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Biografiearbeit: Die eigene Lebensgeschichte aufarbeiten

Chris Spiegl/ Unsplash
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Interview mit der Historikerin Karin Orth

Im biografischen Schreiben befassen sich Menschen mit ihrer Lebensgeschichte: Woher komme ich? Wer bin ich? Wo geht es hin? Historikerin Prof. Karin Orth leitet in Kursen selbst dazu an. Im Interview erklärt sie, warum es heilsam ist, sich schreibend tieferen Fragen des eigenen Daseins zu nähern.

 

Das Gespräch führte Kirsten Baumbusch

Frage: Sie haben mit Überlebenden von Konzentrationslagern gesprochen, mit Kriegskindern über ihre Familiengeschichte und deren Auswirkung aufs eigene Leben nachgedacht und zu sexueller Gewalt in der katholischen Kirche gearbeitet. Woher rührt dieses Interesse für Lebensgeschichte?

Karin Orth: Hintergrund ist sicher mein Hauptberuf als Historikerin. Mich hat das Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen immer sehr bewegt. Schon bei der Arbeit mit den Überlebenden des Konzentrationslagers hatten wir Supervision bei einer Psychoanalytikerin, die sich für die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die nachfolgenden Generationen interessierte.

Das hat mir eine ganz andere Dimension eröffnet. Ich fand das so faszinierend, dass für mich klar war: Ich möchte gerne eine Ausbildung in diesem Bereich machen und darin arbeiten. Das habe ich dann zunächst ehrenamtlich, dann auch professionell getan und erlebe das als befruchtend bis heute.

Warum kann es eine gute Idee sein, sich mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen?

Orth: Weil das existentielle Fragen des Lebens berührt: Woher komme ich? Wo stehe ich? Und wohin soll das Ganze gehen? Ich finde es wichtig, das ganze Leben in den Blick zu nehmen. In der heutigen Gesellschaft finden so viele Umbrüche, Krisen und Neubeginne statt, dass manchmal nur die Arbeit mit der eigenen Lebensgeschichte zeigt: Es gibt einen durchgängigen Strang.

Biografiearbeit ist eine wunderbare Möglichkeit, wesentlich zu werden. Auch das, was vor der eigenen Geburt geschah, die Familiengeschichte, hat einen großen Einfluss auf unser Leben, ob wir das wollen oder nicht.

Und was für einen Zugang gibt es, wenn ich mich dem schreibend nähere?

Orth: Meine Erfahrung in den Schreibgruppen ist, dass viele Menschen zunächst einmal sagen, sie könnten nicht schreiben. Doch dann entwickeln sie große Freude dabei, das, was sie bewegt, schwarz auf weiß niederzulegen. Wenn es Form angenommen hat, formt dies wiederum das Denken darüber.

Die biografischen Schreibgruppen sind so organisiert, dass sehr kurze Texte, zwei Seiten maximal, zu einem großen Thema entstehen. Das Schreiben bedeutet, auf den Punkt bringen, sich in Distanz zu dem setzen, was da auf dem Papier steht.

Biografiearbeit bringt oft mehr Akzeptanz des eigenen Lebens.

Welche Anlässe gibt es denn?

Foto: privat

Orth: Das biografische Schreiben hat immer etwas mit Veränderung zu tun, manchmal von außen angestoßen, manchmal von innen. Menschen verspüren den Wunsch, innezuhalten und sich zu fragen „Wer bin ich eigentlich?“.

Ich persönlich denke aber, die Wirksamkeit kann nur dann einsetzen, wenn die Person schon in einem Veränderungsprozess begriffen ist. Dann hilft es enorm, wenn es einen Raum gibt, der die Reflektion ermöglicht.

Was kann ich gewinnen dadurch?

Orth: Ein größeres Verständnis von sich selbst. Das muss nicht immer positiv sein, manchmal wird man mit Abgründen konfrontiert. Aber es gelingt auf alle Fälle, sich besser kennenzulernen. Viele gelangen zu einer größeren Akzeptanz des eigenen Lebens. Und bei älteren Menschen kann auch ein Vermächtnis entstehen für Andere oder Nachgeborene.

Was ist das Besondere an der Biografiearbeit in Gruppen nach der Methode von James E. Birren, nach der Sie arbeiten?

Orth: Man trifft sich einmal pro Woche über mehrere Wochen. Der in der Woche erarbeitete Text, der nach Leitfragen zu einem bestimmten biografischen Thema geschrieben wurde, wird den anderen Teilnehmenden laut vorgelesen. Damit wird der Inhalt mitgeteilt, es entstehen Berührungspunkte.

Das gemeinsame Erlebnis, sich der eigenen Lebensgeschichte zu stellen, verbindet sehr stark. Um dies zu ermöglichen, ist es wichtig, dass die Gruppe angeleitet wird. Es gilt, den Raum zu schaffen, Vertrauen aufzubauen, klare Regeln zu setzen. Birren selbst war einer der Begründer der amerikanischen Gerontologie; er wollte vor allem Menschen in fortgeschrittenem Alter helfen, mit ihrer Lebensgeschichte klar zu kommen.

Auf was muss ich mich gefasst machen?

Orth: In jedem Leben gibt es Dinge, die belastend waren. Wo und wann das der Fall war, ist meist ziemlich unklar. Es kann beispielsweise sein, dass die äußeren Kriegsereignisse viel weniger belastend waren als der prügelnde Vater oder die kranke Mutter. Das gilt es zur Kenntnis zu nehmen, ohne gleich den Impuls zu verspüren, etwas tun zu müssen. Manchmal geht es einfach darum, das erzählen zu können.

Man freut sich über die Fülle des Lebens.

Das Belastende kann ja wahrscheinlich bei jedem Thema und an jedem Punkt hochkommen, oder?

Orth: Ja, so ist das Leben! Wir neigen in unserer Gesellschaft dazu, bestimmte Dinge zu delegieren. Was Menschen im Leben passiert, ist etwas zutiefst Menschliches. Da hilft es oft schon zuzuhören und mitzutragen statt gleich zu sagen: „Geh‘ in Therapie“.

Mir ist es wichtig, dass die Teilnehmenden das Gefühl haben, dass sie in der Gruppe Dinge ansprechen können und nicht gleich mit dem Begriff „Trauma“ hantiert wird. Sehr oft wird in diesen Gruppen aber auch über Schönes berichtet und über Witziges gelacht. Man freut sich gemeinsam über die Fülle des Lebens.

Geht Biografiearbeit nur rückwärtsgerichtet oder auch nach vorne?

Orth: Da sind wir wieder bei den existentiellen Fragen des Anfangs, zu denen natürlich auch die „Wo geht es hin?“ gehört. In schwierigen Situationen kann man die eigene Biografie auch gut befragen: Gab es das schon mal? Wie bin ich rausgekommen? Welche Ressourcen gab bzw. gibt es? Meistens wird von der Gegenwart und einem konkreten Anliegen ausgegangen und dann wird der Blick zunächst zurück und dann in die Zukunft gerichtet.

Gibt es konkrete Tipps?

Orth: Wichtig ist, es geht beim biografischen Schreiben nicht um kreatives Schreiben, auch wenn die entstandenen Texte unglaublich kreativ sind. Die Teilnehmenden müssen zu jedem Gruppentreffen ihren zu Hause geschriebenen Text dabeihaben. Wie und wann der entsteht, ist nebensächlich.

Es geht nicht um das Schreiben an sich, sondern um die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Und da ist es egal, ob mit der Hand geschrieben oder einer Tastatur. Jeder Mensch findet seinen eigenen Ausdruck, darum geht es.

Karin Orth, geboren 1963 in Frankfurt am Main, ist außerplanmäßig Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg, ausgebildet als Coach und Beraterin sowie in „Guided Autobiography Instructor/Birren Center for Guided Autobiography and Life Review“, University of Southern California. Zudem hat sie Lehraufträge für Coaching und Biografiearbeit an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und an der Akademie für wissenschaftliche Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

Website Karin Orth

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