Eine Hochschule als Vorbild der Inklusion
Das Annelie-Wellensiek-Zentrum für Inklusive Bildung ist das erste seiner Art an einer Hochschule. Es bildet Menschen mit kognitiven Beeinträchtigung zu Bildungsfachkräften aus. Diese geben dann ihre Erfahrungen an die Studierenden weiter. Kirsten Baumbusch über ein innovatives Projekt.
Das Problem ist altbekannt. Menschen mit Behinderung arbeiten zumeist in besonderen Werkstätten, ganz selten auf dem ersten Arbeitsmarkt. Dabei hätten sie viel zu geben. Sie verfügen über wertvolles Erfahrungswissen, das zu teilen wichtig wäre. Sie sind Expertinnen und Experten für ihre Inklusions- und Exklusionserfahrungen.
Inklusion hat den Anspruch, alle Menschen so anzunehmen, wie sie sind. Das umzusetzen, kann die Gesellschaft zu einem besseren Ort für alle machen. Auf diesen Weg hat sich ein ganz besonderes Zentrum an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg gemacht. Am „Annelie-Wellensiek-Zentrum für Inklusive Bildung“ (AW-ZIB) werden Menschen mit einer so genannten kognitiven Beeinträchtigung zu Bildungsfachkräften qualifiziert mit dem Ziel einer festen Anstellung.
Zwischenzeitlich ist die Einrichtung zum wichtigen Baustein einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Inklusion in Baden-Württemberg geworden – auf Augenhöhe mit Betroffenen. Das Zentrum ist national wie international das erste seiner Art, das als wissenschaftliche Einrichtung und Inklusionsabteilung an einer Hochschule eingerichtet wurde.
Das interdisziplinäre und vielfältige Team gibt zum einen Einblicke in die Lebenswelten sowie Inklusions- und Exklusionserfahrungen von Menschen mit Behinderung. Ist aber gleichzeitig für die nachhaltige landesweite Organisation, Koordination und Weiterentwicklung der Bildungsarbeit und den Transfer der Bildungsangebote zuständig. Es geht vor allem darum herauszufinden, wie inklusionsorientierte Strukturen an Hochschulen, aber auch in anderen Institutionen etabliert werden können.
Die früh verstorbene Rektorin der Hochschule, Annelie Wellensiek, nach der das Zentrum benannt ist, hat es einmal so formuliert: „Bildung bedeutet, sich nicht voneinander abzugrenzen, sondern durch die Verschiedenheit voneinander zu lernen und gemeinsam Antworten zu finden.“ Dieser Anspruch trägt das Team.
Die Betroffenen vermitteln ihre Erfahrungen aus der Praxis
Alle zusammen haben sich ein großes Ziel gesetzt. Hier sollen Bildungsfachkräfte, die zuvor in Werkstätten für behinderte Menschen gearbeitet haben, nach einer dreijährigen Qualifizierung die fachwissenschaftliche Lehre mit ihren Erfahrungen ergänzen.
Konkret heißt das, sie geben Einblicke in die Lebenswelt von Menschen mit Behinderung. Sie machen durch ihre Persönlichkeit erlebbar, wie Teilhabe und Selbstbestimmung gelingen können. Gleichzeitig haben sie sich in der Qualifizierung so viel Theorie- und Methodenwissen angeeignet, dass sie zu echten Kolleginnen und Kollegen der anderen Lehrenden an der Hochschule geworden sind.
Professorin Karin Terfloth und Bildungsfachkraft Helmuth Pflantzer erzählen im Gespräch mit Ethik heute, was sie an ihrer Arbeit begeistert. Terfloth ist Professorin für „Pädagogik bei schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung und Inklusionspädagogik“ an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und eine der wissenschaftlichen Leiterinnen des Zentrums. Sie selbst hat Heil- und Sonderpädagogik studiert.
Helmuth Pflantzer ist Bildungsfachkraft am AW-ZIB, er ist Rollifahrer und hat von Geburt an eine so genannte kognitive Beeinträchtigung. Der 50-Jährige gehört zu den bundesweit ersten Bildungsfachkräften, die an einer Hochschule angestellt wurden.
Zuvor hat er 22 Jahre in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet, zum Schluss an der Pforte. Heute forscht, lehrt und lernt er an der Pädagogischen Hochschule und spricht landesweit insbesondere mit angehenden Lehrkräften über Exklusions- und Inklusionserfahrungen.
„Das Schwierigste war, das Lernen wieder zu lernen“, erzählt er im Rückblick, „aber ich habe mir dann doch noch das Rüstzeug geschaffen, mit Studierenden umzugehen.“ Es hat Mut erfordert, mit Mitte 40 noch einmal neu anzufangen, auch wenn er die Anstrengungen keine Sekunde bereut hat.
“Dekonstruktion von Behinderung”
„Die Bildungsfachkräfte wie Helmuth Pflantzer berichten auf Augenhöhe, reflektiert, kritisch und hochschuldidaktisch sehr gut umgesetzt, um Studierende zu erreichen. Hochschulen sind nämlich nicht von Natur aus inklusiv. Wir merken Tag für Tag, was es bedeutet, daran zu arbeiten, Barrieren zu reduzieren“, macht Karin Terfloth deutlich.
Sie selbst hat die neuen Kolleginnen und Kollegen sehr früh schon in ihre Lehrtätigkeit an der Hochschule integrieren können. „Die Bildungsfachkräfte bringen ergänzend zur Theorie Themen und Erfahrungen ein, die wir anderen Lehrenden nicht in diesem Maß vertreten können“, betont sie.
„Wenn ein Mensch betroffen ist, kann er das besser in der Praxis erklären“, pflichtet Pflantzer bei, „es geht um Greifen und Begreifen“. Und dieses Wissen, so Terfloth, ist kein um Mitleid heischendes Anekdotenerzählen, sondern professionell reflektierte und vermittelte Erfahrungsexpertise.
Ein Beispiel: „Ich erzähle über meine Lernerfahrung“, schildert Pflantzer, „die ist eine ganz andere als die der Studierenden. Ich bringe einen anderen Blickwinkel ein. Viele sind erstaunt darüber, welche Schwierigkeiten man beim Lernen in der Schule überhaupt haben kann und wie wenig sich daran in den letzten Jahrzehnten verändert hat“.
Gerne fragt er dann die Studierenden, auf welche Hindernisse sie selbst in ihren Lernkarrieren gestoßen sind und was für Formen es gibt. Im Austausch entstehen dann Aha-Momente und die Frage: Wie kommt das? Und wie könnte es besser gehen? „Ich will die Bilder in den Köpfen verändern“, formuliert Pflantzer seinen Anspruch.
Er und Terfloth sprechen von „Dekonstruktion von Behinderung“. Es geht darum, Barrieren abzubauen, aber auch klar zu machen, wie es ist, mit Behinderung zu leben. Und es geht darum zu zeigen, dass die Behinderung zwar zu diesem Menschen gehört, ihn aber nicht ausmacht. Pflantzer geht noch einen Schritt weiter: „Ohne diese Schädigung wäre ich heute nicht da, wo ich bin und nicht der, der ich bin. Das gehört zu mir.“
Was hat sich verändert in seinem Leben durch seinen neuen Beruf? „Oh, so viel“, sagt er und strahlt über das ganze Gesicht. Das fängt beim Reisen an, das er sich jetzt leisten kann, und hört bei der gewachsenen Offenheit und dem Wissen, wo er hin will im Leben, noch lange nicht auf. „Ich kann etwas in die Gesellschaft zurückgeben, bin nicht mehr der Bittsteller von früher“, so sagt er, „das ist das Wichtigste“.
Was ist für Karin Terfloth das Schönste? „Die Augenhöhe, auf der wir arbeiten“, sagt sie, „und dass sich auch in der Hochschule etwas verändert. Wir werden immer mehr zu einer lernenden Organisation“.
Mehr Infos: www.ph-heidelberg.de/aw-zib