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Dankbarkeit – eine Frage des Weltbilds

CHAINFOTO24/ shutterstock.com
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Dankbarkeit gilt heute als ein Baustein von psychischer Gesundheit und Lebensglück. Die inzwischen weithin bekannten Langzeit-Studien der positiven Psychologie sprechen eine klare Sprache: Menschen, die ein hohes Maß an Dankbarkeit empfinden, sind insgesamt mit ihrem Leben zufriedener. Sie fühlen sich weniger gestresst und kommen mit Herausforderungen besser zurecht. Mehr Gelassenheit und höhere Resilienz – wollen wir das nicht alle?

Natürlich wollen wir das – angesichts von Breiten-Burnout und Empörungskultur. Zwar ist Empörung über schlechte Zustände oft gerechtfertigt, aber häufig betonen wir einzelne Aspekte so stark, dass wir das große Ganze aus dem Blick verlieren. Wenn wir uns dann in den Zustand der Empörung verbeißen, gehen wir die eigentlich nötigen Veränderungen oft gar nicht wirklich an. Hier kann Dankbarkeit den Blick weiten und Empathie fördern, die unser Handeln kritisch und ethisch zugleich macht. Doch aus philosophischer Sicht ist dadurch längst nicht alles gesagt.

Auffällig ist: Durch die Brille der positiven Psychologie betrachten wir Dankbarkeit fast ausschließlich im Hinblick auf unsere subjektive Lebensgestaltung. Der Einzelne kann durch Dankbarkeit seine Lebensqualität erhöhen. Konkrete Wege zur Verstärkung des subjektiven Gefühls der Dankbarkeit sind auch zur Hand, wie Meditation oder bestimmte Fragetechniken – und das ist auch gut so. Aber was ist mit der gemeinschaftlichen Rolle von Dankbarkeit?

Die große Bedeutung kleiner Gesten

Nehmen wir einmal eine sozialphilosophische Perspektive ein. Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Zunächst denken wir an die großen Institutionen – wie die Staatsorgane, Verbände und Vereine, Glaubensgemeinschaften und Gewerkschaften. Allerdings haben schon Gründerväter der Soziologie wie Georg Simmel Anfang des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der vielen kleinen zwischenmenschlichen Gesten betont. Simmel nannte sie „Mikro-Interaktionen“.

Dass unsere Gesellschaft nicht auseinander fällt, liegt demnach an den unzähligen Begebenheiten im Alltag, in denen wir aus einzelnen Momenten dauerhafte Beziehungen aufbauen. Dankbarkeit ist der Kitt der Gemeinschaft. Deshalb sollten wir beim Thema Dankbarkeit nicht nur an unser indiviuelles Wohlergehen denken, sondern an das gute Gedeihen der Gesellschaft als Ganzes.

Zunächst: Was ist Dankbarkeit überhaupt? Fachleute sind sich nicht einig, ob man sie am besten als Gefühl oder Zustand, als Haltung oder soziale Norm beschreibt. Die Frage, was Dankbarkeit “wirklich ist”, führt hier auch nicht weiter. Beschreiben wir stattdessen, wann wir finden, dass Dankbarkeit angemessen ist.

Diesen Weg haben bereits Denker der griechischen und römischen Antike genommen, wie Aristoteles, Seneca oder Cicero. Dankbarkeit sei enorm wichtig – aber es erfordere große Weisheit, der richtigen Person für die richtige Sache zur richtigen Zeit am richtigen Ort im richtigen Maße dankbar zu sein. Erforschen wir also den Impuls der Dankbarkeit genauer.

Wir würden sagen: Wenn jemand für eine ihm erwiesene Wohltat nicht dankbar ist, dann ist er undankbar – und “undankbar” ist ein moralisches Urteil. Umgekehrt ist es also moralisch gut, dankbar zu sein. Doch wann ist es angemessen, dankbar zu sein und wann nicht? Dazu möchte ich fünf Punkte anführen, gedacht als Anregungen zum Weiterdenken.

Fünf Schritte, das eigene Weltbild zu erweitern

1. Anerkennen, dass es überhaupt Gutes im eigenen Leben gibt. Wer sich dessen nicht bewusst ist, der sieht keinen Grund, dankbar zu sein. Wer eine insgesamt negative Weltsicht hat und z. B. unsere europäischen Privilegien, unsere Sicherheiten, unsere Möglichkeiten etc. einfach als selbstverständlich ansieht, dem wird dieses Gute unsichtbar. Ein erster Schritt zur Dankbarkeit besteht also in der Bewusstmachung, dass es Gutes in unserem Leben gibt – eine Besinnung auf die positive Seite unseres Weltbildes.

2. Sich bewusst machen, dass das Gute in unserem Leben nicht ausschließlich auf uns selbst zurückzuführen ist. Wir sind nicht die einzigen Schmiede unseres Glücks. Überlegen wir einmal, was an Gutem in unserem Leben jenseits unseres Einflusses liegt. Das Gute etwa, das wir unserer Familie verdanken. Oder schöne Naturerlebnisse, die uns dieser wunderbare Planet schenkt. Auch benutzen wir Straßen, die wir nicht gebaut haben, rufen in der Not die Polizei, die Feuerwehr oder den Rettungswagen. Und wir haben Zeit, uns mit Dingen ausführlich zu beschäftigen, weil wir uns um vieles andere nicht zu kümmern brauchen. Wer solche Zusammenhänge nicht sieht, dem fällt vielleicht kein Grund ein, dankbar zu sein.

3. Grenzen der Dankbarkeit I: Wohltaten, die wir erfahren, müssen freiwillig getan worden sein. Was, wenn die Handlung unter Zwang oder unabsichtlich geschah? Zum Beispiel, dass ein Kind uns etwas gibt, weil seine Eltern es wollten. Wer uns etwas gar nicht schenken wollte, aber dem sozialen Druck nachgibt, bei dem bedanken wir uns vielleicht höflich. Aber tiefe Dankbarkeit steigt ihm gegenüber nicht in uns auf.

Oder nehmen wir einen noch extremeren Fall: Jemand wollte uns eigentlich schaden, doch durch eine unvorhergesehene Verkettung von Ursachen geschah etwas für uns Gutes. Wir sind vielleicht erleichtert, vielleicht auch etwas hämisch über den misslungenen Versuch, uns zu schaden. Wir freuen uns über das Ergebnis – aber gebührt dem versuchten Übeltäter unser Dank? Mir schiene das absurd.

4. Grenzen der Dankbarkeit II: Nur absichtlichen Wohltaten gebührt Dank. Dankbarkeit setzt voraus, dass wir eine Wohltat erfahren haben oder, wie Kant es formuliert, ein “Verdienst”. Machen wir die Probe: Was ist mit absichtlichen Schäden, aus denen etwas Gutes erwächst?

Beispiel: Jemand beleidigt mich jeden Tag. Da ich ein reflektierter, entwicklungsfähiger Mensch bin, wachse ich allmählich darüber hinaus. Schließlich stehe ich, wie man sagt, „darüber“. Vielleicht habe ich sogar Empathie für denjenigen, der das Beleidigen nötig hat oder sich nicht anders äußern kann. Nun die Frage: Da seine Beleidigungen der Anlass für mich waren, mich zu einem reiferen Menschen zu entwickeln – sollte ich ihm dafür dankbar sein?

Ich würde hier vorschlagen, dass wir für die Möglichkeit dankbar sein können, aber der Person hier kein Dank gebührt. Dass wir in der Lage waren, den Schaden in Nutzen zu verwandeln, spricht für uns – nicht für den Übeltäter. Sonst wären am Ende intendierter Nutzen und intendierter Schaden gleichermaßen dankeswürdig und die Verantwortung für die Auswirkungen lägen beim Empfänger bzw. Opfer der Tat. Also: Absichtlichen Wohltaten gebührt unser Dank, nicht aber absichtlichen Missetaten.

5. Grenzen der Dankbarkeit III: Der Wohltäter darf nicht auf Gegenleistung kalkulieren. Um der Person dankbar sein, muss die freiwillige Wohltat ohne die Erwartung einer Gegenleistung oder “Hoffnung”, wie Kant es nennt, ausgeführt werden. Wie kalkulierte Wohltätigkeit den Anspruch auf Dankbarkeit verwirkt, zeigt ein Beispiel: Ein Mafiaboss tut uns einen “Gefallen” in der Überzeugung, dass er bei Gelegenheit diese Dankesschuld abrufen und uns für seine Zwecke in Dienst nehmen kann.

Der moralische Impuls der Dankbarkeit ergibt sich daraus nicht. Seine Frage, ob wir etwa undankbar sein wollen, könnten wir damit bantworten (falls wir uns trauen), dass die uns erwiesene “Wohltat” schon mit dem Gedanken der einzufordernden Gegenleistung daher kam. Deshalb gebührt ihm zumindest moralisch nicht unsere Dankbarkeit. (Die Wahrscheinlichkeit, dass das den Mafiaboss überzeugt, ist möglicherweise nicht sehr hoch.)

Aber unsere zwischenmenschlichen Interaktionen vollziehen wir selten mit Mafiabossen. Und dennoch verhalten sich manche Menschen so, als seien sie von Mafiabossen umgeben – und das aufgrund eines tiefsitzenden negativen Menschenbildes. Schon die Frage, ob jemand eine Gegenleistung erwartet, beruht ja auf unserer Zuschreibung – unserer Einschätzung seiner Absichten.

Natürlich handeln Menschen häufig aus Eigennutz. Doch mancher hegt die Auffassung, dass alle Menschen immer nur eigennützig handeln. Als seien wir alle ausschließlich daran interessiert, für unser eigenes Wohlergehen zu sorgen. Alle Menschen seien egoistisch, es gebe kein altruistisches Handeln und deshalb hätten wir keinen Grund zur Dankbarkeit. Ein schweres Missverständnis.

Allgemeiner Egoismus ist eine Unterstellung, die scheinbar nicht widerlegt werden kann. Auch angeblich “altruistisches Handeln”, so der Vorwurf, sei ja darauf aus, das eigene Gewissen zu befriedigen – also egoistisch. Doch dieses Universal-Argument ist tatsächlich der K.O. für die Egoismus-Theorie selbst. Wenn jedes Handeln egoistisch erklärt werden kann, dann kann die Theorie gar nicht überprüft werden (negative Befunde sind ja ausgeschlossen). Insofern ist ein Wahrheitsanspruch ausgeschlossen.

Dieses Missverständnis müssen wir loswerden, weil es Dankbarkeit in den vielen Episoden des Alltags verhindert – und damit unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächt.
Denken wir also die fünf Punkte weiter und schauen wir genau, an welchen Punkten wir zu arbeiten haben – individuell und als Gesellschaft. Stellen wir so gut wie möglich sicher, dass die Umstände und Handlungen, die es verdienen, auch unsere Dankbarkeit bekommen.

Nicolas Dierks

Auch interessant: Eine Meditation “Lebenselixier Dankbarkeit”

 

Foto: Marku Brügge

Dr. Nicolas Dierks ist Philosoph und Autor bei Rowohlt, u.a des SPIEGEL-Bestsellers „Was tue ich hier eigentlich?“ (2014) und „Luft nach oben“ (2017). Im März 2019 erscheint sein neues Buch „Mit Wittgenstein im Wartezimmer“. Er gibt an der Leuphana Universität Lüneburg Seminare in Wissenschaftstheorie, berät Unternehmen zum Thema Social Media und vermittelt Philosophie mit Leidenschaft und Humor. www.nicolas-dierks.de

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Ja Dankbarkeit ist im fließen von ihrer Art und ihrem Geist.
So sie gern nach oben reist, doch sie steht’s erst nach unten muss.
Sonst sie keine Kunde bringt vom tiefsten Herzen Grunde.
Und wer will schon gerne, der dann käme, den Verdruss.

Ich freue mich, dass mein Text zu solch schönen Zeilen inspirieren konnte – danke!

Lieber Herr Dr. Dierks, wie sehen Sie diesen Fall:
ich habe einmal an eine buddhistische Organisation, die zu einer Spendenaktion aufgerufen hatte, eine nicht ganz kleine Summe gespendet, weil ich das damit verbundene Projekt gerne unterstützen wollte.
Dann habe ich über 3 Monate nichts mehr von ihnen gehört. Als ich nachfragte, ob das Geld überhaupt angekommen ist, wurde ich gefragt, ob es mir um die Spendenbescheinigung geht. Ich habe das verneint und dann das Gespräch gesucht.
Meine Auffassung war, dass ein zeitnahes “Vielen Dank, die Spende ist angekommen” im Umgang mit Spendern ein professionelles, erwartbares Verhalten ist. Mir wurde dann gesagt, dass im Buddhismus nur selbstloses Geben zählt und ich von daher keinen Dank erwarten darf (was mir bekannt ist) – und dass, wenn ich wegen des Dankes gespendet hätte, das auch keine gute Spende wäre.
Ich war erstmal schachmatt, denn für mich und auch aus unserer Kultur heraus ist der zeitnahe Dank an so einer Stelle selbstverständlich. Ich würde ihn auch dann akzeptieren, wenn er erst einmal nur Ausdruck formaler Höflichkeitsregeln ist.
Eine Spende annehmen und monatelang nichts dazu zu sagen, kommt mir auch wenig “buddhistisch” vor, denn Dankbarkeit spielt in der buddhistischen Tradition eine wichtige Rolle. Ich habe aber in diesem Fall erlebt, dass ich in einer Zwickmühle war, denn ich habe nicht wegen des Dankes gespendet, die Wortlosigkeit auf der anderen Seite aber unangemessen fand.

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