Trauma der Täter, über das es sehr wenig Forschungen gibt. Es wurde aber untersucht, wie die Täter vor Gericht aussagen. Dabei ist aufgefallen, dass sie ihre Taten manchmal vergessen oder verdrängen, dass sie ihre eigene Täterschaft als schreckliche erleben und von sich selbst schockiert sind. Sie entwickeln eine Amnesie.
Diese Strukturen gibt es auch auf globaler Ebene. Als Europäer oder als Japaner sind wir Nachkommen von Kolonialisten und von Menschen, die im Faschismus zu Tätern geworden sind. Die Generation der Täter schweigt und dieses Schweigen setzt sich fort in der Generation der Kinder und Enkelkinder. So entsteht eine gesellschaftliche Amnesie.
Wir in der westlichen Kultur verursachen durch unser Konsumverhalten den Klimawandel, der sich vor allem auf Menschen im globalen Süden auswirkt. Wir werden in die dualistische Struktur von Tätern und Opfern hineingeboren.
Wie können wir davon wegkommen, wach sein und von dieser Struktur frei werden? Dadurch, dass ich selbst wach bin, aus der Amnesie herauskomme. Das ist eine wichtige Basis für Global Social Witnessing. Viele junge Studierende reagieren sofort darauf positiv. Es gibt ihnen Hoffnung.
Worauf bezieht sich die Hoffnung?
Matoba: Es ermöglicht ein freies Handeln und ein neues Wir. Wir sind verbunden mit unseren Ahnen und mit unseren Kindern der nächsten Generation. Das ist ein transgenerationales Wir. Gleichzeitig gibt es ein globales Wir, denn wir sind auch verbunden mit dem globalen Süden, mit der ganzen Welt. Und dann sind wir auch verbunden mit dem Planeten in einem planetarischen Wir.
Diese drei Ebenen des Wir zu erfahren, kann unsere Identität verändern. Wir sind als Individuum verbunden mit dem transgenerationalen, planetarischen und globalen Wir. Diese Erweiterung der Identität ist ein Ziel der sozialen Achtsamkeit im Ansatz des Global Social Witnessing. Die eigene Individualität wird zu einem Resonanzkörper, der mit dem, was in der Welt und der Gesellschaft geschieht, in Resonanz ist.
Kazuma Matoba wurde 1962 in Kobe/Japan geboren. Er hat Linguistik und internationale Beziehung in Tokio studiert und in Soziolinguistik in Duisburg promoviert. Nach seiner Habilitation mit dem Thema “Transformativer Dialog” war er Vertretungsprofessor an der Universität der Bundeswehr in München. Seit 2022 ist er außerplanmäßiger Professor im Studium fundamentale der Universität Witten/Herdecke. Er forscht und lehrt über kollektives historisches Trauma.
Matoba ist Sprecher beim Kongress “Wissenschaft und Meditation – Aufbruch ins Ungewisse” am 16. und 17. Mai 2025 in Berlin. Mehr Infos