Eine Geschichte aus dem Zen
Manchmal entwickelt sich das Leben anders als erwartet. Dies ging auch dem Zen-Meister Nansen so. Ursula Baatz erzählt seine Geschichte: wie er das Unerwartete, Unerwünschte radikal akzeptierte. Erst dann konnte er sich neu orientieren und etwas Neues wagen.
Der Begriff „Zeitenwende“ beschreibt nur unzureichend, wie sehr sich unser Leben gerade verändert: seit der Corona-Pandemie, dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und der Wahl von Trump zum US-Präsidenten. Die Folgen spüren wir alle unmittelbar in unserem Leben: Unsicherheit, Verlusterfahrungen, Ängste um den Lebensunterhalt, die Sorge um die Demokratie, Frieden und die Natur.
Als „normale Bürgerinnen und Bürger“ wird man von der Geschwindigkeit der Ereignisse überrumpelt. Irritation und Ratlosigkeit, was denn nun zu tun sein, woran man sich nun orientierten solle, breiten sich aus, meist stillschweigend. Weil alle rasche Lösungen suchen, die es jedoch nicht gibt, versucht man es eher mit Ignorieren und Weitermachen wie bisher.
Kann eine spirituelle Perspektive hier weiterhelfen? Folgende Koan-Geschichte aus der Zen-Tradition lässt sich auf die gegenwärtige Situation gut übertragen, scheint mir.
Der spätere Zen-Meister Nansen (Nanquan Puyuan, ca. 748-835)) lebte in einer kleinen Hütte in den Bergen. Eines Tages erhielt er Besuch von einem fremden Mönch, gerade als er sich auf den Weg zur Feldarbeit machte. Nansen hieß den Besucher willkommen und sagte: „Bitte fühle dich wie zu Hause. Koch Dir ein Mittagessen, so wie es Dir gefällt, und bring mir von dem, was übrig bleibt, etwas aufs Feld, der Weg hier führt direkt dorthin.“
Nansen arbeitete angestrengt den ganzen Tag bis zum Abend und kam sehr hungrig heim. Der Fremde hatte sich ein gutes Mahl zubereitet und mit Genuss verzehrt, daraufhin alle Vorräte weggeworfen und sämtliche Küchenutensilien zerbrochen. Nansen fand den Mönch friedlich schlafend in der leeren Hütte vor. Als er aber seinen müden Körper neben dem Fremden ausstreckte, erhob sich dieser und ging davon. Jahre später erzählte Nansen seinen Schülern diese Geschichte und fügte hinzu: „Er war ein vortrefflicher Mönch, ich vermisse ihn noch heute.“ (aus der Koan-Sammlung „Die Eiserne Flöte“.)
Vorstellungen loslassen und sich dem zuwenden, was jetzt ist
Bevor Nansen Zen-Meister und Abt eines großen Klosters wurde, zog er sich als Einsiedler in die Berge zurück und lebte von dem, was er anbaute – ein karges Leben.
Und dann kommt ein Unbekannter daher, nimmt, was ihm schmeckt, vernichtet die Vorräte und zerstört die ohnedies ärmlich ausgestattete Küche. Und Nansen? Findet das offensichtlich großartig. Warum sagt Nansen, er vermisse den übergriffigen Fremden noch immer?
Auf den ersten Blick scheint Nansen sich ins Schicksal zu ergeben und die Aktion des fremden Mönchs kleinmütig hinzunehmen. Doch kann das nicht erklären, warum Nansen noch Jahrzehnte später von dem Mönch sehr positiv spricht.
Koans sind paradoxe Zen-Geschichten, die Zen-Schülern bis heute als Übungsbeispiele gegeben werden. Warum also lobt Nansen den Fremden?
Aus der Perspektive der Zen-Praxis geht es darum, Vorstellungen aller Art loszulassen und sich auf das einzulassen, was gerade jetzt geschieht. Hütte und Vorräte sind demoliert – das ist ein Faktum, das nicht mehr veränderbar ist.
Selbst wenn Nansen den Mönch verprügeln würde, also für einen Mönch unpassend Gewalt anwenden würde, würde sich daran nichts ändern. Er hätte bloß seinen Ärger ausagiert.
Das Unerwartete stellt das Hängen am Status quo in Frage
Aus der Koan-Perspektive geht es um was anderes: Nansen sieht, dass er sich an die Ordnung seines kleinen Haushalts als selbstverständlich und unveränderlich gewöhnt hat. Er hat damit an einer fixen Vorstellung von sich und seinem Leben zu haften begonnen.
Der Fremde hat ihm, gesehen aus der Perspektive der Zen-Praxis, einen Dienst erwiesen, weil er dieses Anhaften radikal beendet und ihm so den Sinn seines Einsiedler-Lebens noch mal deutlich gemacht hat.
Dieses Koan von Nansen und dem fremden Mönch passt sehr gut zu unserer gegenwärtigen Situation. Wir befinden uns in einer Vielfach-Krise, die politische und ökonomische Ordnung der letzten 80 Jahre gerät ins Wanken. Hinzu kommen gravierende Umweltprobleme, die uns bereits jetzt herausfordern: Unwetter als Folge der Klimakrise, das Artensterben usw.
Das macht Angst – niemand kann wirklich überblicken, welche Konsequenzen das haben wird. Als einfache Bürgerinnen und Bürger können wir auch nicht direkt eingreifen.
Als Nansen sah, dass die die wenigen Vorräte vernichtet und das Küchengerät zerschlagen waren, hat ihn wohl auch zunächst die Angst gepackt. Angst lähmt, speziell, wenn weder Flucht noch Kampf möglich sind.
Doch als Mönch hat Nansen sich wohl rasch auf seine Praxis besonnen. Meditationspraxis kann bei Angst helfen – die Situation „einfach so wahrnehmen und akzeptieren, wie sie ist“, ist der erste Schritt zur Veränderung.
Aus der Lähmung in Bewegung kommen
Die Zen-Peacemaker, ein internationales Netzwerk engagierter Buddhisten, folgen drei Grundsätzen: Zuerst wie Nansen sich mit „Anfängergeist“ und Offenheit („Nicht-Wissen“, „not knowing“) auf die Situation einlassen. Als nächstes bezeugen, was ist („bearing witness“), und dann erst aus dieser Einsicht handeln („taking action“).
Wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, bleibt nichts anders übrig, als sich neu zu orientieren, erfinderisch zu werden, sich neu zu organisieren. Nansen ist dies sichtlich gelungen – er wird später Abt eines großen Klosters.
Es ist wichtig, aus der Lähmung herauszukommen, in die einen die täglichen Nachrichten über Kriege und die Zerstörung versetzen können. Diese Lähmung entsteht, wenn die gewohnten Vorstellungen, wie das Leben zu sein hat, nicht mehr funktionieren. Dann gilt es, Orte und Situationen zu suchen, in denen lebendiger Frieden erfahrbar ist
Das kann sehr vieles sein – etwa ein Spaziergang in den beginnenden Frühling. Oder ein Konzert, eine Ausstellung besuchen – Frieden ist schön, und Schönheit kann heilsam sein.
Vor allem es geht darum, in Bewegung zu kommen. Dann kann man Wege suchen, um aktiv zu werden und zu handeln. Das kann zum Beispiel das Engagement für Gerechtigkeit sein: etwa in einer Food Coop oder durch Initiativen des „Gemeinsam Landwirtschaften“; sich einsetzen für fairen Handel oder Menschen unterstützen, die Hilfe brauchen – Alte, Obdachlose, Geflüchtete, Alleinerziehende – da gibt es mehr als genug Bedarf.
Nicht allein, sondern gemeinsam etwas tun: Kooperation ist wichtig, denn durch gemeinsames sinnstiftendes Tun entsteht eine sehr feine, subtile, lebensspendende Form von Intimität.
So verbindet man Meditationspraxis und Handeln – „actio“ und „contemplatio“, wie das die europäische christliche Tradition nennt. Das eine befruchtet das andere, und daraus können neue Visionen entstehen.
Wie kann Frieden aussehen in einer Welt der Vielfach-Krisen? In einer Welt, in der gerade die alte Ordnung zerstört wird? Dafür braucht es Menschen, die sich nicht fürchten. Sonst wird die Zukunft nur die Fortsetzung der Gegenwart.