Ein Buch des Philosophen Michael Hampe
Alles im Leben soll einen Zweck haben, doch die Zwecke sind meistens von außen gesetzt und dienen gar nicht dem Leben. Der Philosoph Michael Hampe fragt in seinem Buch, wie ein Leben aussehen könnte, das auf Zwecke verzichtet und aus der Wahrnehmung des Moments heraus geführt wird. Doch so einfach ist die Sache nicht.
Was tue ich hier eigentlich, und wozu, könnte man sich im Getriebe des Lebens fragen, wenn man nicht ständig beschäftigt wäre. Der Philosoph Michael Hampe schafft mit seinem Buch Raum zum Erkunden existentieller Fragen: Wer bin ich, könnte mein Leben anders sein, wieviel Freiheit habe ich?
Seine Gedanken und Anregungen sind so ganz anders, als man es aus der abendländischen Philosophie kennt. Eher erinnert sein Schreiben an östliche Ansätze, das Leben zu betrachten: meditativ, kontemplativ, erzählerisch, jenseits von Abstraktion und Gedankengebäuden.
Hampe erforscht im autobiografischen Erzählen Muster, die hinter all den Erinnerungen, Wahrnehmungen und Gedanken stecken, die den Geist fluten. Und er bringt zum Ausdruck, wie leidvoll es ist, den von Erziehung und Gesellschaft vorgegebenen Bahnen zu folgen, von außen diktierte Zwecke zu erfüllen.
All das Streben nach Zweck und Sinn basiere auf Sprache und Begriffen. Man stellt sein Leben „unter ein Bild“, wie Hampe es mit Ludwig Wittgenstein ausdrückt, sei es eine religiöse Idee, eine Ideologie oder Vorstellugen von Glück, vom Guten Leben.
Diese Bilder prägen unsere Identität, wer wir sind, was wir tun, welchem Zweck wir dienen sollen. Mit Sprache und Bewertungen erschaffen wir eine Art künstlicher Welt. Doch was liegt hinter der Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen, wer sind wir wirklich? Kann es gelingen, eine eigene, innere Perspektive auf das Leben zu haben? Mit vielen Fragen regt er die Leserschaft zum eigenen Erforschen an.
Ein anderer Selbst- und Weltzugang
Hampe empfiehlt, einfach nur wahrzunehmen, was ist. Das ist natürlich leichter gesagt als getan, denn normalerweise sind Wahrnehmungen ja mit Bildern und Begriffen verbunden. Hampe führt die Idee der „allgemeinen Aufmerksamkeit“ ein, eine Art reiner Wahrnehmungen, frei von Bewertungen.
Als Beispiel für diesen anderen Weltzugang schildert der Autor eine unspektakuläre, aber einschneidende Erfahrung in einem Garten, wo in seiner Wahrnehmung eines Baums und dem Flug eines Vogels die Gedanken zur Ruhe kamen und die Unterschiede zwischen innen und außen, Subjekt und Objekt sich aufhoben.
Ist es möglich, in so einer Wahrnehmung zu sein, zu leben, die intuitives Handeln ermöglicht? Und was würde sich dadurch verändern? Vielleicht würde das „höher, schneller, weiter“ unserer Kultur sich verwandeln in ein „besonnenener, langsamer, mitfühlender“. Und wir könnten aus einer tieferen Weisheit leben, statt besinnungslos das zu wiederholen, was die Kultur vorgibt.
Hampe selbst bezeichnet sich als „radikalen Skeptiker“ und bezieht sich u.a. auf Sextus Empiricus. Die Welt erscheint demnach nicht als verlässlich, sondern permanent im Wandel; daher könne man keine absoluten Aussagen treffen und auch keine endgültigen Zwecke verfolgen oder moralisch absolute Werte setzen.
Leben entfaltet sich mit jedem Augenblick immer wieder neu – eine Erfahrung, die nicht machen kann, wer in der starren Welt der Gedanken und Bilder verharrt und nur diese für real hält. Daher ist das aufmerksame Wahrnehmen so wichtig.
Besonders für Menschen, die meditieren, ist das Buch hilfreich zu lesen. Denn sie machen ähnliche Erfahrungen wie der Autor, sind aber meist nicht so geschult, ihr Erleben in der Weise einzuordnen und zu verstehen, wie Hampe es möglich macht.
Mit dem Leben in Kontakt sein
Aber können wir Menschen so leben, wie es der Autor nahelegt? Wir werden in diese Welt hineingeboren – mit bestimmten Notwendigkeiten, Aufgaben, Verbindungen zu anderen Menschen. Es scheint unmöglich, den Alltag nach der Philosophie der Zwecklosigkeit zu bestreiten.
Und wäre das gesund? Der Arzt, Gesundheitsforscher und Neurowissenschaftler Tobias Esch schreibt in seinem neuen Buch „Wofür stehen Sie morgens auf?“, dass Menschen krank werden können, wenn ihnen der Lebenssinn abhanden kommt.
Die meisten Menschen brauchen eine Richtung in ihrem Leben, Sinn und Orientierung, ja auch gute Konzepte und Ideen vom gelingenden Leben. Die Pychoanalytikerin Verena Kast spricht davon, wie wichtig es ist, „die gehobenen Emotionen“ zu kultivieren wie Vertrauen, Freude, Dankbarkeit, um zufrieden zu leben.
Hinzu kommt, dass die gepriesene „allgemeine Aufmerksamkeit“ oder reine Wahrnehmung im Alltag nicht so leicht aufrechtzuerhalten ist. Das erfordert einige Übung und sicher auch eine gute Begleitung, damit der Geist nicht verrückt spielt. Auch könnte die Gefahr bestehen, in Schwermut, Trägheit abzugleiten, wenn man sich in Dumpfheit und Tagträumen verliert, statt wirklich wach wahrzunehmen, was ist.
Doch gewiss hat Michael Hampe einen guten Punkt: Wenn wir Tag und Nacht, jahraus, jahrein damit beschäftigt sind, etwas zu erreichen, nach etwas zu streben, zu machen, zu tun, erschöpfen wir und leben nur auf der Oberfläche von Begriffen und Vorstellungen. Dabei verlieren wir den Kontakt zum Leben.
Es fehlt ein Innehalten, einfach sein – frei von Aktivitäten, Streben, Suchen. Dann eröffnen sich andere Möglichkeiten, mit dem Leben in Berührung zu sein. Vielleicht liegt die Freiheit darin, zwischen beiden Polen zu pendeln: zwischen Aktivität und Ruhe, zwischen Zweck und Zwecklosigkeit, zwischen tiefen inneren Erfahrungen und äußeren Beziehungen.
Es ist Michael Hampe zu verdanken, dass er uns im Westen mit seinem Buch eine Brücke baut, anders auf das Leben zu schauen, innezuhalten und mutig in die reiche innere Welt einzutauchen. Denn, wie es der vietnamesische Meditationslehrer Thich Nhat Hanh (1926-2022) einmal sagte: „Alle Elemente für dein Glück sind schon da. Es gibt keinen Grund zu rennen, zu streben, zu suchen oder zu kämpfen“.
Michael Hampe: Wozu? Eine Philosophie der Zwecklosigkeit. München 2024
Birgit Stratmann