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Philosophische Kolumne

Als ich vielleicht 14 oder 15 Jahre alt war, begannen in meiner Schulklasse die ersten politischen Diskussionen mit den Lehrern. Ich erinnere mich noch genau, wie ich den einzelnen Argumenten folgte, die hin und her kreuzten.

Hatte die eine geredet, dachte ich: ›Ja, das ist richtig.‹ Kam dann der Gegeneinwand, sagte ich mir im Stillen: ›Ja, das überzeugt mich ebenfalls.‹ Und vor allem blendete mich das stolze Selbstverständnis der Lautstarken, eine ›eigene Meinung‹ zu haben. Und jetzt sehe ich sie wieder, unsere Klassenlautsprecherin, wie sie überheblich-spöttisch dem Gemeinschaftskundelehrer Paroli bietet.

Eine eigene Meinung, das machte stark, das klang nach Reife, nach Ankunft in der Welt der Erwachsenen, und eben diese eigene Meinung, die vermisste ich damals an mir. Ich war immer ein Spätentwickler, auch im argumentativen Standing in der Welt.

Eigentlich, wenn ich es recht bedenke, habe ich mich mein ganzes Leben lang schwer getan mit dem Urteilen. Nein, das ist höchstens zur Hälfte richtig, denn im alltäglichen Leben, da gab und gibt es über Gebühr davon. Man lausche einmal selbst hinein in den inneren Raum, dorthin, wo die Urteilskraft mahlt, wenn sie Personen einschätzt, bewertet, verortet.

Hallo!, da ist selten Stille bei mir. Zugegeben – und beschämt. Aber nach draußen gewendet, da sieht es ganz anders aus. Aktuelle geopolitische Konstellationen, soziale Fragen, Konzepte einer wohlgeordneten Gesellschaft – am ehesten gelingen mir da noch Positionierungen in abstrakter Distanz. Also fern ab vom eigentlichen Geschehen. Schärfen sich also die Urteile mit zunehmendem Abstand?

Mir keinesfalls, denn selbst dort, wo das Denken zuhause ist, in der Philosophie nämlich, habe ich kein festes Haus bezogen. Ich bin kein Aristoteliker, kein Platoniker, kein Kantianer und kein Hegelianer. Ich wohne nicht bei den Empiristen, nicht bei den Pragmatikern, auch nicht bei den Phänomenologen, den Idealisten, den Materialisten, den Was-auch-immer-Isten.

Ich glaube nicht an die Allmacht der Vernunft, und auch den Gefühlen gebe ich philosophisch keine große Laufweite. Ich fühle mich philosophisch obdachlos. Wenngleich – die Formulierung ist schlecht gewählt, denn sie insinuiert Verlust, Kälte und Schutzlosigkeit. Doch intellektuell vermisse ich nichts. Es ist ja eher lustvoll, durch das geistige Gelände zu streifen, hier eine Blume zu pflücken, dort zu gießen, Zelte auf- und abzubauen, nomadisch zu denken.

Alles ist schwankendes Gelände

Überhaupt scheint mir die Frage, ob eine Philosophie ›wahr‹ ist, deplatziert zu sein. – Wie bitte? Besteht eine Philosophie denn nicht aus Grundannahmen, Aussagen und Folgerungen, aus einem logisch stringenten Lauf der Argumente? Und sollte man das als Leserin, als Leser nicht auf Triftigkeit, ja sogar auf Wahrheit hin zu prüfen haben?

Ja, das sollte man tun, und wenn man das tut, sorgsam tut und nichts unverdaut lässt, genau in die Texte schaut, sich also um ein Verstehen bemüht, dann … ja mal ehrlich: wird man dessen gewahr, dass jeder Gedanke und jedes gedankliche System doch eigentlich in der Luft schwebt. Kühn aufgehängt an Fäden, die aus dem Nicht-mehr-Gesicherten kommen, aus Hoffnungen, aus religiösen Überzeugungen, aus mythischen Narrativen, aus weltanschaulichen Kreditlinien, die scheinbar kein Verfallsdatum kennen. Nirgends aber ist der Grund wirklich solide, alles ist schwankendes Gelände, die Philosophien treiben wurzellos wie Seetang auf den Wassern der Ozeane.

Das nomadische Denken treibt eine Ahnung davon an, und so lässt es sich nur zu kurzzeitigem Besuch in einem der philosophischen Häuser nieder. Schnell wird es ihm dort zu eng. Oder die Zimmer sind ihm zu schlecht belüftet. Oder die Urteilswut der Bewohner schrillt zu laut. Und irgendwann drängt sie sich ihm wieder auf, die Einsicht in die aporetische Struktur der Wahrheit. Für uns Menschen, so scheint es ihm, ist Wahrheit nur in Stücken zu haben, und zusammengefügt ergeben sie kein stimmiges Ganzes. Spätestens dann geht es wieder hinaus auf die Straße.

Der nomadische Denker ist allein, aber doch nicht einsam und verloren. Glücklicherweise findet er Sympathisanten, lose verstreut über die Jahrhunderte. Nie haben sie sich zu einer Gemeinschaft zusammengefunden. Belustigt betrachtet Michel de Montaigne in seinem Turmzimmer die »kindischen und merkwürdigen Erzeugnisse meines Geistes«.

Ulrich, der Held in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, pflegt den Möglichkeitssinn »als die Fähigkeit, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.« Odo Marquardt turnt am Hochreck seine pyrrhonische Kür: »Der Sinn – und dieser Satz steht fest – ist stets der Unsinn, den man lässt.«

Das nomadische Denken ist nirgends zuhause. Immer wieder ist es überwältigt von der geistigen Energie, die sich artikulieren möchte in den unterschiedlichsten Kulturgütern. Welch‘ variantenreiche Fülle! Welch‘ phantastische Geburten geistigen Lebens allüberall! Das nomadische Denken hat sich das Staunen bewahrt, mit dem, einem alten Bonmot zufolge, alles Denken begonnen haben soll.

In intellektueller Erregung hebt es den Kopf, merkt auf und reißt die Augen auf. Und langweilt sich bei mangelnder Originalität, bei Kopie und Aufguss, bei uninspirierter Rede. Das nomadische Denken bleibt hungrig, und doch kennt es auch stille Momente eines verströmenden Glückes, wenn es sich dem intellektuellen élan vital bewundernd hingibt.

Aber wir wollen es nicht verklären und ihm seine größte Schwäche nicht durchgehen lassen. Wie hältst du es mit dem Handeln, mit dem emanzipatorischen Engagement für die Schwachen, für Recht und Gerechtigkeit und gegen alle Verletzungen von Anstand und Würde? Gibt es nicht genug zu tun da draußen in der Welt? »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.«

Da wird es still um das nomadische Denken. Eine Gretchenfrage, gewiss, und aus ihr gibt es kein Entrinnen wie einst dem Doktor Faust. Sie trifft das nomadische Denken an seiner Achillesferse, und dennoch gehört es zu seinem Wesen, die offene Wunde an sich selbst austragen zu müssen, nomadisch auch im eigenen Selbstverständnis zu sein, was konkret heißt: sich selbst widersprechen zu müssen der eigenen Integrität willen. Ganz im Sinne Montaignes, der sagte: »Jedenfalls kommt es gelegentlich vor, daß ich mir widerspreche; der Wahrheit aber widerspreche ich nicht.«

20. Dezember 2024

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Peter Vollbrecht

ist Lektor an der Universität of Delhi, Buchautor und Initiator von Verknüpfungen zwischen Philosophie und Leben. So gründete er 1997 das „Philosophische Forum Esslingen“ und leitet seit 2006 in Kooperation mit der Zeitung Die ZEIT philosophische ZEIT Reisen. Sein Roman „Ich bin allein wirklich. Die Philosophie und das launige Leben“ ist 2017 bei Klöpfer & Meyer erschienen. Sein philosophisches Programm zu finden auf www.philosophisches-forum.de

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