Interview mit Politikwissenschaftlerin Linda Sauer
Rechtspolulisten verschieben die Grenzen des Sagbaren und Machbaren. Wie steht es um unsere politische Resilienz, fragt Linda Sauer. Sie spricht im Interview über eine Politik, die drängende Probleme lösen muss, und nimmt auch die Bürger*innen in die Pflicht: „Wir waren lange zu passiv“ und sollten uns mehr engagieren.
Das Gespräch führte Birgit Stratmann
Frage: Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus geraten Demokratien unter Druck. Woran liegt das?
Sauer: Ich sehe in der Untätigkeit der Politik eine wesentliche Ursache für die Schwächung der Demokratie. Nehmen wir die Wohnungsnot in den Ballungszentren, eine gerechte Steuerpolitik, die auch Vermögen einbezieht, eine Migrationspolitik, die Geflüchtete schnell in den Arbeitsmarkt bringt, Mobilität gerade auf dem Land. Dass hier zu wenig passiert, führt zu Frust.
Die Politik ist dafür verantwortlich, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen gut leben können. Ein Versagen des Staates hat schon in den 1980er, 1990er Jahren eingesetzt mit der Ära des Neoliberalismus.
Der Staat stellte sich in den Dienst der Wirtschaft; es wurde behauptet, dass dadurch der Wohlstand für alle wachse. Damals stimmte das vielleicht noch. Doch heute haben sich die wirtschaftlichen Strukturen und Mechanismen verselbstständigt, ohne politische Regulierung, ohne politische Gestaltung.
Können Sie Beispiele nennen?
Sauer: Ein Beispiel ist die entfesselte Finanzwelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stiegen die Löhne zusammen mit der Produktivität und Menschen konnten sich ein gutes, sicheres Leben aufbauen.
Irgendwann waren die Löhne nicht mehr an die Produktivitätsrate gekoppelt – mit der Folge einer großen sozialen Ungleichheit. Der Profit kam zunehmend nur noch den Aktionären zugute, nicht den Bürgerinnen und Bürgern.
Wir sehen auch ein Versagen des Staates.
Vom Versagen des Staates spricht auch der Harvard-Philosoph Michael Sandel. Er schreibt in einem Buch, es habe sich eine „Meriokratie“ herausgebildet aus Reichen und Akademikern. Diese machten Politik für die Eliten und schauten auf andere herab. Die Gedemütigten setzten sich jetzt zur Wehr. Stimmt diese Analyse auch für Europa?
Sauer: Ich teile diese Einschätzung, auch wenn die Situation in Europa etwas anders ist. Wir haben einen stärkeren Staat, der Menschen absichert – mit Krankenversicherung, Arbeitslosengeld und Rente. Aber es gibt die Tendenz, im Sozialen immer mehr zu kürzen.
Das heißt, die Rechtspopulisten nutzen diese Schwächen aus. In der 2024 durchgeführten Mitte-Studie des Extremismusforschers Andreas Zick steht, dass sich rechtes Gedankengut in die Mitte der Gesellschaft ausbreitet. Man denke nur an das Grölen ausländerfeindlicher Gesänge in der Öffentlichkeit. Oft sei es den Menschen nicht bewusst; sie geben an, nicht rechtsextrem zu sein. Wie gefährlich ist das für die Demokratie?
Sauer: Das ist brandgefährlich. Sprechen ist eine Form des Handelns, gerade wenn es im öffentlichen Raum geschieht, auch in sozialen Medien. Das Grölen menschenverachtender Lieder oder das Benutzen einer ausgrenzenden Sprache beeinflusst die Stimmung in einem Land.
Die Grenzen des Sagbaren und Machbaren werden verschoben. Dadurch stumpfen Menschen ab. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn sie andere, etwa Geflüchtete, nicht mehr als Menschen wahrnehmen.
Politische Resilienz beginnt mit Achtsamkeit
Die Neue Rechte will ja die Mitte der Gesellschaft erreichen. Sie treten nicht mehr in Springerstiefeln auf, sondern versuchen niedrigschwellige Angebote zu machen. Wie kann man verhindern, dass Leute da reingezogen werden?
Sauer: Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset sagte sinngemäß: Ein Wald braucht Jahrhunderte, um zu wachsen, aber nur eine Nacht, um abzubrennen. Bewusstsein, Achtsamkeit, Reflexionsvermögen herauszubilden dauert lange, aber es kann im Nu zerstört werden.
Wie steht es um unsere politische Resilienz? Wie schaffen wir es, uns nicht mitreißen zu lassen von Bewegungen, Strömungen, Atmosphären? Der erste Schritt ist die Achtsamkeit. Ich meine Achtsamkeit in einem umfassenden Sinne.
Was bedeutet das?
Sauer: Achtsamkeit ist mehr als ein persönliches Wohlfühlprogramm. Achtsamkeit im umfassenden Sinne bedeutet für mich den achtsamen Umgang miteinander: Wie handle ich in dieser Welt? Wie spreche ich? Mit welchen Menschen umgebe ich mich? Darüber nachzudenken ist sehr wichtig für die Gesellschaft. Es berührt auch Fragen wie: In welcher Welt will ich leben und was ist mein Beitrag dazu?
Müssen wir auch lernen, mit Frust und Wut und Unzufriedenheit besser umzugehen? Die Emotionen werden oft nach außen agiert und richten sich zum Beispiel gegen Politiker.
Sauer: Wut ist eine starke Emotion, sie kann ein Antrieb zum Handeln sein. Es wäre gut, wenn wir die Wut für etwas Konstruktives einsetzen, statt sie nur destruktiv zu entladen.
Wenn wir uns ohnmächtig fühlen, sollten wir die Ohnmacht achtsam wahrnehmen und ins Handeln für etwas Positives umsetzen. Es ist wichtig, dass wir ins Gestalten, in die Selbstwirksamkeit kommen.
Die Parteien der Mitte sollten mehr zusammenarbeiten.
Sehen Sie mögliche Kipppunkte mit den Wahlsiegen der AfD in Ostdeutschland? Andreas Zick sagte, eine Minderheit könne ein ganzes Land zerlegen. Stimmt das?
Sauer: Eine Minderheit allein kann ein Land nicht zerlegen, da muss schon die Mehrheit oder zumindest eine kritische Masse auf den Zug mit aufspringen.
Das würde aber ja bedeuten, dass die vielen, die keine rechtsextreme Gesinnung haben, sich viel mehr für die Demokratie einsetzen müssten. Sind wir zu passiv?
Sauer: Ich glaube, wir waren lange zu passiv, da nehme ich mich nicht aus. Obwohl ich in der politischen Bildung engagiert bin, dachte ich, wir leben hier in recht gesicherten politischen Verhältnissen. Da habe ich mich getäuscht.
Das Vertrauen in etablierte Parteien schwindet. Dadurch entsteht ein Machtvakuum und eine gewisse Handlungsunfähigkeit. Die AfD nutzt dieses und sagt: „Die da oben können das Land nicht mehr regieren.“
Heißt das, die Parteien in der Mitte sollten mehr zusammenarbeiten, statt sich gegenseitig zu bekämpfen?
Sauer: Die Hauptverantwortung sehe ich bei der Politik. Wir leben nun einmal in einer repräsentativen Demokratie. Die Repräsentanten werden aber ihrer Verantwortung im Moment nicht gerecht.
In den politischen Diskussionen geht es eher nur darum: Wer hat recht? Wer hat mehr Macht, wer kriegt ein paar Stimmen mehr? Das sind alles Egospiele. Es geht nur um einen selbst oder um die eigene Partei.
Wir brauchen Bürgerräte als Korrektiv für die Parlamentarier.
Ist die repräsentative Demokratie noch tauglich für so eine heterogene, moderne Gesellschaft oder bräuchte man mehr direkte Demokratie?
Sauer: Wir sind nicht die Schweiz mit ein paar Millionen Einwohnern. Ich bin zwar eine Befürworterin von partizipativen Verfahren. Aber es ist in einem großen Nationalstaat schwer umzusetzen.
Demokratische Entscheidungs- und Handlungsprozesse setzen eine gewisse Kenntnis und Expertise voraus, auch Erfahrung im politischen Agieren. Daher halte ich die repräsentative Demokratie hierzulande für ein gutes System.
Gleichzeitig brauchen wir mehr Partizipation. Wenn ich mich als Bürgerin ohnmächtig fühle, abgekoppelt von politischen Entscheidungen, wenn ich mich nicht mehr repräsentiert sehe, dann schwindet die Zustimmung
Ich finde Bürgerräte gut, aber nicht als kosmetische Maßnahme, wie es aktuell läuft. Wir brauchen Bürgerräte als Korrektiv der Repräsentativen. Das würde auch die Legitimation der Politik stärken. John Deweysagte sinngemäß : Je stärker das Vertrauen in die Demokratie sinkt, umso mehr Demokratie braucht man.
Sie sind beruflich in der politischen Bildung aktiv. Was ist das Zentrale bei Demokratiebildung?
Sauer: In meinen Seminaren starte ich mit der Frage: Was ist für euch der Wert der Demokratie? Ich ermuntere die Teilnehmenden, eine persönliche Antwort zu finden, nicht aus einem Schulbuch oder von Aristoteles abzuschauen.
Wenn ich es auf mich selbst beziehe,berührt es auch eine emotionale Ebene. . Dann entstehen Fragen wie: In welcher Welt will ich leben? Warum ist Demokratie für mich wertvoll? Dann merken wir, dass Demokratie viel mit unserem Leben, mit dem gelingenden Leben zu tun hat.
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Dr. Linda Sauer ist Politikwissenschaftlerin, Mediatorin und Autorin. Sie hat über das Politische Denken Hannah Arendts promoviert, war langjährige Mitarbeiterin an der Hochschule für Politik München und an der TU München sowie Mitglied im Bildungsprojekt “Dealing with Antisemitism in Schools and Universities”. Als Dozentin für Ethik, Politik und Achtsames Demokratielernen ist sie in Einrichtungen der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig.