Philosophische Kolumne: Über Sinn und Unsinn einer gängigen Praxis der Sprachkritik
Morgenprogramm im WDR-5 am 13.1.25, derweil ich in der Küche wusele. In Wiederholungschleifen höre ich: Gleich ist es wieder so weit. Das Unwort des Jahres wird ‚gekürt‘. Mit Spannung erwarte ich die Entscheidung der Jury. Was wird es sein, nachdem ‚Remigration‘, ‚Klimaterroristen‘, ‚Pushback‘ und ‚Rückführungspatenschaften‘ in den vergangenen Jahren das Rennen machten?
Wenig später kommt das Ergebnis: Das Unwort des Jahres 2025 ist der Begriff ‚biodeutsch‘. Sofort überfluten mich unzählige Gedanken. Obwohl das Wort aus diversen Gründen heftige Widerstände in mir wachruft, obwohl ich es eigentlich gar nicht wirklich verstehe, verstehe ich es offenbar doch, denn ich frage mich umgehend, ob ich selbst wohl als ‚biodeutsch‘ gelten würde.
Aus einer Familie stammend, die seit mehreren Generationen im Dreiländereck angesiedelt ist, erscheint mir dies eher unwahrscheinlich. Ich habe da mal was von geflüchteten Hugenotten munkeln hören und anscheinend ist mein eher seltener Geburtsname gegenwärtig primär in den USA zu finden.
All dies sind für mich nicht mehr als nebulöse Gerüchte, von Wissen kann keine Rede sein, habe nie Ahnenforschung betrieben. Doch seltsam ist, dass ich überhaupt darüber nachdenke. Denn im Grunde genommen erscheint es mir vollständig widersinnig, die Zugehörigkeit zu einer Staatsgemeinschaft auf biologische Tatsachen zurückführen zu wollen, wie der Begriff es suggeriert.
Wie sollte sich Deutschsein biologisch niederschlagen? In einem untrüglichen Körpermerkmal, einem Gen womöglich? Oder durch die Zufuhr landestypischer Ernährung? Bio-Ernährung vielleicht? – Ja, ja, ich weiß, so ist es natürlich nicht gemeint. Es geht darum, dass jemand in Deutschland geboren ist, Eltern und Großeltern möglichst auch.
Doch trifft genau das nur auf sehr wenige zu. Irgendein Familienmitglied immigrierte bei den meisten von uns vor Jahrzehnten aus wirtschaftlichen Gründen hierher, irgendjemand flüchtete in den Kriegswirren der Vergangenheit aus östlichen Regionen. Nun gebe ich auf, denn über Biodeutschsein und das großdeutsche Reich möchte ich lieber nicht sinnieren.
Fraglos ist ‚biodeutsch‘ ein Wortungetüm, das nichts Gutes im Schilde führt. Es verdient sein Stigma also ohne jeden Zweifel. Und doch erlebe ich mich in Fragen der Wortschatzkontrolle als höchst zerrissen.
Für ‚Un‘wörter im engeren Sinne habe ich eine große Passion, außer vielleicht für das ‚Un‘wort ‚Unwort‘ selbst. Ich liebe die mit der Vorsilbe ‚un‘ oft einhergehende Verlebendigung des ‚Unaussprechlichen‘, die darin liegende Negation des Bemessbaren und Definitiven, die Anspielungen auf das ‚unendliche‘, ‚ungeheure‘ Ausmaß von Raum und Zeit — unbegreiflich, unüberschaubar —, auf das ‚Unwiederbringliche‘ seltener Eindrücke, wenn etwa die Morgensonne ihre goldene Schärpe über vereiste Wiesen wirft, während die Welt sich kurz darauf ‚unumkehrbar‘ eintrübt. Worte wie ‚unaufhörlich‘, ‚ungestüm‘, ‚unausweichlich‘, ‚unwillkürlich‘ oder ‚unverhofft‘ umreißen den Widerfahrnischarakter unserer Existenz, lassen die Macht des Geheimnisses anklingen, die Möglichkeiten des Verschwindens, das verborgene Innere aller Leidenschaften. ‚Un’wörtern eignet eine besondere Magie, daran zweifle ich nicht. Wie aber steht es um die ‚Unworte‘?
1979 beklagte Hans Magnus Enzensberger die erschreckende Vermehrung der „Heger, Warner und Walter“ – allesamt „Leibwächter“ der deutschen Sprache seit „Opa Dudens Zeiten“. Was die „Apostel des guten, wahren und richtigen Deutsch sich schon alles geleistet haben“, lässt auf „Dünkel, Verbohrtheit und Besserwisserei schließen.“ Ist das gegenwärtig auch der Fall?
Nun ja, ohne allen Zweifel setzen die Debatten um das Unwort des Jahres einen gänzlich anderen fortschrittlichen Akzent der Sprachkritik. Während Enzensberger gegen die „hageren Schulmeister-Ellbogen“ arthritischer Herren polemisierte — Oberlehrer, die sich am „Rocksaum der Sprache“ zu schaffen machen, die gegen Verwahrlosung durch Amerikanismen wettern und die Stummelsätze einer alternativen Szene brandmarken —, geht es nun um Verstöße gegen Menschenrechte und Demokratie, die sich in gesellschaftlich akzeptierten Redewendungen niederschlagen.
So liegt der Jury aus Bildungsexperten Journalisten und Kulturschaffenden nicht daran, „das obszöne Gequassel der Fußballer, Schüler, Knastbrüder, Börsianer, Soldaten, Zuhälter, Flippies, Penner und Huren“ durch Vorschriften zu reglementieren. Die Suche nach dem Unwort des Jahres hat längst einen linken Touch. Seit 1991 nimmt man begriffliche Neuprägungen unter die Lupe, die euphemistisch oder despektierlich Gerechtigkeitsmaßstäbe verletzen und die Würde des Menschen unterminieren.
Von ‚ausländerfrei‘ (1991) bis ‚Remigration‘ (2023) spannt sich hier ein Bogen, der trotz einiger Abstecher in die Sozial- und Klimapolitik (krisenbedingt auch in das Banken- und Gesundheitswesen) beharrlich um die Frage der Migration kreist. Mit dem traurigen Nebenbefund, dass der Begriff ‚Remigration‘ erst neulich nachhaltige Fixierung im Parteiprogramm der AFD gefunden hat. Zwischen der ‚Anti-Abschiebe-Industrie‘ im Jahr 2018 und dem ‚Pushback‘ von 2021 liegen die ‚Rückführungspatenschaften‘ (2020), die sich den obersten Listenplatz mit der ‚Corona-Diktatur‘ zu teilen hatten.
Die Liste der ‚Unworte‘ seit 1991 stimmt folglich wenig hoffnungsvoll im Blick auf ein Vorankommen der Menschheit. Durchforstet man sie, ergründet man die Anspielungen, Bedeutungsfelder und subtilen Beiklänge genauer, so werden höchst traurige Grundmotive der Feindseligkeit und Entsolidarisierung vernehmbar — gefühllose Zynismen und Tonalitäten einer hemmungslosen Entmenschlichung bestimmter Gruppierungen.
Kann man aus dieser Form der Sprachkritik lernen? Das ist nicht immer einfach, will mir scheinen. Noch relativ leicht mag es gelingen, wenn etwa ein Wort angeprangert wird, das eine verächtliche Fehlbeurteilung anderer vornimmt, wie z.B. der Begriff ‚Gutmensch‘ (2015), oder wenn man auf inadäquate Pauschalisierungen durch ein Etikett wie ‚Lügenpresse‘ (2014) verweist.
Doch oft ist sehr viel mehr erforderlich. Hört man Zuschreibungen wie ‚Gotteskrieger‘ (2001) oder ‚Tätervolk‘ (2003), stößt man auf Begriffe wie ‚Herdprämie‘ (2007), ‚Humankapital‘ (2004) und ‚Entlassungsproduktivität‘ (2005), so wird man kaum ohne ein gründliches Nachdenken auskommen können, das umsichtiges Gespür und vor allem einiges an historischem Wissen verlangt.
Die alljährliche Verkündung eines solchen Unwortes ist demnach alles andere als ‚peanuts‘ (1994). Es reicht bei weitem nicht aus, das zu ächtende Wort durch alle Medienkanäle zu jagen. Erforderlich ist vielmehr ein spezifisches Engagement seriöser Bildungsinstanzen, die – es lässt sich kaum anders als ironisch sagen — unablässig von einem ‚sozialverträglichen Frühableben‘ (1998) bedroht sind.