Philosophische Kolumne
Sobald die Lichterketten leuchten, es in den Innenstädten überall nach Glühwein und Schmalzkuchen riecht, und die Menschen mit dicken Schals und Mützen von Kaufhaus zu Kaufhaus rennen, steht eine Qualität ganz oben auf der Agenda, die interessanterweise zu anderen Zeiten des Jahres weniger Beachtung bekommt: die Besinnlichkeit.
Ob es der Gegensatz zur weihnachtlichen Konsumhektik ist oder der zarte Versuch, hinter ebendieser Hektik etwas zu erspähen, was die weihnachtlichen Rituale und Zeremonien einmal ausgemacht haben könnte, ist schwer zu sagen. Also was genau ist das eigentlich, was wir uns da von der funkelnden Vorweihnachtszeit erhoffen? Ruhe und Frieden, ein bisschen Zugang zu den wirklich wichtigen Dingen im Leben, oder was genau soll sie ausmachen, diese Besinnlichkeit?
Die Ambivalenz in solch oft diffusen Sehnsüchten ist offensichtlich, wenn man bei der Weihnachtsfeier der zweiten Klassen in der Aula sein eigenes Wort nicht mehr versteht, sich schreiend um feierliche „Besinnlichkeit“ bemüht, und gleichzeitig die lieben Kleinen davon abzuhalten versucht, die selbstgebackenen Kekse als Wurfgeschosse zu benutzen. Warum ist das denn bloß so schwer, sich hier jetzt verdammt noch mal auf all das zu besinnen, was doch so wichtig ist? Harmonie, Ruhe, Friede – Freude, Eierkuchen?
Aber ist es das, was entsteht, wenn wir wirklich mal zur Besinnung kommen? Wird dann alles plötzlich schrecklich friedlich und wunderbar? Wohl kaum. Bedeutet die Fähigkeit, sich auf etwas zu besinnen, nicht vielmehr, dass wir uns trotz Zuckerguß und guter Gaben auf etwas „besinnen“, was manchmal gar nicht so einfach und harmonisch daherkommt? Wie besinnen wir uns angesichts all der Schwierigkeiten in der politischen, gesellschaftlichen und oft auch ganz persönlichen Welt auf die wirklichen Fragen?
Martin Heidegger hat Ende der 30er Jahre einige Gedanken zur „Besinnung“ verfasst, die angesichts der Zeit und seiner eigenen Rolle darin selbstverständlich mit Vorsicht zu lesen sind – sein eindringlicher Aufruf aber ist dennoch bis heute gültig: nicht allein zu fragen, was wir tun, sondern wie wir denken sollen.
Dabei bezieht sich Heidegger auf ein Verständnis von „Besinnung“, die der Philosoph Wilhelm Dilthey in seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ Ende des 19. Jahrhunderts als Wesensmerkmal philosophischen Denkens hervorhob. Die Philosophie selbst sei eine Form der Besonnenheit, die das menschliche Tun zum Bewusstsein erhebe, so Dilthey.
Durch sie erst werde „die Selbstbestimmung in Form des begrifflichen Denkens“ möglich. Das Denken als ein Ort, an den wir uns zurückziehen können, um ein wenig geistige Freiheit zurückzuerobern, gerade wenn es um uns stürmt und brüllt: Ein Weg zur begrifflichen Selbstbestimmung.
Hm, diese Form der geistigen Selbstbetrachtung scheint so gar nicht so recht zu Grundschulweihnachtsfeiern und Glühweintralala zu passen und doch müssen sich beide Facetten vorweihnachtlicher Möglichkeiten nicht zwingend im Wege stehen – man sollte sie nur nicht miteinander verwechseln. Vielleicht besinnen wir uns gerade mitten im täglichen Trubel auf das, was wir da gerade tun, wenn wir unsere To-Do-Listen abarbeiten und Tante Lotti die lange Bahnfahrt in den Norden zum Fest auszureden versuchen.
Gleichzeitig erinnern wir uns beständig daran, die Gründe für unser Tun nicht aus dem Blick zu verlieren:„Selbstbestimmung in Form des begrifflichen Denkens“ – was auch immer dabei herauskommt, es ist zunächst einmal nichts als eine Methode, die uns helfen kann, Klarheit zu schaffen und sich zu fragen, ob ich da wo ich bin, auch das denke und tue, was ich möchte.
Es geht also darum, sich auf das zu besinnen, was eigentlich da ist, ob gut oder auch nicht, manchmal versteckt, verhängt, verborgen hinter dem täglichen Trubel und den glitzernden Fassaden, manchmal aber auch gerade mitten im Trubel selbst.
Also, versuchen wir vielleicht weniger auf Teufel komm raus Ruhe und weihnachtliche Harmonie herzustellen, sondern machen uns bei aller Besinnlichkeit auf die Suche nach dem, was wir von all dem weihnachtlichen Zauber wollen. In uns, unseren Gedanken, Urteilen und Vorurteilen, dem was uns wichtig ist und was vielleicht auch nicht.
Daraus könnte eine ganz neue weihnachtliche Besinnlichkeit werden – eine, die uns ganz allein gehört, und die nicht wieder aufhören muss, nur weil die Lichterketten ausgeschaltet, die Buden wieder abgebaut und die Tannenbäume an den Straßenrand gestellt werden.
Ina Schmidt, 16. Dezember 2016