Eine philosophische Einordnung
Alles wandelt sich permanent, doch wir wenden den Blick stets ab von der sich verändernden Wirklichkeit. Der Widerstand gegen Heraklits „Alles fließt“ könnte in der westlichen Philosophie begründet sein, insbesondere in Platons „ewigen Ideen“, sagt der Philosoph Ludger Pfeil. Auf den Spuren der Ideengeschichte in West und Ost.
Text: Ludger Pfeil
Selten haben wir den Wandel so stark gespürt wie in diesen Zeiten. Technologische, gesellschaftliche, weltpolitische und persönliche Veränderungen erleben wir in einer nie gekannten Frequenz. Doch verstehen wir wirklich, was geschieht?
Wenn wir die Umbrüche im Nachhinein betrachten, müssen wir häufig feststellen: Auslösende und bestimmende Faktoren lagen offen vor uns, Entwicklungen haben sich lange abgezeichnet.
Wir haben alles gewusst und wurden doch von „Zeitenwenden“ überrascht. Warum gelingt es uns so schlecht, angemessen auf Hinweise zu achten und Übergänge richtig einzuschätzen? Woher stammen diese blinden Flecken?
Einfach wäre es, sie schulterzuckend auf die Unvorhersehbarkeiten komplexer, sich gegenseitig bedingender Einflüsse zurückzuführen, nach dem Motto: „Denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.“
Doch gravierender ist womöglich, dass wir aus der westlichen philosophischen Tradition heraus trainiert sind, den Blick von sich vollziehenden Transformationen systematisch abzuwenden.
Unbehagen über Heraklits fluides Denken
Aus erhaltenen Fragmenten wissen wir, dass Heraklit von Ephesos bereits um 500 v. Chr. den stetigen Wandel ins Zentrum seiner Philosophie gestellt hatte. Panta rhei, „alles fließt“, ist die ihm zugeschriebene griffige Formel seines Denkens.
Spannungsverhältnisse wie die zwischen den Enden eines zum Abschuss gespannten Pfeilbogens treiben die Dynamik. Derart zusammengespannte Widersprüche sah er überall in der Welt am Werk.
In diesem Sinn ist bei ihm „der Krieg der Vater aller Dinge“. Doch erhellen konnte Heraklit das Erkannte mit seinen Sinnsprüchen kaum; er blieb seit der Antike „der Dunkle“.
Das Unbehagen, das sein fluides Denken hervorbrachte, erzeugte allerdings wirkmächtige Gegenreaktionen. Griechische Philosophen aus dem im heute italienischen Kampanien gelegenen Elea wie Parmenides und Zenon fürchteten, im Fluss des Erlebens jeden Boden unter den Füßen zu verlieren und suchten verzweifelt nach einer beständigeren Basis.
Gegenreaktionen: Platons „ewige Ideen“
Parmenides fand Beruhigung in der gedanklichen Vorstellung eines unveränderlichen Seins, das allein Erkenntnis ermögliche. Zenon versuchte sogar in seinen berühmt gewordenen und großes Kopfzerbrechen bereitenden Paradoxien (Achilles, der die Schildkröte niemals überholen kann; der fliegende Pfeil, der in jedem unendlich kleinen Raumabschnitt ruht), die Nicht-Existenz der Bewegung logisch zu beweisen.
Folgenreich schlug sich Platon gegen Heraklit auf die Seite der Eleaten und behauptete mit seiner Lehre, dass nur den ewig gleichbleibenden Ideen wahre Existenz zukomme. Ein wahrer Philosoph erschaue sie hinter den nur scheinbaren Veränderungen der Lebenswelt.
Was diese Weichenstellung bedeutete, erahnen wir, wenn wir uns erinnern, dass Alfred North Whitehead die westliche Philosophie insgesamt nur als „Fußnoten zu Platon“ bezeichnete.
Erst im 19. Jahrhundert wurde die Lebensphilosophie auf ein entscheidendes Defizit der einseitigen Orientierung auf das Unwandelbare aufmerksam: Leben ist Veränderung. Den Wandel auszuklammern hieße, das Leben aus dem Denken auszuschließen.
Nichts als Worte
Doch die durch Abstraktion geprägte philosophische Sprache macht es nicht leicht, ein tieferes Verständnis zu gewinnen: „Wir sprechen von Veränderung, aber wir denken nicht wirklich daran. Wir sagen, daß die Veränderung existiert, daß alles sich verändert, daß die Veränderung sogar das Gesetz der Dinge ist: ja, wir sagen es, und wir wiederholen es, aber das sind nichts als Worte, und wir denken und philosophieren, als ob die Veränderung nicht existierte“ analysierte Henri Bergson.
Seine Überlegungen und seine Forderung, uns ins Innere der Bewegung zu versetzen, um sie zu verstehen, blieben eine Randerscheinung. Ebenso wie Nietzsches Bewunderung für Heraklit ihn letztlich nur zur Bejahung der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ führte.
Diese Denkfigur dient etwa in der vereinfachenden Formulierung „alter Wein in neuen Schläuchen“ nur allzu bereitwillig dazu, Veränderungen auf Bekanntes zu reduzieren und ihnen innovative Qualität abzusprechen.
Östliches Denken: Nur oberflächlich sind die Dinge stabil
Im östlichen Denken der Antike spielte der Wandel dagegen stets eine zentrale Rolle. Das Yijing (frühere deutsche Schreibweise: I Ging), das „Buch der Wandlungen“, gehört in seinen ursprünglichsten Schichten zu den ältesten Büchern der Menschheit.
Ursprünglich ein Hilfsmittel zur Wahrsagung, wurde es durch schrittweise Ergänzungen und Kommentare zu einem grundlegenden Weisheitsbuch der chinesischen Philosophie. Konfuzius traute ihm tiefe Einsichten in das Wesen der Veränderung zu und soll es im Alter so oft gelesen haben, dass der Einband seines Exemplars mehrfach erneuert werden musste.
In seinen „Gesprächen“ heißt es: „Wenn mir noch einige Jahre vergönnt wären, daß ich das Buch des Wandels fertig studieren könnte, so möchte ich wohl wenigstens grobe Verfehlungen zu vermeiden imstande sein.“
Das Yijing stellt oberflächlich stabil wirkende, aber spannungsgeladene Situationen durch Kombinationen der gegensätzlichen Grundkräfte Yin und Yang dar, die aufgrund der ihnen innewohnenden Dynamik in eine andere Lage umschlagen können.
Solche Übergänge sind im westlichen Denken so schwer zu begreifen, weil sie im Gegensatz zu vermeintlich statischen Zuständen ein Noch-Nicht oder ein Nicht-Mehr-ganz beinhalten. Platon meinte: Entweder sitze oder stehe ich; Schnee und Wärme schließen sich aus. In dieser Logik sind Aufstehen und Hinsetzen ebenso wie das Schmelzen kaum darstellbar.
Das lässt sich im Chinesischen offenbar besser formulieren. François Jullien erläutert am Beispiel der in der asiatischen Philosophie häufig referenzierten Jahreszeiten den chinesischen Doppelbegriff für den Übergang bian-(er)-tong: „Fortdauer und (als/wegen/durch) Umwandlung“.
Im Jahresverlauf wechseln sich intensive Wandlungsphasen (Winter-Frühjahr und Sommer-Herbst) mit Phasen kontinuierlicherer Entwicklung (Frühjahr-Sommer und Herbst-Winter) ab und bringen so einen Gesamtprozess hervor, der sich gerade durch den ständigen Wandel niemals erschöpft.
Zielorientiertes Denken in der westlichen Philosophie
Überraschende Parallelen finden sich im Vergleich des Buchs der Wandlungen mit der Hegelschen Dialektik. Deren Prinzipien – wie die Dynamik erzeugende Spannung inhärenter Widersprüche oder der Umschlag von anwachsender Quantität an Kipppunkten in neue Qualität – finden sich dort allesamt wieder.
Aber während die Dialektik auch bei Marx und Engels bis hin zu Bloch zielorientiert bleibt und auf einen erwünschten stabilen Endzustand zusteuert – sei es ein „Zusichselbstkommen des absoluten Geistes“, sei es die klassenlose Gesellschaft, verabschiedet sich der Daoismus radikal von jeglicher Teleologie.
Um das Wunschdenken, das glaubt, alles könne bleiben wie es ist, zu entlarven und tiefer in das Wesen der Veränderung einzudringen, lohnt es sich, die östlichen Ansätze zu studieren.
Gelänge es uns, sie in unser von Platon geprägtes Denken zu integrieren, könnte daraus ein besseres Verständnis des Wandels hervorgehen. Nicht, um die Zukunft deterministisch vorhersagen zu können, sondern um den Blick nicht immer wieder abzuwenden von dem, was sich vor unseren Augen ereignet.
Zum Nachlesen:
- Henri Bergson: Denken und schöpferisches Werden. Hamburg 1993
- Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957
- I Ging. Das Buch der Wandlungen. Übersetzung Richard Wilhelm. Köln 2007
- François Jullien: Die stillen Wandlungen. Berlin 2010
- Kungfutse: Gespräche – Lun Yü. Übersetzung Richard Wilhelm. München 1990
- Platon: Phaidon. Hamburg 1981