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"Achtsamkeit kann die Gesellschaft heilen"

Arbor-Verlag
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Interview mit Jon Kabat-Zinn

Ethik heute hatte die seltene Gelegenheit, mit Jon Kabat-Zinn zu sprechen, dem Begründer des Achtsamkeitsprogramms MBSR. Im Interview stellt er sich kritischen Fragen und spricht in seiner Vision davon, wie Achtsamkeit nicht nur das Individuum transformieren kann, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft.

Das Interview führte Michaela Doepke, Redakteurin bei Ethik heute. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Marx.

Frage: Sie haben vor fast 40 Jahren das Programm „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (MBSR) gegründet. Wenn Sie zurückblicken, welchen Einfluss hat MBSR auf Ihr eigenes Leben und Sein gehabt?

Kabat-Zinn: Als ich jung war, wollte ich gerne eine Arbeit machen, die es mir erlaubte, nicht nur Geld zu verdienen, um anschließend zu leben, sondern Leben, Arbeit und die Meditationspraxis vollständig zu integrieren. Eine solche Stelle fand ich nicht. Also entschied ich mich, sie selbst zu kreieren.

Diese Vision war nicht nur für mich selbst gedacht, sondern ich stellte mir vor, dass es auch die passende Lebensform für viele junge Menschen sein könnte, die ich kannte und die wie ich nicht in den konventionellen amerikanischen Einrichtungen arbeiten wollten.

Können Sie sich heute noch mit dem Achtsamkeits-Boom identifizieren? Oder beunruhigt es Sie, dass die Kommerzialisierung der Achtsamkeit, manche nennen es „McMindfulness“, eine Art Eigendynamik angenommen hat?

Kabat-Zinn: Ich mag das Wort „McMindfulness“ nicht, weil ich glaube, dass die Menschen, die solche Begriffe prägen, dies aus einer gewissen ablehnenden Haltung heraus tun. Sie begreifen nicht, welche Schönheit in den verschiedenen Wegen liegt, wie Achtsamkeit heute auf authentische, nicht-kommerzielle, ehrliche und zutiefst ethische Art und Weise in die Welt getragen wird.

Es stimmt aber: Immer, wenn eine Sache heute in unserer Welt erfolgreich ist, gibt es Menschen, die sie für sich ausnützen und kommerziell verwerten wollen – für ihre eigenen Ziele, die nichts mit dem ursprünglichen Anliegen von MBSR zu tun haben. Wenn man glaubt, damit Geld verdienen oder sich einen Namen machen zu können, wird die tiefe Essenz verraten.

Andererseits mache ich mir darüber keine allzu großen Sorgen. Denn ich glaube, dass solche Strömungen schnell an Bedeutung verlieren werden. Die Betreffenden merken relativ schnell, dass sich irgendwann keiner mehr für das interessiert, was sie verkaufen, z. B. Achtsamkeits-Armreife oder Achtsamkeits-Teebeutel, solange sie Achtsamkeit nicht selbst in ihrem Leben verkörpern.

In zwei, drei Jahren machen sie dann etwas Neues, die Achtsamkeit interessiert sie dann nicht mehr. In der Zwischenzeit machen all jene, die das Thema ernst nehmen, einfach weiter – und das sind Tausende. Wir sollten unser Leben mit Integrität führen.

Menschen kommen, weil sie leiden

Ein Grund für die Popularität der Achtsamkeit ist, dass wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit der Praxis nachgewiesen haben. Allerdings muss man beachten, dass es bisher nur wenige Langzeitstudien gibt. Wie bewerten Sie die wissenschaftliche Forschung über MBSR?

Kabat-Zinn: Die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen. Und ja, es stimmt, dass sie MBSR fördert, weil die Wissenschaft in gewisser Weise zu einer neuen Religion geworden ist. Wenn man Bilder vom Gehirn zeigt und sieht, dass sich die Hirnmasse nach einer gewissen Dauer des MBSR-Trainings in wichtigen Arealen wie dem Hippocampus vergrößert oder die Amygdala kleiner wird, dann heißt es „Oh, das ist ja echt! Meditation ist kein Märchen, sogar das Gehirn verändert sich!“ Dadurch nimmt das Interesse zu.

Solche Fakten gibt es also. Aber es stimmt eben auch, dass die Forschung erst am Anfang steht, dass ein Hype daraus gemacht werden kann und dass manche Menschen das für ihre eigenen Ziele ausnutzen.

Sie haben das Wort „Nachweis“ in Ihrer Frage verwendet. Wir haben noch gar nichts nachgewiesen oder bewiesen. In der Einleitung zur zweiten Auflage meines ersten Buchs Full Catastrophe Living schrieb ich, selbst wenn es überhaupt keine Forschung zu Achtsamkeit gäbe, würde ich dennoch täglich praktizieren und weiter diese Arbeit machen. Denn ich sehe und spüre die Wirkungen bei mir und bei den Menschen, mit denen wir jeden Tag üben.

Sie kommen ja nicht in die Klinik, um zu lernen, wie man meditiert, sondern, weil sie leiden und weil ihr Leben auseinanderfällt. Dann suchen sie überall im Außen nach Lösungen für ihre Probleme. Wir bieten ihnen an, etwas Neues zu entdecken, nämlich, dass Lernen, Wachsen, Heilen und Transformation von innen kommen, und dass sie selbst bereits über alle Mittel verfügen, die sie brauchen, um diese Transformation in Gang zu setzen.

Sie haben die Praxis der Achtsamkeit, die ihre Ursprünge im Buddhismus hat, von ihrem religiösen Bezug gelöst und sie vielen Menschen zugänglich gemacht. Wie beurteilen Sie nun die Entwicklung, dass Achtsamkeit oft von ethischen Aspekten und innerer Weisheit getrennt angewandt wird?

Kabat-Zinn: Wer sagt das? (lacht) Ich glaube, das ist nur eine Behauptung. Natürlich reden wir nicht explizit über Ethik. Wir unterrichten keinen Buddhismus auf traditionelle Weise, denn es geht hier um die medizinische Behandlung von Patienten, die leiden.

Ich sehe es so, dass wir in Krankenhäusern zuallererst gemäß dem Hippokratischen Eid arbeiten, der Grundlage unserer Medizin. Ein wichtiger Grundsatz ist es, niemandem Schaden zuzufügen. Hieraus leitet sich die ethische Verpflichtung von MBSR in erster Linie ab. Aber woher sollen wir überhaupt wissen, wann wir jemanden schädigen, wenn wir nicht achtsam sind?

Die Leute, die behaupten, es gäbe keine ethische Grundlage für MBSR, haben also keine Ahnung, wovon sie reden. In der Regel nehmen sie einfach nur an, dass das so ist, weil sie es nicht thematisieren. Meiner Meinung nach ist es zwar wichtig, die Ethik im Hinterkopf zu haben. Wirklich ausschlaggebend ist aber, dass wir sie durch unser eigenes Verhalten verkörpern.

Deshalb sollten MBSR-Lehrer so ausgebildet werden, dass sie ethisches Verhalten verkörpern. Sie sollten sich bewusst sein, wie schnell es geschieht, dass wir eine Beziehung zu einer anderen Person verraten, wenn wir einsam sind, uns verletzt fühlen oder von Gier, sexuellen Reizen beherrscht sind. Wir sehen so etwas immer wieder, sogar bei Ärzten, die ihre Patienten missbrauchen. Auch in religiösen Kontexten wie dem Buddhismus geschieht so etwas. Es ist also ein menschliches Problem. Deshalb finde ich es nicht fair, MBSR per se zu kritisieren.

Achtsamkeit kann die Arbeitswelt transformieren

Immer mehr Unternehmen setzen Meditation und Achtsamkeit ein, um Resilienz, Kreativität und Führungsstärke zu verbessern. Wie können wir es verhindern, dass Achtsamkeit als Technik missbraucht wird, um die Leistung zu steigern und Menschen zu optimieren?

Kabat-Zinn: Menschen, die in Unternehmen Achtsamkeitstrainings anbieten, müssen ganz klar zum Ausdruck bringen, dass sie ethischen Prinzipien folgen und nicht mit Firmen zusammenarbeiten, die z. B. nur ihre Fließbänder beschleunigen wollen, damit sie mit ihren achtsamen Arbeitern in immer kürzerer Zeit noch mehr Volkswagen produzieren können.

Nein, es geht um Mitgefühl, um inneres Gleichgewicht, um Klarheit, einfach um Menschlichkeit. Warum kann Arbeit nicht ein Akt des Mitgefühls, der Verbundenheit sein! Man bekommt Geld dafür und gibt der Gesellschaft auch etwas zurück. Das würde uns von der Polarisierung zwischen denen da oben, die das Geld haben, und denen da unten, die nicht genug verdienen, befreien.

Ich sehe hier das Potenzial, dass Achtsamkeit die Arbeitswelt tatsächlich transformieren kann. Durch neue Technologien hat sie sich schon stark verändert, und wir steuern auf eine Wirtschaft zu, in der es immer weniger Arbeit für die Menschen gibt. Deshalb müssen wir neue Konzepte entwickeln, wie wir in einer Post Work Ära leben wollen.

Haben Sie auch Erfahrungen im Silicon Valley gemacht?

Kabat-Zinn: Ja, viele Menschen im Silicon Valley, die uns die heutigen Technologien gebracht haben wie Apple, Google, Facebook, Twitter sind sehr jung, reich und meditieren auch. Sie werden nicht unbedingt von Gier angetrieben, sie haben genug Geld. Ihre Motivation ist es, mit großem Erfindungsreichtum „das Universum zu verändern“. So reden sie. Ich versuche mit meinen Kolleginnen und Kollegen mit ihnen zu arbeiten, um ihnen die Vorstellung von Welt zu vermitteln, die auf mehr Mitgefühl basiert, mehr Weisheit. Eine Welt, in der man sich um Menschen kümmert, die ihre Arbeit verloren haben oder die Städte verlassen müssen, weil es dort zu teuer geworden ist.

Google ist nach San Francisco umgezogen – mit der Folge, dass sich viele Menschen hier ihre Wohnungen oder Häuser nicht mehr leisten können, weil die Mitarbeiter von Google so viel Geld haben, dass sie einfach alles kaufen. Das sind ernsthafte ethische, soziale und politische Probleme.

Warum kann Achtsamkeit nicht einen Beitrag leisten auf der Schwelle hin zu einer neuen Gesellschaft? Das Ziel ist nicht nur, Kriege und Gewalt zu verhindern, sondern auch soziale Konflikte und ein Auseinanderdriften der Gesellschaften in Reiche und Arme. Hier brauchen wir eine achtsame Politik, achtsames Wirtschaften und Achtsamkeit in der sozialen Entwicklung.

Mit Achtsamkeit den politischen Körper heilen

Achtsamkeit wird heutzutage in bestimmten Kreisen als Allheilmittel gegen alles Mögliche bezeichnet, aber es gibt auch Kritik. Wissenschaftler wie Stefan Schmidt oder Hartmut Rosa in Deutschland kritisieren, dass sich Achtsamkeit zu stark auf das Individuum konzentriert. Der Einzelne muss die ganze Verantwortung tragen, während der gesellschaftliche Kontext außer acht gelassen wird. Können wir alle Probleme wie Stress oder Überforderung durch Leistung auf dem Kissen lösen?

Kabat-Zinn: Nein, natürlich nicht. Aber das hat auch niemand behauptet. In der Achtsamkeit kümmern wir uns zuerst um den Körper. Ist der Körper vom Geist getrennt? Aus einer dualistischen Perspektive ist das so, aber wenn man es nicht-dual betrachtet, sind Körper, Geist, Herz und Welt alle miteinander verbunden. Was wäre unser Körper ohne den Atem? Wir brauchen das Außen, um das Innere am Leben zu halten, wobei natürlich auch Außen und Innen dualistische Begriffe sind.

Übertragen wir diese Vorstellung auf das Gemeinwesen: Stellen wir uns die Gesellschaft als politischen Körper vor. Dann wäre Achtsamkeit wie eine Heilkunst, damit das Ganze gesunden kann. So wie es für eine Einzelperson möglich ist, mit Meditation etwas gegen ihre Rückenschmerzen oder ihre Krebserkrankung zu tun, können wir uns achtsam verhalten, um die Gesellschaft, ja die menschliche Spezies zu heilen. Diese Art der sozialen Transformation ist für mich der Kerngedanke der weltweiten Arbeit mit Achtsamkeit.

MBSR hatte mehrere Ziele. Es war als eine Art Modell gedacht, wie man Arbeit menschlicher gestalten könnte, wie man die Medizin und auch das Gesundheitswesen verändert, das zu einem Industriezweig geworden sind, der unsere Gesellschaft korrumpiert. Wenn die Menschen gesünder werden, würde das die Gesellschaft verändern. Was ich sagen will: Es geht darum, die Gesellschaft, nicht nur das einzelne Individuum, zu transformieren.

MBSR war nie als Therapie gedacht! Der Ursprung liegt nicht in der Psychologie, sondern in der Medizin. Und zwar Medizin für die ganze Welt, denn jeder Einzelne ist eine Zelle des Körpers „Welt“. Und wenn die Herzzellen mit den Leberzellen Krieg führen, dann bekommt der Körper Krebs.

Heute gibt es in unserer Welt im metaphorischen Sinne Krebs: Kriege, Bürgerkriege, die ungeheuren Grausamkeiten, die durch Terroristen verübt werden. Gewalttätige Menschen sind sehr sehr wütend und verletzt, sie haben das Gefühl, überhaupt nicht gesehen zu werden, völlig am Rande zu stehen.

Das ist die Diagnose. Dann kommt die Frage: Was ist die richtige Behandlung? Zu versuchen, so viele verantwortliche Terroristen wie möglich zu töten? Wir produzieren Terroristen schneller, als wir sie töten könnten. An diesem Bild stimmt also etwas nicht. Die Weisheit fehlt.

Mittlerweile haben sogar die Polizei und das Militär Interesse an Achtsamkeit, und das nicht nur, um Stress zu reduzieren, sondern weil sie nicht wissen, wie sie mit solchen Situationen umgehen sollen. Die Militärs entscheiden ja nicht, in einen Krieg zu ziehen. Das ist Sache der Regierung.

Wir müssen überall auf der Welt den Geist und die Herzen verändern, die Art wie wir uns selbst steuern. Und dies passiert auch, aber es geht sehr sehr langsam.

Wir gehen in die sozialen Brennpunkte

Haben Sie schon einmal mit Terroristen gearbeitet?

Kabat-Zinn: Nein. Bisher wurde ich noch nicht gefragt… Ich weiß auch nicht, was ich dann machen würde.

In Israel und im palästinensischen Gebiet gibt es Gruppen, die gemeinsam Achtsamkeit praktizieren und dabei feststellen: Wir sind zu 99 Prozent gleich! Aber die Gesetze ziehen Grenzen, z. B. was die Verteilung von Wasser betrifft, hier werden die Israelis bevorzugt.

Wir müssen Methoden finden, damit jeder aus dem tiefen Brunnen der Menschheit trinken kann. Jeder sollte so anerkannt sein und so viel zählen wie alle anderen. Wir sind alle Menschen und sind alle gleich viel wert.

Wenn wir mit unseren Patienten arbeiten, betrachten wir jeden als etwas Besonderes, als Buddhas, als Genies. Vielleicht sehen sie sich selbst nicht so, sondern eher als Opfer ihres Krankheitsprozesses, ihres Lebens, schwieriger Umstände, des Schicksals usw. Aber wenn wir die Schönheit und die wahre Natur in unserem Gegenüber erkennen, spüren sie das sofort und erinnern sich: „Oh, ich bin eigentlich schon okay. Auch wenn ich Krebs habe, ich bin okay so wie ich bin.“ Das gibt ihnen neue Möglichkeiten. Wenn ich merke, dass ich in Ordnung bin, kann ich mein Leben gestalten und bleibe nicht Opfer meiner Umstände.

Warum können Unternehmen nicht das Gleiche tun? Warum können Unternehmen z. B. nicht die Städte verändern, in denen sie ihren Sitz haben, etwas zum öffentlichen Nahverkehr beitragen oder für erschwingliche Wohnungen sorgen, Geflüchtete unterstützen und bei der Integration helfen? Wenn man in der Weise achtsam handelt, wird dem Terrorismus die Basis entzogen, weil jeder in einem solchen Gemeinwesen leben möchte, in der er als Mensch anerkannt wird.

Meine Antworten sind ein bisschen lang. Ihre Fragen sind so gut, dass ich wohl ziemlich viel zu sagen habe. Wunderbare Fragen! [beide lachen].

Achtsamkeit ist keine Wellness für Eliten

Bei der nächsten Frage bin ich mir da nicht so sicher. In unserer Gesellschaft beobachten wir die Tendenz, der chaotischen Welt zu entfliehen und sich ins Privatleben zurückzuziehen. Der Soziologe Hartmut Rosa nennt Achtsamkeit „Wellness für Eliten“. Unterstützt MBSR nicht diese Tendenz? Befördert es unsere Neigung, unpolitisch zu bleiben, anstatt politisch zu handeln?

Kabat-Zinn: Nein, das glaube ich nicht. Wir haben gerade erst einen Artikel über eine Arbeit in sozialen Brennpunkten veröffentlicht, die zwanzig Jahre zurückliegt. Die Studie wurde im Center for Mindfulness in Medicine, Health and Society durchgeführt, das zur Medical School der University of Massachusetts gehört. Sieben Jahre lang haben wir kostenlos MBSR-Trainings für Menschen angeboten, die in der sozialen Hierarchie ihrer Stadt ganz unten stehen. Arbeitslose oder Menschen mit extrem niedrigem Einkommen, Immigranten.

Wir haben das MBSR-Programm auf Spanisch und Englisch durchgeführt, auch afrikanische Communities nahmen daran teil. Das zeigt, dass MBSR nicht für Eliten ist, sondern für Menschen. Natürlich gehören auch die Eliten dazu, es gibt keinen Grund, sie davon auszuschließen.

Aber wir gehen auch in die sozialen Brennpunkte. Wir bieten unser Training in Gefängnissen an, wo wir nicht nur die Inhaftierten sondern auch das Personal unterrichten. Wir versuchen zu zeigen, dass Achtsamkeit tatsächlich in allen Bereichen der Gesellschaft zu Heilung und Transformation führen kann.

Wichtig ist auch, dass politische Entscheidungsträger Achtsamkeit entwickeln, so dass sie eine Politik machen, die Armut verringert, Einkommen für sozial Schwache anhebt, für Gerechtigkeit sorgt und den Reichtum verteilt. In diese Richtung müsste sich beispielsweise auch die Steuerpolitik verändern, damit die Kluft zwischen Arm und Reich eingeebnet wird.

Klar ist, die Ursache dieser Krankheiten liegt in unserem ignoranten Denken. Wenn wir nicht die ganze Dimension der gesellschaftlichen Probleme erkennen, führt das zu einer Fehldiagnose, so wie es nach dem 11. September geschah. Die USA beurteilten die Ereignisse vollkommen falsch, was zur Invasion in den Irak führte. Und Sie wissen, was dadurch im Mittleren Osten geschah. Die USA sind die Urheber des IS. Diese Terrororganisation ist in den Gefängnissen des Irak während der zehnjährigen Besatzung entstanden. Wir haben sie mit hervorgebracht, haben sie großgezogen – ohne Achtsamkeit, ohne klar zu denken.

Sie selbst schauen ganz genau hin, gehen in die Tiefe. Aber tun das die Menschen in den USA auch?

Kabat-Zinn: Wir (die Achtsamkeitslehrer) tun das, so gut wir können. Und wissen Sie, was passiert, wenn wir Menschen dazu ermuntern, tiefer hinzuschauen und ihnen den Raum dafür geben? Sie tun es!

Wenn es so wäre, dass Achtsamkeit nur eine Art Wellness oder Entspannungstechnik wäre, dann würde sie jeglicher Weisheit entbehren. Aber der tiefere Sinn der Achtsamkeit ist Weisheit, verkörperte Weisheit, verkörperte Güte.

Es geht nicht darum, dass man nach hundert Jahren Meditation in einer Höhle die Weisheit erlangt. Nein, wir sind schon weise, wir sind schon mitfühlend. Was wir lernen müssen, ist, uns selbst nicht im Weg zu stehen, sondern unsere innere Schönheit, unser gesamtes Potenzial freizulegen und zum Strahlen zu bringen – zum Wohle des Ganzen.

Das gesamte Audio-Interview auf Englisch mit Jon Kabat-Zinn können Sie in der Audiothek nachhören. Diese gehört zum Premium-Bereich dieser Website. Wenn Sie Mitglied im Freundeskreis Ethik heute werden (für 60 Euro im Jahr) erhalten Sie Zugang. Sie unterstützen damit auch diese Website, die jede Woche neu, kostenlos, ohne Werbung Beiträge zum Inspirieren und Nachdenken liefert.

Kabat-Zinn, DoepkeJon Kabat-Zinn, PhD, Begründer des Achtsamkeitsprogramms MBSR (Mindfulness Based Stress-Reduction). Er ist Professor Emeritus für Medizin an der University of Massachusetts Medical School und Begründer des Center for Mindfulness in Medicine, Health Care and Society. Die Arbeit von Jon Kabat-Zinn hat zu einer wachsenden Bewegung beigetragen, durch die Achtsamkeit in Institutionen wie Krankenhäusern, Schulen, Unternehmen, Gefängnissen und Profi-Sport-Verbänden angewendet wird. Medizinische Einrichtungen in der ganzen Welt bieten heute Achtsamkeitstraining und MBSR-Kurse an. Jon Kabat-Zinn ist Autor zahlreicher Bestseller, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden. Mehr unter: www.arbor-seminare.de

 

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2 Kommentare
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Liebe Michaela,
das ist ein wahnsinnig schönes Interview und ich kann Jon Kabat-Zinn nur zustimmen. Großartige Fragen!
Herzliche Grüße

Großartige Fragen an einen großen US-Amerikaner! Nur vielleicht ist es trügerisch zu hoffen, universell nachvollziehbar begründete Antworten auf ethische und soziale Fragen von einem reichen weißen alten Mann zu erhalten, zumal wenn der Befragte aus einer sehr mächtigen Nation stammt deren Bürger traditionell vom evangelikal inspirierten “make money” getrieben und in einer kapitalistische Ellenbogengesellschaft sozialisiert sind. Offenbar kann auch Kabat-Zinn nicht über seinen Schatten springen, wenn man ihm genau zuhört:
So verortet er gesellschaftliche Verantwortung beim einzelnen Achtsamkeitspraktiker also just beim Individuum.
So arbeiten Achtsamkeitsmediziner eben nicht mit Häftlingen, sondern mit ihren Wärtern.
Die Technokraten des Silicon Valley seien eigentlich Idealisten, die wohl nur aus Versehen durch die weltweite Ausbeutung der Zulieferer reich geworden sind.
Zwei großartige Fragen für den zweiten Teil des Interviews wären:
Herr Kabat-Zinn, warum haben Sie vor 20 Jahren im Rahmen eines von der Allgemeinheit geförderten [Forschungs-]Programms kostenlose MBSR-Trainings angeboten, heute aber nicht mehr? Warum äußern Sie keinerlei Bedenken, wenn MBSR-Trainer heute mit superreicher Kundschaft aus weltweit agierenden Konzernen, der Polizei oder gar dem Militär arbeiten: Just making money?

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