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Anders über das Gute nachdenken

DerJoachim/ Photocase
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Ein Essay der Philosophin Ariadne von Schirach

Was ist eigentlich das Gute? Oder ist die Frage absurd – in Zeiten, in denen das Schlechte so naheliegt? Die Philosophin Ariadne von Schirach regt dazu an, das Denken in „gut“ und „schlecht“ zu überwinden und Liebe und Lebendigkeit ins Zentrum zu rücken.

Was ist das Gute? Oft ist gerade das, was uns am vertrautesten scheint, schwer in Worte zu fassen. Zudem bedeuten Ideen wie Glück, Sinn oder eben das Gute für uns Menschen oft erstaunlich unterschiedliche Dinge.

Wenn ich mich genauer befrage, denke ich an Großzügigkeit, Geduld, Herzenswärme. Rücksicht. Das Schwache schützen. Das Schöne ermöglichen. In Wahrheit leben. Haltung. Anstand, Güte. Und Freude, Heiterkeit, Humor. Alles nicht ganz falsch. Aber vielleicht auch nicht ganz richtig. Denn ein Begriff wie das „Gute“ trägt in sich nicht nur eine persönliche, sondern immer auch eine kulturelle Deutung, die zu Zeiten des Aristoteles etwas anderes meinte als jetzt.

Der griechische Philosoph Aristoteles begleitet mich schon lange. Ich verdanke ihm nicht nur meine Berufswahl, sondern auch eine jahrelange Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Guten. Am meisten beschäftigt mich seine Tugendethik, also sein Vorschlag, dass wir gute Menschen werden müssen, wenn wir glücklich sein wollen. Stimmt das? Und wenn ja, was bedeutet das in unserem Alltag rund 2000 Jahre später?

Nicht das Gute ist heute einfach, sondern das Schlechte

Für Aristoteles war ein guter Mensch jemand, der gute Charaktereigenschaften hatte, welche wiederum die vier antiken Tugenden – Tapferkeit, Mäßigung, Weisheit und Gerechtigkeit – reflektierten. Deshalb galt es, sich darum zu bemühen, tapfer, großzügig, weise und selbstbeherrscht zu sein.

Und wie sollte man das lernen? Indem man sich von anderen Personen inspirieren ließ, ihnen nachfolgte. Das ist natürlich einfacher in einem Umfeld, das die damaligen Tugenden auch als wertvoll erachtet, lebt und fördert. So wird das Gute leicht.

Schwer hingegen haben es solche Tugenden in einer Zeit wie der unseren, die sich dem Leistungsdenken, dem Profitstreben und der Konkurrenz verschrieben hat, ergänzt von den sozialen Medien, die täglich zum Lügen, Angeben und Vergleichen einladen. Ist bei uns gerade das Schlechte einfach, leben wir in einer toxischen Gesellschaft?

Vielleicht. Doch wenn es dunkel ist, strahlt das Licht besonders hell. Und vor allem – das Leben ist und bleibt eine persönliche Angelegenheit. Wir sind uns selbst aufgegeben, jeder und jede von uns muss und kann sich selbst erziehen. Ich denke an Konfuzius, der in seinen Gesprächen den Rat gab: Wenn du einen Würdigen siehst, folge ihm nach, wenn du einen Unwürdigen siehst, prüfe dich selbst. Immer was zu tun. Wenn wir wollen. Immer nur, wenn wir wollen.

Das eindimensionale Gute aus christlicher Sicht

Das „Gute“ im antiken wie auch im konfuzianischen Sinn ist also etwas, was wir voneinander lernen und dann in unserem eigenen Leben üben. Und es ist eher Adjektiv als Substantiv – guter Mensch, gutes Leben, guter Charakter. Diese „Gute“ erscheint pragmatisch, prozesshaft, ein ebenso persönliches wie menschliches Maß.

Doch Aristoteles verdanken wir nicht nur eine lebbare Tugend, sondern auch den Schatten, den die Idee des Guten jahrhundertelang über unsere abendländische Welt geworfen hat. Denn der antike Philosoph hat nicht nur über Ethik nachgedacht, sondern war auch Naturwissenschaftler und Mathematiker.

In seinem Werk Organon entwickelte er eine Idee von Logik, die auf Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit gründete. Diese antiken Gedanken begründen die uns Heutigen noch allzu vertraute Überzeugung, dass auch unsere Worte und Begriffe „rein“ zu sein hätten, weil es das Eine ganz ohne das Andere gäbe: Licht ohne Schatten, Freude ohne Traurigkeit, Werden ohne Vergänglichkeit.

Diese Einseitigkeit kumuliert in der christlichen Vorstellung eines rein-guten Gottes, dem jahrhundertelang wegen aller irdischen Schmerzen der Prozess gemacht wurde. Das dahinterstehende „Theodizee“-Problem, also die anklagende Frage, wie ein allwissender, gütiger und allmächtiger Gott das Leid der Welt – Tod, Krankheit, Gewalt usw. – zulassen konnte, scheint mir keine aufrichtige Frage zu sein, sondern eher dem eindimensionalen christlichen Gottesverständnis zu entspringen.

Ganz so, als würde man einen lebendigen, vielstimmigen Menschen in enge, eindeutige Schubladen stecken, und dann alles verteufeln, was nicht in das Bild passt, das wir uns jahrhundertelang vom anderen gemacht habe. Von Gott, vom Leben, von uns selbst.

Die religiös aufgeladene Idee des Guten hat viel Schlechtes bewirkt. Denn sie leidet nicht nur am aristotelischen Reinheitsgebot, sondern auch an einem moralischen Erbe, das ebenfalls kulturell einzigartig ist. Da der christliche Gott vor allen Dingen gut ist, wähnten sich auch alle, die an ihn glauben, ihm nachfolgen, gut.

Diese moralische Überlegenheit wird immer noch benutzt, reale und folgenreiche Gewalt denen gegenüber zu rechtfertigen, die bekehrt, belehrt oder verdammt werden müssen. Ganz zu schweigen davon, dass alle, die an den „guten Gott“ glauben, nicht mehr den Anderen, den Menschen, den Tieren und der Erde, sondern alleine dem alten weißen Mann in Himmel Rechenschaft schuldig sind.

Doch was will dieser Christengott von uns? Der Genfer Theologe Jean Calvin hat verkündet, dass Gott seine Liebe durch weltliche Güter zeigt, eine immer noch andauernde Rechtfertigung von Kapitalakkumulation und gesellschaftlicher Ungleichheit.

Es wird auch immer wieder betont, dass Gott die Frau zum Gebären geschaffen hat, für Hausarbeit, zum Gehorsam. Und der Mensch, also der Mann, ist die Krone der Schöpfung und soll sich die Erde untertan machen, bis auch noch die letzte Ressource verbraucht ist.

Das Gute ist nicht im Himmel, sondern in uns und zwischen uns

Nichts ist gefährlicher, als Gottes Stimme zu hören, nichts ist fataler als falsche Gewissheit. Und doch schimmert aus den Rissen und Lücken der Begriffe etwas, das uns alle angeht. Es gibt keine Wahrheit ohne ihr Gegenteil.

Die Welt in der wir leben, ist von Menschen gemacht, und wir lernen das Menschsein voneinander, auch heute noch. Ethik ist immer auch die Ethik des Anderen. Die antiken Tugenden lehren uns Rücksicht und Selbstbeherrschung, aber auch Mut und Innenschau. Das chinesische Denken kontrastiert unser moralisches Gut-Böse-Denken mit einem prozessualen Übergang von Hellem und Dunklem, vom Geben und Empfangen, von Aktivität und Passivität.

Alles bringt sein Gegenteil hervor. Und so wie der lebenskluge Aristoteles das Monster des Guten ermöglichte, so bewahrt der christliche Elfenbeinturm das Erbe der einzigen Botschaft, die uns auch heute noch etwas angeht, angesichts von Krieg und sozialer Ungleichheit vielleicht mehr denn je: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Liebe alles an ihm, das Gefällige und das Hässliche, das Großzügige und das Hungrige, das, was passt und das was keinen Sinn macht. Liebe auch das Leben in all seiner Schönheit und all seinem Schmerz. Und liebe dich selbst, denn auch wir sind nicht immer so, wie wir gerne wären, und vielleicht tut das am meisten weh.

Wir müssen die dunklen Seiten des Lebens nicht fürchten, im Gegenteil. Leid und Beschränkung, das Krumme und Dunkle verbinden uns mit den Anderen und machen unser Herz weich und weit.

So vermögen wir auch manchmal etwas vom geheimnisvollen Herzen der Dinge zu spüren; ein Herz, das nicht in einem fernen Himmel schlägt, sondern in der Mitte des Lebens, in uns, zwischen uns. Es ist nicht auf einen einfachen Begriff zu bringen, aber ich spüre etwas von seiner Kraft, wenn ich in der indischen Bhagavad Gita lese: Wenn ein Mensch auf die Freuden und Leiden anderer so reagiert, als ob sie seine eigenen wären, hat er den höchsten Zustand spiritueller Vereinigung erreicht.

Foto: privat

Ariadne von Schirach unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Hochschulen und hält Vorträge im In- und Ausland. Zudem arbeitet sie als freie Journalistin und Kritikerin. Autorin der Sachbuch-Bestseller “Der Tanz um die Lust” (2007) und “Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst” (2014). “Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden” (2020) bildet als dritter Teil den Abschluss dieser Trilogie des modernen Lebens. 2021 erschien ihr Buch: “Glücksversuche. Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen”.

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