Darf ich sagen, was mich stört?

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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage dazu auf, wie man reagiert, wenn andere etwas tun, das einen stört. Soll man in solchen Fällen Frustration oder Ärger ausdrücken oder seine Worte lieber zügeln und sich zurücknehmen?

Text: Jay Garfield

Frage: Ich habe manchmal Hemmungen zu sagen, wenn mich etwas stört, zum Beispiel, wenn auf der Arbeit etwas schlecht läuft oder wenn eine Freundin unpünktlich ist. Ich denke dann, ich sollte mich zurücknehmen und die Bedürfnisse der anderen wichtiger nehmen. Aber es fühlt sich nicht gut an, den Ärger herunterzuschlucken. Was wäre angemessen?

Jay Garfield: Wenn sich andere in unserer Umgebung schlecht verhalten, kann es gut für sie und für andere Mitglieder der Gemeinschaft sein, das Gespräch zu suchen.

Die Person, deren Verhalten problematisch ist, ist sich vielleicht nicht bewusst, welche Auswirkungen ihr Handeln auf andere hat; möglicherweise würde sie es sogar begrüßen, wenn sie eine Rückmeldung bekommt.

Die Gemeinschaft, ob beruflich oder privat, könnte von einem Gespräch über gemeinsame Werte einen Nutzen ziehen. Man muss jedoch vorsichtig vorgehen und sich über die eigenen Beweggründe und Ziele im Klaren sein.

Es nützt nichts, impulsiv, aus dem momentanen Frust heraus die Konfrontation zu suchen oder mit Feindseligkeit oder Missbilligung zu reagieren. Es ist nicht gut, Konflikte anzuheizen. Überlegen Sie genau: Was ist das Ziel der Intervention?

Wie kann ich es so gestalten, dass es für beide Seiten von Nutzen ist? Wie kann ich mich dieser Person auf eine Weise nähern, die nicht destruktiv, sondern unterstützend ist? Oft hilft es, solche Fragen in sich zu bewegen, bevor man auf die andere zugeht. Wichtig ist es, angemessen zu handeln, ein gutes Maß zu finden.

Die Ursachen erforschen

Wenn Sie das Gespräch mit Wut und Vorwürfen beginnen, müssen Sie damit rechnen, dass die Person mit Aggression und Abwehr reagiert. Das würde die Lage verschlechtern. Eine Strategie könnte auch sein, darüber nachzudenken, dass das Verhalten der anderen Person eine Vielzahl von Ursachen hat.

Nicht immer lassen sich diese Ursachen abstellen. Deshalb ist es besser, mit Fürsorge für sie zu reagieren, anstatt mit Wut. Wenn Sie mit einer Haltung der Fürsorge und Freundschaft an das Gespräch herangehen, ist es wahrscheinlicher, dass Sie auf offene Ohren stoßen und wirklich etwas erreichen.

Denken Sie auch daran, die Verantwortung für Ihre eigene Sichtweise zu übernehmen: Sagen Sie nicht: „Es stört alle, wenn….”, sondern sprechen für sich selbst, etwa: „Ich möchte mit dir über etwas sprechen, das mich beschäftigt.“ So klingt es nach einem Gespräch auf Augenhöhe und nicht wie ein Verhör.

Manchmal liegt die Ursache für Ärger bei uns selbst

Manchmal müssen wir allerdings einsehen, dass das, was uns beim anderen irritiert, eher Ausdruck unserer eigenen Gewohnheiten und Vorlieben ist. Fragen Sie sich, ob das der Fall sein könnte.

Ich hatte zum Beispiel einmal einen Kollegen, der immer lange E-Mails schickte – mit detaillierten Listen über alles, was wir seiner Meinung nach in der Abteilung zu tun hatten, über viele andere Kleinigkeiten.

Es machte mich wahnsinnig, diese langen E-Mails zu lesen, weil ich dachte, das ginge mich alles nichts an. Als wieder eine E-Mail kam, hatte ich den Impuls, die Person zu bitten, mich aus dem Verteiler zu nehmen.

Aber dann merkte ich, dass meine Verärgerung eigentlich mein eigenes Problem war; die Person wollte mir nur mit Informationen helfen. So verwandelte sich meine Wahrnehmung. Die wichtigsten Fragen, die wir uns stellen müssen, sind diese: Was ist hier das eigentliche Problem? Ist es das Verhalten oder meine/unsere Reaktionen darauf?

Wenn es meine Reaktion ist, wie kann ich sie ändern? Wenn es das Verhalten des anderen ist, was sind die Ursachen dafür? Wie können wir intervenieren, um diese Ursachen zu ändern? Wie kann ich der Person, deren Verhalten problematisch ist, ein Freund und nicht ein Gegner sein? Das sind natürlich keine Erfolgsrezepte, aber ich denke, dass dieser Weg helfen kann.

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Jay Garfield, Foto: Spitz
Jay Garfield, Foto: Spitz

Prof. Dr. Jay L. Garfield

ist Professor für Philosophie am Smith College, in Northhampten in den USA. Zudem ist er Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt Losing Ourselves: Learning to Live without a self (2022).

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