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Was wäre, wenn wir zweimal leben könnten?

Was wäre, gäbe es ein Leben 2.0? Lasst uns das doch einmal durchspielen! Unser Möglichkeitsdenken bis ans Äußerste führen! Und fragen: Wo sollte es stattfinden, an welchem Orte, zu welcher Zeit? Was würde man dann tun wollen, zu eigenem Glücke wie auch zum Wohlergehen der anderen?

Text: Peter Vollbrecht

Ein alter Hut, dieses Leben 2.0, geträumt als samsara, das Rad der Wiedergeburten im alten Indien oder bei den Orphikern und Pythagoräern im antiken Griechenland. Heute lässt sich darauf nichts mehr bauen, es sei denn ein Gedankenspiel, das ich gern mit anderen spiele.

Über Tisch am Abend etwa, auf philosophischen Reisen erspart man sich damit manche Fotostrecke, die stolze Großeltern von ihren Enkelkindern herumzeigen, allesamt kleine Einsteins und Madame Curies, sowieso. Doch bevor wir dazu steif applaudieren, imaginieren wir doch lieber die zweite Chance. Wie könnte sie aussehen? Spielen wir mit Möglichkeitsperspektiven, die nicht mehr zu toppen sind!

Also – wo? Um es gleich vorweg zu nehmen: Deutschland wird selten genannt. Das Leben 2.0 verbringen wir woanders. Man will etwas Neues wagen, so weltoffen sind wir geworden, ein gutes Zeichen, oder etwa nicht? Doch was sind die Sehnsuchtsländer? Sie verteilen sich auf den Süden und den Norden, der Osten kommt nicht zum Zug. Italien, Frankreich, mitunter Portugal, und ja, auch Brasilien wird genannt. Ganz vorne mit dabei die Schweiz, Norwegen, Neuseeland, Kanada. Die USA? Fehlanzeige!

Doch was sind die Kriterien? Das Wetter, gewiss, aber damit verbindet man eben auch dolce vita, den Corso und die lauen Abende. Wahrscheinlich spielen noch erotische Fantasien mit hinein in die Wahl, aufgehübscht mit alten Filmen von Visconti, Fellini, Truffaut und anderen cineastischen Legenden. Die Schweiz und Norwegen werben hingegen mit ihrem stählernen Reichtum – und bieten wie auch  Kanada und Neuseeland große Landschaften und leere Räume, in denen man die Zivilisationshader weit hinter sich lassen kann.

Soweit das erste Votum. Nicht überraschend eigentlich, wenn man die Träume auf Annehmlichkeiten und Zuträglichkeiten bettet. Das gute Leben als das sichere, das auskömmliche, das man ja auch schon im Hier-und-Jetzt, im Leben 1.0 wertschätzt. Dabei wollte man doch eigentlich Neues wagen! Also – es muss da doch noch andere Trümpfe für ein Leben 2.0 geben.

Sollte es nicht auch – herausfordernd sein? Könnte man nicht auch wachsen wollen und dabei Maß nehmen an etwas, das größer ist als man selbst? An der Sprache, der Kultur und ihren Künsten, der Geschichte selbst?

Deshalb nun ein zweiter Durchgang. Den ersten halten wir fest, keineswegs verwerfen wir ihn. Aber nun geht es um die geistige Welt, um den kulturellen Überschuss, den jede vitale Gesellschaft produziert, nun zählt die Welt der Bilder, der Gesänge, der großen Erzählungen, in denen sich das gesellschaftliche Leben artikuliert. Und wenn wir nun die Kandidatenliste des ersten Durchgangs noch einmal daraufhin prüfen, dann fallen einige Länder im Ranking zurück.

Frankreich und Italien rücken ganz an die Spitze, England macht mit seinem literarischen Potenzial viele Plätze gut, aber zugegebenermaßen sprechen jetzt zunehmend subjektive Präferenzen. Und überhaupt müsste man auch noch andere kulturelle Großmächte außerhalb Europas nennen, Indien oder China etwa, Zivilisationen mit starker Expressivität. Aber nun fehlt es der Einbildungskraft doch ein wenig an Expertise, und so setzen wir uns lieber dem Vorwurf des Eurozentrismus aus als dass wir interkulturell dilettieren.

Die Kriterien sind nun die großen kulturellen Gewichte: die italienische Renaissance, das französische Jahrhundert, das anglo-kontinentale Geistesleben der Künste und Wissenschaften. Die großen Kathedralen, die Konzerthäuser, die säkulare Malkunst, die Feier des Individuums im Roman, die Inszenierung von Liebe und Tod in der Oper, die kulturelle Grandezza in ihrer ganzen Weitläufigkeit. Die Sprache auch, ja, und die Geschichte der Neuzeit natürlich, die in Europa vor allem von Spanien, England und Frankreich geschrieben worden ist. Das alles berücksichtigt stelle ich Frankreich an die Spitze der europäischen Kulturgeschichte und wünsche mir, dort geboren zu werden. Im Leben 2.0 möchte ich ein Franzose werden.

Doch zu welcher Zeit? Hier votiert man, so meine Erfahrung, unisono für die Gegenwart. Die Gründe liegen auf der Hand und bestätigen eindrucksvoll – und entgegen manch‘ flachem Kulturpessimismus – den Fortschritt in Medizin und Gesundheit, Wissenschaft und freiheitlichem Leben. Welche Frau wollte zurück in das Korsett einer weiblichen Rolle, die das Patriarchat diktiert? Die Männer allerdings finden ein wunschfestes Leben auch in anderen historischen Zeiten, wenngleich dabei manch‘ windige Abenteuerlust über die Realitäten – kalte Häuser, Gaslaterne, Schmutz und Seuchen – hinwegsetzt.

Fast unbemerkt haben wir den dritten Akt unseres existenziellen Wunschkonzerts betreten. Wir beschauen das Panoptikum der Tätigkeiten, die vita activa 2.0. Noch einmal dasselbe? Manche heben die Hand. Ja, erfüllend sei es gewesen, nur eben zu kurz. Für mich persönlich – noch einmal Philosophie? Noch einmal Examen mit Taxifahrerperspektive? Selbst mit verbessertem intellektuellem Potenzial nicht. Nein danke. Eher ein Beruf mit Universalsprache, ausführbar in jedem Winkel der Erde, in Neuseeland wie in Afrika. Auch als Franzose möchte ich beruflich hochmobil sein in der Welt. Also Medizin, ja das macht großen humanitären Sinn, wenn man es gut anpackt, als Arzt für ›Médecins sans Frontières‹ etwa. Draußen sein, von Mensch zu Mensch handeln, ganz konkret und nicht mehr um – bestenfalls! – drei Ecken wie beim Philosophieren.

Doch die Liebe zum Geistesleben, die möchte mir erhalten bleiben auch in der staubigen Medizinstation in der Sahel-Zone. Ohne sich der Literatur, der Philosophie und den Künsten mit ganzer Seele hingeben zu können, ohne die Kreativität mancher Ausnahme-Menschen zu bestaunen, um an ihnen das menschliche Potenzial zu bewundern – welche Flughöhe hätte da das Leben? Und natürlich wäre darüber auch ins Gespräch zu kommen, damit es nicht stumm bliebe in mir, im intellektuellen Austausch mit meinen medizinischen Kollegen dort draußen im Outback oder mit meinen philosophierenden Freunden in Paris.

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Peter Vollbrecht

ist Lektor an der Universität of Delhi, Buchautor und Initiator von Verknüpfungen zwischen Philosophie und Leben. So gründete er 1997 das „Philosophische Forum Esslingen“ und leitet seit 2006 in Kooperation mit der Zeitung Die ZEIT philosophische ZEIT Reisen. Sein Roman „Ich bin allein wirklich. Die Philosophie und das launige Leben“ ist 2017 bei Klöpfer & Meyer erschienen. Sein philosophisches Programm zu finden auf www.philosophisches-forum.de

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