Wie wir das Lebendige achten
In einem Wald, der sich selbst überlassen ist, pulsiert das Leben. Mike Kauschke war in so einem Wald unterwegs und erlebte magische Momente. Er kam in Kontakt mit Bäumen und Pflanzen, begegnete Tieren und konnte spüren, dass die Natur belebt ist.
Vor einiger Zeit verbrachte ich ein paar Tage in einem Naturschutzgebiet an der Ostsee, der Sundischen Wiese. Das ist ein schmaler Landstrich zwischen Ostsee und dem Bodden in der Nähe von Zingst.
Ursprünglich ein Feuchtgebiet wurde es aufgeforstet und als militärisches Übungsgebiet genutzt, seit dem Jahr 2000 wird das Gebiet nun teilweise wieder geflutet und ist Kerngebiet des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft.
An vielen Stellen ist es eine Wildnis. Die gefluteten Flächen wirken durch die abgestorbenen Bäume gespenstisch. Dem einfließenden Salzwasser halten sie nicht stand und werden von Kormoranen und anderen Vögeln als Rastplatz benutzt. So geflutet wird das Land sich selbst überlassen, so dass sich Feuchtgebiete bilden können, die vielen Tieren einen Lebensraum bieten.
Als wir mit dem Fahrrad durch die Wiesen fuhren, sahen wir so viele Tiere in freier Natur, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe. Wenn, dann vielleicht in abgelegenen Bergregionen. Aber hier fuhren wir vorbei an Füchsen, Hasen, Rehen, grasenden Dammwildherden, Hirschen mit imposanten Geweihen. Wildscheine rannten vor uns über den Weg, und eine Vielzahl von Wasservögeln durchkreuzten die Luft, schwammen auf den Wasserflächen.
Es war eine wahrhaft belebte Landschaft. Schmerzlich wurde mir bewusst, wie tot eigentlich unsere Landschaften häufig sind, weil sie nicht mehr in diesem Ausmaß Lebensraum für anderen Wesen sein können. Hier wimmelte es im besten Sinne. Wurde die Landschaft selbst von innen durchpulst, verlebendigt von der Anwesenheit all dieser anderen Wesen.
Aufblühen und Vergehen – das Spiel der Natur
Angrenzend an die Sundische Wiese erstreckt sich der Osterwald, ein ebenfalls weitgehend der Natur überlassenes Waldgebiet, mit vielen Feuchtgebieten und Mooren. Abgestorbene Bäume fallen hier zu Boden oder in die kleinen Teiche und werden im langsamen Prozess des Wandels zur Heimat und Nahrung anderen Wesen, und schließlich zum Hummus neuer Pflanzen.
Auch hier spürte ich wieder, was ein echter Wald ist. Nicht der kultivierte, angepflanzte und zur Abholzung dienende Nutzwald, in dem ich meistens unterwegs bin. Das war ein Wald, der sich selbst überlassen war. Er vibrierte deshalb mit einer intensiven Lebendigkeit, war durchdrungen von diesen Prozessen von Aufblühen und Vergehen.
Die vielen verschiedenen Bäume, die Birken, Eichen, Buchen, Kiefern ließen in ihrer Vermischung und ihrem wechselseitigen Wachsen die Fülle des Lebendigen spürbar werden.
Und dann wurde uns noch eine besondere Erfahrung zuteil, eine Begegnung mit dem Wunderbaren, die wie ein Symbol oder eine geistige Anwesenheit dieser Landschaft erschien. Im Hotel, in dem wir wohnten, hatte man uns schon gesagt, dass es in der Nähe eine Dammwildherde mit einem weißen Hirsch gäbe.
Wir nahmen die Information erstaunt hin und hofften natürlich insgeheim, das Tier zu sehen. Schon bei unserem ersten Spaziergang am Abend war es so weit, in der Dämmerung sahen wir eine Herde Damwild in den Wald streifen. Und eines der Tiere war auffällig hell.
Ein Blick durch das Fernobjektiv meiner Kamera zeigte eine weiße Hirschkuh, die einige Augenblicke stehen blieb und in unsere Richtung schaute. Es war ein magischer Moment, der uns auch an unserem letzten Tag noch einmal geschenkt wurde, als die Herde wieder unseren Weg kreuzte, das weiße Tier erhaben vorneweg.
Die Welt ist von Wesen bewohnt
Ich erinnerte mich an die Geschichten, in denen indigene Menschen einem weißen Büffel Wunderkräfte und eine magische Symbolik zusprachen. Für mich war es vor allem eine Erinnerung an diese Möglichkeit des Wunderbaren. Solch ein Tier, dass so selten vorkommt, hier vor Augen zu haben. Irgendwie auch wie ein Ausdruck der wilden Lebendigkeit dieses Ortes, der mich zutiefst beseelte.
Diese Landschaft schien ihr Wesen nahezu ungehindert zu atmen. Und so begegneten wir auf unseren Streifzügen den Wesen so vieler Tiere, und auch den Wesen der Bäume in ihrer je eigenen erhabenen Gestalt. Es war eine Erinnerung daran, dass unsere Welt wesenhaft, wesentlich, von Wesen bewohnt ist. Und jedes Wesen, ob Mensch, Tier, Pflanze oder Landschaft, atmet seine eigene, einzigartige Anwesenheit.
Zugleich aber sind sie alle, so verschieden sie sein mögen, Teil des größeren Zusammenhangs des Lebendigen. Als Wesen schwingen wir alle zwischen Einzigartigkeit und Einheit.
Wenn ich anderen Wesen so begegne, dann ist es keine Begegnung von außen, aus der Trennung, sondern von innen, aus dem tiefen Verwandtsein. Es eröffnet sich ein innerer Raum, in dem die Welt mich anrührt, anspricht, eine ungeahnte Fülle von Beziehungen lebt, sich ein Gewebe bildet, in dem ich zutiefst eingewoben bin.
Wie können wir zum Lebendigen beitragen?
Es ist ein großes Glück, so in den großen Kreis der Lebewesen zurückzukehren. Diese Beziehungen mit anderem erfüllt unser Leben mit Freude, mit vibrierender Kraft, auch mit Verantwortung und Sinnhaftigkeit.
Wie kann ich sein, was kann ich tun, damit die lebendige Welt weiter erblühen, sich entfalten kann? Wie kann ich dafür Sorge tragen, dass Lebewesen nicht geschadet wird, dass sie leben können, so, wie es ihrem Wesen entspricht.
Den indigenen Völkern der Lakota gilt ein weißes Bisonkalb als die Verkörperung der mythischen Figur einer weißen Büffelfrau, die dem Volk ihre heiligen Riten lehrte. Wenn ein weißes Büffelkalb geboren wird, deutet es die Rückkehr oder die Bekräftigung dieser verbindenden Riten an.
Die weiße Hirschkuh, der wir begegneten, hat vielleicht nicht diese mythische Strahlkraft. Aber für mich war sie doch ein Hinweis auf die Wesenswürde alles Lebendigen. Die Begegnung mit dem Tier ist wie ein Ruf, sich darauf zu besinnen.
Mike Kauschke ist Autor, Übersetzer, Dialogbegleiter und Redaktionsleiter des Magazins evolve. Autor des Buches „Auf der Suche nach der verlorenen Welt – Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens“. www.mike-kauschke.de