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Achtsamkeit: Misstrauen Sie dem Hype!

Nina Puankova/ shutterstock.com
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Eine Neurowissenschaftlerin im Interview

Die Vorzüge von Achtsamkeit bzw. MBSR würden übertrieben, warnt Neurowissenschaftlerin Catherine Kerr. Medien und Praktizierende bauschten Studienergebnisse auf und machten sich oft falsche Hoffnungen. Kerr, die selbst Achtsamkeit praktiziert, fordert mehr Ausgewogenheit.

 

Ein Artikel über Achtsamkeit auf einer Webseite veranlasste Neurowissenschaftlerin und Meditationsforscherin Catherine Kerr aktiv zu werden. Der Artikel führte 20 Vorzüge der Meditation auf, angefangen von „Verringerung von Einsamkeit“ bis zu „Erhöhung der grauen Gehirnsubstanz“ und „Hilfe beim Einschlafen“. Er zeichnete ein Bild von Meditation als eine Art goldenes Elixier für das moderne Leben. Kerr setzte den Artikel auf ihre Facebook-Seite. Sie schrieb: „Es ist nicht so, dass dies grob ungenau wäre. Die Studien sind jedoch nur die Rosinen aus dem Kuchen und zu positiv dargestellt.“

Als Assistenzprofessorin für Medizin und Familienmedizin an der Brown University leitet Kerr ein Achtsamkeitsforschungsprogramm am Miriam Hospital in Providence. Für sie steht der Wert von Achtsamkeitspraxis außer Frage; Kerr hat persönlich großen Nutzen aus dem Programm Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) in einem zwei Jahrzehnte langen Kampf mit Krebs gezogen. Auch hat sie als Forscherin die nützlichen Wirkungen untersucht, die MBSR auf Menschen hatte.

Aber als Wissenschaftlerin, die der Wahrheit verpflichtet ist, war sie beunruhigt „Ich denke, wir sollten alle Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass die Berichterstattung etwas ausgewogener wird. Ansonsten wird diese ganze Welle über uns zusammen brechen, wenn erst die unvermeidbaren negativen Studien erscheinen.“

Kerr gründete eine Facebook-Gruppe und verlagerte die Diskussion dorthin. Heute ist „Mindfulness and Skillful Action: A Research Discussion Group“ ein Sammelplatz sowohl für über 400 prominente Akademiker, Wissenschaftler und klinische Meditationsforscher als auch Lehrerinnen und Lehrer der buddhistischen Gemeinschaft. (Diese Gruppe ist nun für neue Mitglieder geschlossen). Das Ziel ist, Strategien zu entwickeln, wie man den Hype so abschwächen könnte, dass er der Faktenlage entspricht, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten, wie Kerr in einem Beitrag kommentierte.

Das Interview führte Linda Heumann. Da der Text recht lang ist, bieten wir ihn auch als pdf-Datei an.

Frage: In einem aktuellen Artikel in der U.S. News werden Sie wie folgt zitiert: „Achtsamkeit ist eine Wissenschaft, die noch in den Anfängen steckt und um die ein großer Medien-Hype gemacht wird.“ Was meinen Sie damit?

Kerr: Die Huffington Post ist der größte Übeltäter. Ihre Botschaften werden zu omnipräsenten Bewusstseinsinhalten, die überall zirkulieren. Leute setzen sie auf ihre Facebook-Seiten, und allein durch Wiederholung sollen sie „wahr“ werden. Die Huffington Post, die häufig über Achtsamkeit berichtet, neigt dazu, nur die positiven Ergebnisse (und im besten vorstellbaren Licht) darzustellen, statt einen ausgewogenen Stand der Wissenschaft wiederzugeben.

Dieser Herangehensweise liegt die Idee zugrunde, dass jeder Menschen mit geistigen Fähigkeiten Achtsamkeitsmeditation praktizieren sollte. Meiner Meinung nach ist das nicht wissenschaftlich fundiert. Die Huffington Post hat der Achtsamkeit durch diese Art der Darstellung einen Bärendienst erwiesen. Wenn der Hype anhält, könnte eine starke Gegenreaktion die Folge sein. Die Leute verlieren den Glauben und verfallen in die gegenteilige Meinung, nämlich dass Achtsamkeit überhaupt keinen Wert habe.

Nicht jeder zieht einen Nutzen aus Achtsamkeitspraxis

Können Sie uns einige der beliebten Mythen oder Märchen in Bezug auf Achtsamkeit nennen, die Wissenschaftler gerne korrigieren würden?

Kerr: Wissenschaftler halten sich stark mit Behauptungen hinsichtlich Heilung zurück, die der Achtsamkeit zugeschrieben werden. Die Wissenschaft unterstützt das nicht. Wissenschaftler wissen aus Versuchen mit Meditation, dass nicht jede Person einen Nutzen aus Achtsamkeitstherapien zieht, aber damit scheinen Nicht-Wissenschaftler Schwierigkeiten zu haben.

Wir sollten einzig auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Studien keine klinisch relevanten Entscheidungen treffen, denn der Stichprobenumfang ist zu klein. Die Daten von klinischen Versuchen zu Achtsamkeit bezüglich Rückfällen bei Depression sind zum Beispiel nicht überragend. Tatsächlich sind die Ergebnisse nicht besser als die für Antidepressiva.

Im Allgemeinen wirkt Achtsamkeit nicht um Größenordnungen besser als andere Dinge, die Menschen unternehmen, um mit Stress und Gemütsstörungen fertig zu werden. Man muss Achtsamkeit also im Kontext einer ganzen Optionsbandbreite betrachten. Anders als andere Therapien kann Achtsamkeit an einem bestimmten Punkt selbstgesteuerter sein, sie wird eher zu einer Praxis als einer therapeutischen Modalität, wie auch Sport eher ein Training oder eine Praxis ist. Aber Achtsamkeit funktioniert nicht immer und ist nicht für jeden geeignet.

Auch wird gerne erzählt, dass MBSR von einer zweieinhalbtausend Jahre alten buddhistischen Praxis abgeleitet ist. Es ist sehr schwierig, diese Aussage zu bewerten oder zu widerlegen oder auch nur ihre Bedeutung zu erkennen. Ich denke, dass ihr zu viel Gewicht beigemessen wird.

Könnten Sie ein Beispiel für ein wissenschaftliches Ergebnis nennen, das durch die Medien überbewertet wurde?

Kerr: Ich war die zweite Autorin in der Abhandlung von Sara Lazar mit dem Titel „Meditation experience is associated with increased cortical thickness“ von 2005. Es ist eine interessante Abhandlung, aber die Befunde waren vorläufig.

War dies die Studie, nach der jeder behauptete, dass Meditation das Gehirn verändert?

Kerr: Ja. Sie wird über 800 Mal in wissenschaftlicher Literatur zitiert. Lazar wird immer noch ständig bezüglich dieser Ergebnisse interviewt. Wissenschaftler wissen jedoch, dass es sich um eine nicht-randomisierte Querschnittstudie handelt, was bedeutet, dass die Messungen nur zu einem einzigen Zeitpunkt vorgenommen werden.

Wenn es also einen Unterschied in der Dicke des Gehirns gibt, wissen wir nicht, ob die Ursache dafür die Praxis oder der Lebensstil ist oder ob sich Menschen mit einem dickeren Gehirn einfach zu Achtsamkeit hingezogen fühlen. Wenn man herausfinden möchte, ob etwas durch etwas anderes verursacht wird, müssen wir Veränderungen über einen kontrollierten Zeitraum beobachten. Das sehen wir in dieser Abhandlung nicht. Die typische Schlagzeile in den Massenmedien war jedoch: „Durch Achtsamkeit wächst Ihr Gehirn.“

Wir haben auch nicht behauptet, dass es einen direkt gemessenen Vorteil gibt, wenn man ein dickeres Gehirn hat. (Es gibt tatsächlich sogar einige Fälle, wo es nicht gut ist, ein dickeres Gehirn zu haben!). Wir haben die Ergebnisse in unserer Abhandlung auch sehr deutlich erklärt, aber weil das Gehirn so ein Fetisch ist und weil die Idee, das Gehirn wachsen zu lassen, so attraktiv war, haben viele Darstellungen in den Medien die Feinheiten völlig übersehen.

Die Ergebnisse von Sara Lazar sind seitdem repliziert worden. Ich war mir über die Ergebnisse nicht wirklich sicher, bis sie repliziert wurden.

„Ich treffe keine Entscheidung basierend auf Studien mit geringem Stichprobenumfang“

Obwohl die Messungen nur zu einem Zeitpunkt durchgeführt wurden, sind die Ergebnisse immer noch signifikant, weil sie repliziert worden sind?

Kerr: Ja, sie sind viele Male auf unterschiedliche Weisen repliziert worden. Es ist für einen Wissenschaftler sehr aufregend, wenn die eigenen Ergebnisse repli
ziert werden. In der psychologischen Wissenschaft gibt es derzeit eine wirklich signifikante Replikationskrise, insbesondere in der Sozialpsychologie. Viele Ergebnisse, die man als kanonisch ansah, die sich in Psychologie-Lehrbüchern fanden und von denen jeder annahm, dass sie wahr sind, sind nicht wiederholbar. Wir können diese Wirkungen nicht erzeugen. Es ist nun nicht unbedingt so, dass die erste Studie schlecht war, aber der Goldstandard der Wissenschaft ist Wiederholbarkeit.

In der Medizin findet sich eine breitere Replikationskrise. Es gibt einen berühmten Artikel hierüber von John P. A. Ionnidis mit dem Titel „Why Most Published Research Studies Findings are False.“ In gleicher Weise untersuchte ein in der Zeitschrift Nature erschienener Bericht vorklinische Krebsstudien und kam zu dem Ergebnis, dass über 80 Prozent der in führenden Zeitschriften veröffentlichten Ergebnisse nicht replizierbar waren. Das bedeutet, dass wir ihnen nicht trauen können. Sie sind wahrscheinlich nicht wahr! Sowohl Wissenschaftler, als auch wissenschaftliche Laien haben große Probleme mit diesen Berichten.

Welche Gründe vermuten Sie hierfür?

Kerr: Wir wollen Sicherheit; wir mögen die Unbestimmtheit nicht, wenn wir nicht wirklich verstehen, was passiert. Jemand mit einem klaren wissenschaftlichen Verständnis weiß jedoch, dass die Beweisgrundlage immer gemischt ist, sie ist nie zu hundert Prozent nur positiv. In das Gewebe der Wissenschaft mischen sich negative Befunde und schlecht geplante Studien. Das Problem ist nicht auf Achtsamkeit beschränkt.

Wie sollten wissenschaftliche Laien also die Forschung zu Meditation interpretieren?

Kerr: Ich denke man kann fairerweise sagen, dass es einige Hinweise aus der Gehirnforschung gibt, dass Meditation dabei helfen kann, Gehirnfunktion zu erhöhen. Dies ist eine auf Beweisen basierende Aussage. Der Fehler entsteht, wenn man einem Ergebnis hundertprozentige Sicherheit zuschreibt und es nicht unter dem Aspekt der Wahrscheinlichkeit einer wissenschaftlichen Wahrheit oder einem Risiko-Nutzen-Verhältnis betrachtet.

Wenn Menschen Entscheidungen bezüglich ihres eigenen Wohlergehens treffen, müssen sie diese Unsicherheit im Hinterkopf behalten. Sie müssen auch verstehen, dass der wissenschaftliche Kontext, in welchem sie ihre Entscheidung treffen, in fünf Jahren schon ganz anders sein könnte. Ich persönlich treffe sicherlich keine Entscheidung darüber, was ich praktizieren sollte, basierend auf diesen Studien mit geringem Stichprobenumfang, von denen die Medien berichten.

Welche Art von Beweisen wären für die Beurteilung von Achtsamkeit als therapeutisches Heilmittel angemessen?

Kerr: In der Diskussion sollte die konkrete Erfahrung bei der Praxis einen viel zentraleren Stellenwert einnehmen. „So fühlt es sich an, wenn Sie ihrem Atem für zwanzig Minuten folgen. Wie gefällt Ihnen das? Wie fühlten Sie sich dadurch später am Tag?“ Dies scheinen die wirklichen Fragen zu sein und nicht, „Was passiert, wenn ich Sie in einen Scanner stecke?“

„Ich trage eine aufregende Hypothese vor.“

Denken Sie, dass die Forscher selbst teilweise für den Medien-Hype verantwortlich sind?

Kerr: Die Herangehensweise in der Achtsamkeitswissenschaft entspricht dem, wie Wissenschaftler im Allgemeinen kommunizieren: Zu Beginn einer Forschungsarbeit wollen wir Begeisterung für das Thema erzeugen. Um Dinge in Ganz zu setzen, Mitarbeiter zu bekommen und das Interesse der Geldgeber zu wecken, muss man ein bisschen unternehmerisch sein.

Es ist geradezu eine Kunst, etwas als Theorie zu formulieren, was man testen möchte, und Menschen dafür zu begeistern, und gleichzeitig sicherzustellen, dass sie verstehen, dass diese Theorie bislang noch nicht bewiesen wurde. Forscher müssen diese Gratwanderung zwischen dem Ausdrücken von echtem Enthusiasmus und Vorsicht hinsichtlich der Einschränkungen halten.

Ich formuliere es oft so: „Ich trage eine aufregende Hypothese vor.“ Wenn ich darlege, wie die Hypothese funktionieren könnte, schnappen die Zuhörer diese hypothetische Geschichte so auf, als ob sie wahr wäre, obwohl ich sage: „Es ist noch nicht erwiesen worden“. Die Leute verstehen nicht, wie sie eine Geschichte aufnehmen sollten, die ein Forscher als Hypothese erzählt. Die Hypothese wird irgendwie so registriert, als wäre sie „bereits erwiesen“.

Ziehen Forscher einen Nutzen aus diesem Hype? Bringen sie ihn absichtlich oder unabsichtlich in Schwung?

Kerr: Man kann die Berichterstattung über Begegnungen mit Wissenschaftlern in öffentlichen Foren lesen und wird wahrscheinlich einige Beispiele finden, wo sie die Geschichte ein wenig stärker darstellten, als es die Beweise nahelegen. Dieses Problem gibt es nicht erst durch die Achtsamkeit. Oftmals geht es nicht um Skepsis oder sorgfältiges Nachdenken, sondern darum, wer die dramatischste Geschichte erzählen kann.

Es ist für die Öffentlichkeit schwierig, sich an eine komplexe Geschichte zu erinnern. Ein Teil unserer Kommunikationsarbeit ist es, die Geschichte auf das Wesentliche zu reduzieren. Die Schwierigkeit liegt darin zu bestimmen, wann wir die Grenze der Manipulation überschreiten und der zugrunde liegenden Wissenschaft nicht mehr gerecht werden.

Der National Institute of Health hat ein Interesse an Therapien, die beliebt und verfügbar sind, damit sich die öffentliche Aufmerksamkeit in mehr Mittel umsetzen lässt. Weitere Wissenschaftler entwickeln ein Interesse daran und so werden mehr Wissenschaftler für dieses Gebiet gewonnen. Unsere Studien erscheinen interessanter und signifikanter, weil sie sich auf ein Phänomen beziehen, an dem die Menschen Interesse haben. Somit haben wir einen Nutzen davon. Aber ich glaube nicht, dass das die Hauptursache ist, die den Hype antreibt.

Menschen sehnen sich verzweifelt nach Linderung

Sie haben Gelehrte der kontemplativen Studien aufgerufen, einen kritischen Dialog über Achtsamkeit zu beginnen. Wie würde das aussehen?

Kerr: Wir müssen uns einige wichtige Fragen stellen: Warum möchten Menschen glauben, dass Achtsamkeit unter allen Umständen gut ist, dass es keine negativen Nebenwirkungen gibt und dass sie sich auf eine reine Weise von einer 2500 Jahre alten Praxis ableitet? Warum lösen kontemplative Praktiken, insbesondere asiatische, diese Art von positiven Reaktionen aus?

Wie sähe Ihr Beitrag aus?

Kerr: Ich bin interessiert an den Erzählungen der Patienten, den klinischen Erzählungen. Wenn ich die Kritik an der Achtsamkeit genau lese, so wendet sie sich häufig nicht an die Erfahrung der Menschen, die sie praktizieren. Die Menschen haben den aufrichtigen Wunsch, glücklich zu sein und weniger zu leiden – das berücksichtigt die gegenwärtige Achtsamkeitskritik nicht.

In meinem Hirnforschungskurs bringe ich Beispiele dafür, was eine wissenschaftliche Kurzbeschreibung aussagt, sowie ein Nachrichtenartikel, der darüber berichtet. Diese beiden haben keine Verbindung miteinander. Die Menschen wünschen sich Wege, Leiden und Stress zu verringern, und sie haben nach Achtsamkeit wie nach einer Rettungsweste gegriffen. Ich finde das sehr bewegend und ich möchte das ernst nehmen.

Diese Hoffnung hat manchmal einen Geschmack von Verzweiflung. Aufgrund von zehnjähriger Forschung über den Placebo-Effekt an der Harvard Medical School mit Ted Kaptchuk, einem führenden Wissenschaftler in diesem Bereich, bin ich dafür sehr sensibilisiert. Wenn Menschen in einem medizinisch-therapeutischen Kontext nach Hilfe suchen, sehnen sie sich häufig verzweifelt nach Linderung.

Was ist der Placebo-Effekt und steht er in Beziehung zur heilenden Kraft von Achtsamkeit?

Kerr: Der Placebo-Effekt wird üblicherweise als Summe der unspezifischen Wirkungen definiert, von denen man nicht annehmen kann, dass sie ein direkter Mechanismus der Behandlu
ng sind. Wir wissen heute, dass ein Großteil des therapeutischen Nutzens von Psychotherapie sowie von verschiedenen Schmerzmitteln von dieser anfänglichen Hoffnung stammen kann. Der Nutzern hat also häufig nichts mit der speziellen Behandlung zu tun. Es geht mehr um die Person, die sich einer Situation mit einem Gefühl der Hoffnung nähert, und auf etwas trifft, das diese Hoffnung nährt.

Beim MBSR ist es ähnlich. Was einer Person im Verlauf eines achtwöchigen MBSR-Kurses passiert, basiert auf dieser anfänglichen Hoffnung, dass es einem besser geht. Ein Großteil des Nutzens, den jemand von MBSR erfährt, kommt wahrscheinlich daher.

Mein Gespür dafür basiert nicht nur auf meinen Kenntnissen der Achtsamkeitswissenschaft und meiner früheren Arbeit zur Wissenschaft des Placebo; ich lebe dies auch. Ich hatte 18 Jahre lang eine unterschwellige Krebserkrankung. Qigong und Achtsamkeit sind für mich bei der Bewältigung der Nebenwirkungen dieser Krankheit und psychologischen Schwankungen sehr hilfreich gewesen. Vielleicht haben sie mir sogar dabei geholfen, mein Immunsystem zu stabilisieren. Was für mich aber im Vordergrund steht ist, dass ich jeden Morgen mit dem aufrichtigen Wunsch aufstehe, dass es mir besser geht.

Entscheidend ist, etwas für sich zu tun

Wenn sich jemand bewusst ist, dass die Placebo-Wirkung ein wichtiger Teil der Ursache sein kann, dass eine bestimmte Behandlung funktioniert, wird die Behandlung für die Person dann noch funktionieren? Kann der Placebo-Effekt Sie als Expertin immer noch beeinflussen?

Kerr: Warum nicht? Man kann sich Heilung nicht einbilden. Wenn Sie heilen, dann heilen Sie! Ted Kaptchuk führte eine großartige Studie zu „Placebos ohne Täuschung“ durch. Er rekrutierte Menschen mit Reizdarmsyndrom und sagte ihnen: „Hier haben wir eine Behandlung, die bereits erprobt ist. Sie scheint Menschen tatsächlich zu helfen. Sie wird „Placebo“ genannt. Ein paar Pillen reichen, diese haben jedoch keinen physiologischen Nutzen. Aufgrund der Daten meinen wir jedoch, dass sie Ihnen helfen würden.“

Es gab eine ziemlich stabile Reaktion. Man braucht etwas, das man aktiv für sich selbst machen kann. Man muss eine Pille nehmen, man muss berührt werden, irgendetwas muss passieren. Aber in der Minute, in der man aus dem Placebo einen wahrhaften Mechanismus macht, hört er auf, „der Placebo-Effekt“ zu sein. Dies ist paradox. Es ist untersucht worden und es ist lenkbar. Es scheint, dass die Dynamik des Rituals sehr wichtig ist.

Wollen Sie damit sagen, dass wenn es zwei Menschen gibt, die beide krank sind und wirklich wollen, dass es ihnen besser geht, derjenige, der irgendetwas unternimmt, eine bessere Chance der Genesung hat?

Kerr: Ja. Das interessante an Achtsamkeit ist die Art und Weise, wie sie mit diesem Wunsch arbeitet. Und die einfache Tatsache, dass man durch die Hausaufgabe jeden Tag etwas macht. Es bringt einen in einen Prozess, in dem man sich selbst sehr bewusst ist.

Glauben Sie, dass es ein Risiko gibt, dass der Achtsamkeits-Hype diese Hoffnung der Menschen ausnutzt, indem er ihnen ein falsches Versprechen für Heilung gibt?

Kerr: Ich habe Berichte von Leuten gehört, die Chemotherapie aufgegeben haben, um Achtsamkeit zu praktizieren. Mit Sicherheit gibt es Leute, die ihre Antidepressiva oder Lithium absetzen und denken, dass Achtsamkeit ihre ernste Depression oder bipolare Störung bewältigen wird. Wir haben diese Sorge in Bezug auf den gegenwärtigen Achtsamkeits-Hype. Leute könnten es als wirksamer ansehen, als es tatsächlich ist. Es löst solche Situationen nicht.

Wenn Achtsamkeit Zustände wie Depression tatsächlich nicht löst, wie hilft sie dann?

Kerr: Ich habe eine qualitative Studie mit Teilnehmern eines MBSR-Kurses durchgeführt und herausgefunden, dass sie einer bestimmten Kurve zu folgen scheinen. Die Leute kommen und sehnen sich nach Linderung. Sie haben viele verschiedene Zustände. Sie suchen Hilfe. Sie denken, dass dieser Kurs vielleicht ihre Probleme beseitigt. Am ersten Tag sagt ihnen der Lehrer oder die Lehrerin, dass es darum in diesem Kurs nicht geht. Ziel dieses Kurses sei es, dass man sich seines eigenen Innenlebens gewahr wird, was die Not und das Leiden einschließt, die man vielleicht vermieden hat.

In der 4. und 5. Woche haben die Leute das wirklich verstanden. Sie haben gesessen und ihr Leiden ist nicht verschwunden. Sie haben diese tiefgehende Erfahrung gemacht und Klarheit darüber gewonnen, dass es hier nicht darum geht, das Leiden einfach wegzuwischen. Die Leute geraten also in eine Notlage, gehen hindurch und finden sich auf der anderen Seite wieder. Sie machen sich bewusst, dass sie sich dem stellen können.

Wenn die Befürworter von Achtsamkeit nur die Wirkungen auf Gehirnmechanismen im Blick haben – und das sage ich als Hirnforscherin –, entgeht ihnen ein großer Teil der Geschichte. Wenn Buddhisten die säkularisierte Achtsamkeit kritisieren, weil sie befürchten, dass sie die heilige Lehre verfälsche, entgeht ihnen auf ähnliche Weise etwas Wichtiges. Beide sind blind gegenüber dieser experimentellen Dimension:

Wir wissen nicht, ob wir Recht haben; wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Mit dieser Ungewissheit zu leben, geht wirklich tief. Und MBSR und seine Varianten helfen Menschen dabei. Ich habe die Sorge, dass unsere Neigung, die Welt in miteinander konkurrierende Abstraktionen zu zergliedern – wissenschaftlicher Reduktionismus auf der einen Seite und Dharma-Purismus auf der anderen –, uns dazu veranlassen kann, die schwer zu erkennende qualitative Verschiebung zu verpassen, die die wahre Quelle der Kraft der Achtsamkeit sein kann.

Es gibt Diskussionen, wie die wachsende Beliebtheit von säkularen Meditationsprogrammen den westlichen Buddhismus beeinflussen könnte. Was würden Sie Buddhisten raten, wie sie diese Themen bedeutsam diskutieren können?

Kerr: Es ist für die Kritiker wichtig, neugierig bezüglich der Erfahrungen von Menschen zu sein, die an diesen säkularen Meditationsprogrammen teilnehmen. Die Menschen müssen nicht diese abstrakten Fragen stellen wie: „Ist es wissenschaftlich?“, „Ist es wahrer Dharma?“. Die richtige Frage ist: „Wie fühlt es sich an?“ Wenn man sich direkt den Gehirnschaltkreisen oder der Ideologie zuwendet, verpasst man diese fundamentale Frage – diese Neugier.

Ursprünglich im Oktober 2014 in der amerikanischen Zeitschrift “Tricycle” veröffentlicht, mit freundlicher Genehmigung für ethik-heute übersetzt. www.tricycle.com Aus dem Englischen von Marion Pielage. Vollständigen Texte als pdf-Datei herunterladen.

Linda Heuman, Mitherausgeberin von Tricycle, ist freiberufliche Journalistin aus Providence, Rhode Island. www.lindaheuman.com

Catherin Kerr ist Assistenzprofessorin für Medizin und Familienmedizin an der Brown University und Director for Translational Neuroscience in der Contemplative Studies Initiative. Sie leitet ein Achtsamkeitsforschungsprogramm am Miriam Hospital in Providence.

 

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Vielen Dank für diesen kritischen und fundierten Artikel!

Ein sehr aufschlussreicher Artikel. Vielen Dank!
Besonders schön finde ich auch die Aussage, dass bei allem Hype und wissenschaftlciher Betrachtung die wichtigste Frage untergeht, nämlich wie es einem selbst damit geht.
Anstatt großen Theorien oder FAcebook-Hypes hinterherzulaufen ist es oft sinnvoller, sich selbst Gedanken zu machen und zu beobachten, wie es einem selbst damit geht und ob es sich richtig anfühlt.

Das mit der Erwartungshaltung ist natürlich immer so eine Sache. Achtsamkeit funktioniert immer dann am besten, wenn man die Erwartungen gering hält, auch wenn es im ersten Moment paradox klingt.
Wenn man die Erwartungen zu hoch ansetzt, setzt man sich selbst unter Druck, was nicht mehr einem achtsamen Handeln entspricht.
Jedenfalls ist es schön auch mal einen kritischen Artikel zu lesen.
Gruß,
Markus

Vielen Dank für den sehr interessanten Artikel. Ich würde mir wünschen, dass er mit Zeitangaben versehen ist. Wann ist er erschienen? Wann wurde das Interview geführt?

[…] Trycicle.org hat 2014 über ein aufschlussreiches Interview mit der Neurowissenschaftlerin Catherine Kerr berichtet, das einige Übertreibungen des aktuellen Achtsamkeits-Hypes zurechtrückt. Eine deutsche Übersetzung des Interviews findet sich auf ethik-heute.org. […]

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