Die politische Autobiografie des Dalai Lama
Der Einmarsch chinesischer Truppen in Tibet 1950 traf die Tibeter unvorbereitet, der Dalai Lama war erst 15 Jahre alt. In diesem Buch erzählt er seine politische Geschichte und wie er 70 Jahre versuchte, sich mit Dialogbereitschaft gegen die Unterdrückung zu wehren. Ein Plädoyer für Demokratie, Gewaltlosigkeit und ein politisches Engagement, das von Mitgefühl und nicht von Hass getragen ist.
Text: Birgit Stratmann
„Kein totalitäres Regime kann für immer bestehen“, schreibt der Dalai Lama. Denn das Streben des Menschen nach Freiheit würde niemals aufhören. In der kurz vor seinem 90. Geburtstag erschienenen politischen Autobiografie lernt man den politischen Dalai Lama kennen:
wie er den Einmarsch der chinesischen Truppen in Tibet erlebte, als junger Mann politische Verantwortung übernehmen und mit Mao Tsetung verhandeln musste, ins Exil floh, die Demokratie schätzen lernte und mit seinem Bemühen um einen Dialog für Tibet außer Sympathiebekundungen aus dem Westen nichts erreichen konnte.
1950, als der Dalai Lama 15 Jahre alt ist, marschieren chinesische Truppen in den Osten Tibets ein. Mit 16 Jahren soll der junge Mönch die politische Führung seines Landes übernehmen – er steckt mitten in der akademisch-religiösen Ausbildung.
In den Folgejahren rücken chinesische Truppen immer weiter nach Tibet vor. Der politisch unerfahrene junge Mann muss sich 1954 mehrmals mit dem 60-Jährigen Mao Tsetung in Peking treffen, um das Schlimmste abzuwenden – ohne Erfolg. Er beschreibt diese Zeit als „größte Herausforderung“ seines Lebens.
Als sich die Lage 1959, vor allem auch im militärisch besetzten Lhasa dramatisch zuspitzt, flieht der Dalai Lama. Eine gefährliche und beschwerliche Reise nach Indien endet damit, dass er Tibet zu einem unabhängigen Staat erklärt, dessen Regierung jetzt im Exil angesiedelt sei.
Jede Illusion, man könne mit Mao Tsetung etwas Positives für die Tibeter aushandeln, gibt er auf – als hätte er schon geahnt, mit welcher Gewalt die chinesischen Machthaber im Zuge der Kulturrevolution das Land überziehen werden.
Leben und Wirken als Flüchtling
Die indische Regierung nimmt den Dalai Lama und rund 80.000 tibetische Flüchlinge auf; Dharamsala wird später Sitz des geistigen und politischen Oberhaupts. In mehreren Kapiteln berichtet der Autor über die unzähligen Aufgaben, die er bewältigen muss.
Zunächst knüpft er Kontakte zu anderen Staaten, die das Thema Tibet auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen bringen, und wirbt für die Unterstützung seines gewaltlosen Kampfes für die Unabhängigkeit. Zu keinem Zeitpunkt befürwortet oder duldet er Gewalt.
Parallel dazu will er die tibetische Gesellschaft im Exil demokratisieren. So wird eine neue Verfassung entworfen, die die grundlegenden Menschen- und Freiheitsrechte garantiert.
Erst mit Deng Xiaoping in den 1980er Jahren entspannt sich die Lage in seiner Heimat ein wenig. Es gibt Sondierungen zwischen Abgesandten des Dalai Lama und der chinesischen Regierung, die behauptet, „alles außer Unabhängigkeit“ könne besprochen werden.
Als Antwort rückt der Dalai Lama von der Forderung, die Unabhängigkeit Tibets wiederherzustellen, ab und fordert nur noch „Autonomie“ im chinesischen Staatsverband – ein schmerzhafter Kompromiss, den er “Mittleren Weg” nennt. Für sein friedliches Engagement erhält er 1989 den Friedensnobelpreis.
Trotz der großen Zugeständnisse gibt es keine Einigung mit den Machthabern. Der Dalai Lama ist frustriert: „Ich habe oft beklagt, dass sie einen Mund zum Sprechen haben, aber kein Ohr zum Zuhören“.
Für den Marxismus hegt er Sympathie, kommt jedoch zu dem Schluss, dass ihm „das Mitgefühl fehlt“. „Seine größte Schwachstelle ist die totale Missachtung grundlegender menschlicher Werte und die bewusste Propagierung von Hass im Klassenkampf.“
Der Dalai Lama überträgt die politische Verantwortung
In den Nullerjahren ergibt sich die dritte Phase der Gespräche zwischen Abgesandten beider Länder; auch hier kann nichts erreicht werden. Stattdessen verschärft sich die Lage in Tibet weiter, die tibetische Kultur wird an den Rand gedrängt.
2011 geht der Dalai Lama „in den Ruhestand“, wie er es bezeichnet, und gibt seine politische Macht an die tibetische Regierung im Exil ab. Damit will er auch den Kampf der Tibeter unabhängig von seiner eigenen Person machen.
Unmissverständlich äußert sich der fast 90-Jährige auch über seine Nachfolge. Die chinesische Regierung hat schon vor Jahren erklärt, sie als politische Instanz habe darüber zu entscheiden, den nächsten Dalai Lama zu ernennen. Doch in dem Buch weist er dieses Ansinnen zurück und betont, „der neue Dalai Lama wird in der freien Welt geboren werden“.
„Die Zeit des Totalitarismus ist abgelaufen.“
Das Buch ist hochaktuell. Immer wieder streut der Dalai Lama seine Gedanken zu allgemeinen politischen Themen ein: was für ihn ein echter politischer Dialog bedeutet und warum auch schmerzhafte Kompromisse dazu gehören.
Er erklärt auch, warum ein Dialog nicht möglich ist, wenn die andere Seite gnadenlose Machtpolitik betreibt. Er hält den Totalitarismus für „ein von Grund auf instabiles System. Seine Zeit ist definitiv abgelaufen. Die Zeichen der Zeit stehen auf der Seite der Menschen, die sich nach Freiheit sehnen“, so der Friedensnobelpreisträger.
Der Dalai Lama appelliert an die Tibeter – genauso könnte es für andere unterdrückte Völker gelten –, den friedlichen Kampf trotz Niederlagen und Schmerzen fortzusetzen. Die Dinge würden sich langfristig ändern, das sei ein Naturgesetz, das auch chinesische Machthaber nicht außer Kraft setzen könnten.
Es ist erstaunlich, wie der Dalai Lama nach all dem Leid, das ihm und seinem Volk widerfahren ist, so positiv gestimmt sein kann. Hier zeigt sich dann doch, dass er ein tief religiöser Mensch ist, der in sehr großen Zeiträumen denkt und niemals die Vision für eine bessere Welt aufgibt.
Dalai Lama. Eine Stimme für die Entrechteten. Meine über sieben Jahrzehnte währende Auseinandersetzung mit China. HarperCollins 2025

Online Abend am 14. Mai – mit Christof Spitz zum 90. Geburtstag des Dalai Lama
Für mehr Mitgefühl! Ist der Dalai Lama weltfremd?