Interview mit dem ehemaligen Privatsekretär des Dalai Lama
Kelsang Gyaltsen hat 30 Jahre für den Dalai Lama gearbeitet, davon sieben Jahre als sein Privatsekretär. Am 6. Juli 2025 feiert der Dalai Lama seinen 90. Geburtstag. Gyaltsen spricht im Interview über seine tiefe Bewunderung für den Friedensnobelpreisträger, wie die starke Ausstrahlung sein Leben beeinflusst hat und warum der tibetische Freiheitskampf noch nicht zu Ende ist.
Das Gespräch führte Birgit Stratmann
Frage: Der Dalai Lama feiert am 6. Juli 2025 seinen 90. Geburtstag. Wie lange sind Sie schon enger mit ihm verbunden?
Gyaltsen: Ab 1985 war ich sieben Jahre Repräsentant des Dalai Lama, eine Art Botschafter für Mittel- und Südeuropa in Genf. Ich habe viele Besuche von ihm nach Europa organisiert. Von 1992 bis 1999 habe ich als Privatsekretär in seinem Büro in Dharamsala in Indien gearbeiten. Ich war zuständig für internationale Beziehungen, das heißt für die Korrespondenz, Medienanfragen, Auslandsbesuche.
Gerade in den 1990er Jahren wurde der Dalai Lama im Zuge der Verleihung des Friedensnobelpreises bekannter. Es gab ein riesiges Interesse der Weltöffentlichkeit für Tibet. Viele Menschen wollten den Dalai Lama treffen, das musste alles organisert werden. Später in den 2000er Jahren bis 2016 war ich als sein Sonderbeauftragter für Europa tätig und begleitete ihn auf seinen Auslandsreisen.
Ist es stressig für den Dalai Lama zu arbeiten?
Gyaltsen: Die Zusammenarbeit mit ihm war entspannt. Seine Heiligkeit ist als Boss nicht so streng. Wenn man mal etwas vergisst oder einen Fehler macht, reagiert er verständnisvoll. Allerdings, wenn er den Eindruck hat, dass man unaufrichtig ist oder anderes ethisches Fehlverhalten im Spiel ist, kann er ungeduldig und energisch werden.
Was ist das Besondere an der Zusammenarbeit mit ihm?
Gyaltsen: Der Dalai Lama ist eine sehr starke Persönlichkeit. Alle, die für ihn arbeiten, sind manchmal überwältigt von seiner Ausstrahlung; das ging mir auch so. Du gehst morgens ins Büro und willst etwas mit ihm klären, dann überträgt sich seine Stimmung auf dich. Vielleicht hat er gerade etwas in den Nachrichten gehört, was ihn aufgeregt hat, dann begleitet dich diese bedrückte Stimmung den ganzen Tag. Man kann sich nicht entziehen.
Meistens ist er gut gelaunt und fröhlich. Wenn du dann aus seinem Büro gehst und schwierige Aufgaben zu erledigen hast, schwappt auch diese heitere Stimmung über und alles geht leicht. Im Rückblick würde ich sagen, dass mein eigenes emotionales Leben in dieser Zeit irgendwie in den Hintergrund geraten ist.
Man kann nicht anders, als tiefe Bewunderung für den Dalai Lama zu empfinden.
Beeinflusst seine starke Ausstrahlung auch die eigenen Anschauungen?
Gyaltsen: Ja, wenn er zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Freiheitskampf des tibetischen Volkes über Gewaltlosigkeit spricht, dann ist man in dem Augenblick total davon überzeugt. Man kann sich kaum entziehen.
Wenn man dann wieder allein ist oder mit Journalisten oder Parlamentariern spricht, merkt man erst, wie schwierig dieser gewaltlose Weg doch ist.
Es scheint wie so eine Art Sog zu sein, in den man gezogen wird.
Gyaltsen: Wenn man so nah an ihm dran ist, kann man nicht anders als tiefe Bewunderung, Ehrfurcht, ja sogar Liebe für ihn zu empfinden. Und aufgrund der Nähe wird alles, was ihn bewegt, auch für mich sehr wichtig. Denn diese Person spielt so eine große Rolle in meinem Leben.
Die Frage, die sich alle Mitarbeiter in seiner Umgebung dann stellen: Wie kann ich meine emotionale Eigenständigkeit bewahren? Auf rationaler Ebene gibt es kein Problem. Du kannst ihm immer deine Meinung sagen, deine Einschätzung und Sicht teilen.
Neben seinen Stärken, die allgemein anerkannt sind, wie seine große Überzeugungs- und Ausstrahlungskraft, geht für mich von seiner Person etwas aus, das ich nur als kindliche Unschuld bezeichnen kann.
Der Dalai Lama warnt die Tibeter davor, die Chinesen zu hassen.
Sie waren auch Unterhändler für die Gespräche mit chinesischen Vertretern. Wann war das?
Gyaltsen: Zusammen mit meinem Kollegen Lodi Gyari war ich Kontaktperson für Gespräche und Beziehungen zur chinesischen Regierung, das begann schon Mitte der 1990er Jahre. 2002 kam es zu unserem ersten offiziellen Besuch nach China. 2002 bis 2010 haben wir insgesamt zehn Dialogrunden mit chinesischen Vertretern geführt.
Man muss dazu sagen, dass Sie selbst und Ihre Familie eine Fluchtgeschichte haben.

Gyaltsen: Ich bin 1951 in Osttibet geboren worden, eine Region, die zuerst von den chinesischen Truppen überrannt wurde. Ich kann mich noch gut erinnern, dass mein Vater und mein Großvater oft nicht zu Hause waren. Die Männer haben versucht, die heranrückenden chinesischen Truppen aufzuhalten. Doch nach zwei Jahren mussten sie aufgeben. Mit der Besetzung unseres Dorfes 1958 sind wir nach Indien geflohen.
Gab es in Ihrer Familie eine Art Bitterkeit oder Groll? Die Heimat zu verlieren ist ein heftiges Schicksal.
Gyaltsen: Meine Eltern leben beide nicht mehr, aber wenn ich mit ihnen zusammen war, gab es kaum einen Tag, wo sie nicht über Tibet, ihre Heimat, gesprochen haben. Sie hatten immer eine große Sehnsucht nach Tibet.
Hass habe ich nicht gespürt, aber natürlich: Wir sind keine Freunde der Chinesen. Meine Eltern haben als Buddhisten aber geglaubt, dass das, was sie erleben, Karma ist, also eine Folge eigener Taten in der Vergangenheit.
Hat der Dalai Lama hier auch mäßigend gewirkt?
Gyaltsen: Ja, der Dalai Lama hat die Tibeter immer davor gewarnt, die Chinesen als Volk zu hassen, auch wenn die Politik der kommunistischen Regierung ungerecht und schlecht ist.
In China geht die Macht der Partei über alles.
Der Dalai Lama hat Ende der 1980er Jahre schmerzhafte Kompromisse angeboten, nämlich Autonomie im chinesischen Staatsverband statt Unabhängigkeit, weil er die Kultur Tibets erhalten wollte. Gab es eigentlich jemals ernsthafte Gespräche?
Gyaltsen: Ich hatte den Eindruck, dass nach dem Tod von Mao Zedong bis zum Massaker am Tianamen in China vieles im Umbruch war. Unter Deng Xiaoping gab es eine leichte Öffnung, auch aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Lage.
Und auch die internationale Gemeinschaft hoffte, dass China sich positiv verändern und liberaler würde. Da hat man sich allerdings vielen Illusionen hingegeben. Denn eines war klar: Die Kommunistische Partei Chinas war nie bereit, ihre Macht abzugeben. Die erste Priorität der Führung in Peking war immer der Machterhalt der Partei.
Der Spielraum für Freiheiten und eine offene Gesellschaft ist extrem begrenzt. Das sehen wir heute: China ist wirtschaftlich, militärisch und politisch erstarkt, aber die Repression nimmt zu, nicht nur gegenüber Tibetern und Uiguren, sondern auch in Hongkong und China insgesamt.
Ich stehe hinter dem Weg der Gewaltlosigkeit des Dalai Lama.
Angesichts dessen, was Sie schildern, standen Sie immer hinter dem Weg des Dalai Lama, dem Weg von Gewaltlosigkeit und Dialog?
Gyaltsen: Was die Gewaltlosigkeit betrifft, stehe ich voll hinter dem Dalai Lama. Im Fall von Tibet ist Gewaltlosigkeit der einzige Weg, um über längere Zeit den Freiheitskampf zu führen.
Etwas anders sehe ich heute das Zugeständnis des Dalai Lama, nicht die Unabhängigkeit und Trennung von China zu verlangen, sondern sich auf Autonomie innerhalb Chinas zu beschränken.
Das war in den 80er und 90er Jahren der richtige politische Weg. Denn zu der Zeit hat die ganze Welt China umarmt und aufgrund der wirtschaftlichen Reform eine Chance zur Kooperation gesehen. Hätten wir zu der Zeit auf der Unabhängigkeit für Tibet bestanden, hätten wir international nicht genügend Unterstützung bekommen.
Heute steht für mich fest, dass es zuerst in China große politische Veränderungen geben muss, bevor es die Möglichkeit für einen echten Dialog gibt. China bleibt so lange eine Bedrohung, auch für Europa und die internationale Gemeinschaft, bis es einen politischen Wandel hin zu mehr Freiheit gibt.
Daher muss die politische Forderung der Tibet-Bewegung sein, die Regierungen in Europa zu drängen, mit ihrer Chinapolitik auf den politischen Wandel in China zu drängen. Wir müssen jetzt darauf hinweisen, dass Tibet genauso völkerrechtswidrig von der Volksrepublik China angegriffen und besetzt wurde wie die Ukraine durch Russland. Deshalb sollten wir darauf pochen, dass das Völkerrecht eingehalten wird.
Unser Freiheitskampf hängt nicht vom Dalai Lama allein ab.
China herrscht bis heute über Tibet mit eiserner Faust, und sogar die tibetische Kultur ist bedroht. Es war ja das Anliegen des Dalai Lama, wenigstens diese zu schützen. Ist der Dalai Lama mit seiner Politik gescheitert?
Gyaltsen: Nein, das sehe ich nicht so. Die Freiheit eines Volkes und das Überleben einer Kultur sind nicht abhängig von einer einzigen Person. Das letzte Kapitel unseres Freiheitskampfes ist noch längst nicht geschrieben. Die Menschen im Westen sind ungeduldig und fällen schnelle Urteile. Viele sagten schon in den 60er und 70er Jahren, wir seien verloren.
Dann in den 1990er Jahren waren wir zurück. Es gibt Tibet noch immer. Unter den Tibetern in Tibet gibt es große Ressentiments gegenüber der chinesischen Regierung, heute noch mehr als vor 15 oder 20 Jahren.
Es gibt aufgrund der massiven Unterdrückung nur keinen Raum, um die Frustration, den Protest auszudrücken. Und trotzdem gab es mittlerweile 160 Tibeter, die sich aus Protest gegen Peking selbst verbrannt haben. Eine drastischere Form des Widerstands kann man sich nicht vorstellen!
Die Tibeter wollen nicht unter chinesischer Herrschaft leben. Sobald sich eine andere Situation ergibt, werden sie erneut Widerstand leisten, da mag China sich nach außen hin noch so mächtig und stark präsentieren. Wäre alles in Ordnung, bräuchte es nicht diese starken Repressionen.
Der Dalai Lama will immer etwas geben, sich auf den anderen zubewegen – immer.
Worin liegt die Bedeutung des Wirkens des Dalai Lama?
Gyaltsen: Als Tibeter sehe ich die Bedeutung darin, dass der Dalai Lama der Welt den Wert der tibetischen Kultur und Zivilisation vermitteln konnte. Vor seiner Flucht nach Indien 1959 war Tibet gänzlich unbekannt. Heute gibt es nur ca. 150.000 Exiltibeter, aber unsere Kultur ist weltweit bekannt und ins Bewusstsein vieler Menschen gerückt.
Ich glaube, es ist auch dem Wirken des Dalai Lama zu verdanken, dass der Buddhismus als eine positive Kraft wahrgenommen wird und Menschen dazu inspiriert, über Mitgefühl und Gewaltlosigkeit in ihrem Leben nachzudenken.
Was beeindruckt Sie am Dalai Lama am meisten?
Gyaltsen: Der Dalai Lama ist in jeder Situation, zu jeder Zeit konstruktiv. Er will immer etwas geben, sich auf den anderen zubewegen – immer. Dieses konstruktive Verhalten bei jeder Gelegenheit ist die Frucht seines spirituellen Trainings. Das ist außergewöhnlich. Das buddhistische Geistestraining ist zu seiner zweiten Natur geworden.