Appell eines Islamwissenschaftlers
Gemäßigte muslimische Stimmen kommen hierzulande selten zu Wort. Der Islamwissenschhaftler Murtaza macht sich in seinem Buch “Israel. 7. Oktober” Gedanken über eine gemeinsame Zukunft von Muslimen und Juden – nach dem Massaker am 7. Oktober 2023. Eine Stimme für Friedfertigkeit und Dialog in schwierigen Zeiten.
Text: Johannes Zang
Seit eineinhalb Jahren, seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 auf israelische Zivilisten, führt Israel Krieg gegen die Hamas in Gaza. Über 1200 Menschen starben durch die Gewalt der Terroristen; in Folge des Krieges kamen 1600 Israelis und über 50.000 Palästinenser um.
Doch auch weltweit zeitigt der Krieg Folgen: treibt Menschen auf die Straße, spaltet Familien und Gemeinschaften, verhindert Diskussionen. Bei so viel Leid, Gewalt, Spaltung und Polarisierung kommt das Büchlein “Israel. 7. Oktober. Judenhass, Muslimhass und die deutsche Suche nach Identität” genau richtig.
In besonnener Art gewährt der Autor, Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor, anhand von 14 Texten tiefe Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt samt Sorgen und Sehnsüchten eines „muslimischen Deutschen“. Seine Texte sind bereits veröffentlichte Artikel und Interviews sowie Vorträge und unveröffentlichte Artikel aus den Jahren 2023 und 2024.
Dabei behandelt Murtaza so gut wie alle Facetten dieses über 140-jährigen Konflikts: Antisemitismus, Zionismus, Shoa, Nakba, Militärbesatzung seit 1967, Siedlerkolonialismus und -gewalt, Zwei-Staaten-Lösung, die Hamas und deren Massaker des 7. Oktober 2023, Pro-Palästina-und Pro-Israel-Demonstrationen, die deutsche Außenpolitik und Staatsräson.
Einen eigenen Text widmet Murtaza der „Dämonisierung von Muslimen“; vor einiger Zeit ist in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Rassismus unter dem Radar“ dazu ein Artikel erschienen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat eigens eine Meldestelle eingerichtet – wohl bitter nötig, angesichts von bundesweit durchschnittlich fünf „antimuslimischen Straftaten“ an jedem Tag des Jahres 2023. Murtaza beklagt, das „gesellschaftliche Feindbild Muslime ist endgültig Teil der politischen Mitte geworden“.
Gemäßigten Muslimen wird nicht zugehört
Immer wieder beteuert der Autor, wie sehr er die Taten der Terrorgruppe Hamas verurteilt, die nichts mit dem wahren Islam zu tun hätten und schreibt: „Wer Synagogen angreift, greift zugleich Moscheen an, denn in beiden Häusern wenden wir uns dem Ewigen zu“. Worunter er aufrichtig leidet: dass es hierzulande „keine Zuhörbereitschaft“ für muslimische Deutsche gebe und warnt:
„Wenn wir aber diese Räume nicht schaffen, in denen Menschen ihr Leid aussprechen (…) können, dann treiben wir die Gemäßigten auf beiden Seiten in die Arme der Extremisten auf beiden Seiten“.
Fast hat es den Anschein, dass der Autor aus Rücksicht nur zwei, drei Facetten der israelischen Militärbesatzung seit 1967 benennt (und Dutzende anderer wie Häuserabriss, Entzug des Aufenthaltsrechts, Administrativhaft oder Folter verschweigt), um die Gesprächskanäle zur jüdischen Seite nicht zu stark zu belasten.
Er beklagt, dass Muslime und Juden weltweit zu „Stellvertretersoldaten“ gemacht würden – die einen für die Sache der Palästinenser oder der Hamas, die anderen in Diensten der israelischen Regierung. Das nehme den „kritischen Blick auf beiden Seiten“ und verhindere Mitgefühl mit „den auf beiden Seiten leidtragenden Menschen“ .
Deutschland hat Muslimen nie Trost gespendet
Murtaza stellt von der ersten bis zur letzten Seite Fragen – an seine muslimischen Glaubensgeschwister, die deutsche Regierung, die Medien, die Öffentlichkeit. Ein Beispiel: „Weshalb sollen sich Muslime von der Hamas distanzieren? Was haben wir mit diesen Meuchelmördern zu tun?“ Dann konstatiert er: „Niemand käme auf die Idee, von deutschen Juden eine Distanzierung von der Siedlerbewegung zu fordern“, denn das würde bedeuten, sie gleichzusetzen“ .
Dieses Buch sollte Pflichtlektüre werden für alle, die sich im interreligiösen Dialog engagieren, ebenso für die Zentralräte der Muslime und Juden sowie die Deutsch-Israelische Gesellschaft.
Murtaza schreibt ehrlich, Deutschland habe ihn „nie umarmt, nie gewärmt, nie Trost gespendet, nie angenommen“. Er steht auf der Basis von Menschen- und Grundrechten, Völkerrecht und Genfer Konventionen. Das, nicht mehr und nicht weniger, fordert er leidenschaftlich für die Palästinenser ein.
Der Autor möchte sich für eine „menschenwürdige Welt einsetzen, in der auch Palästinenser und Israelis Seite an Seite einen Platz haben, eine Welt, in der Judenhass und Muslimhass dezimiert wurden, eine Welt, in der Juden und Muslime nicht zur Identitätsbildung Dritter missbraucht, instrumentalisiert und gegeneinander ausgespielt werden, sondern, in der sie eine demokratisch-jüdisch-muslimische Leitkultur begründen“.
Bei einer wünschenswerten zweiten Auflage sollten zwei Anregungen Beachtung finden: zu Autor sowie Verfassern der beiden Vorworte wäre eine kurze biografische Notiz hilfreich; Lese- und Filmtipps zur Vertiefung wären ebenso im Interesse des Lesers – zur Konfliktgeschichte, zur Nakba sowie zum 7. Oktober und dem darauffolgenden Krieg.