Der soziale Körper muss gesunden

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Philosophische Kolumne: Gesunde Individuen und erkrankte Gesellschaften

Europa ist stolz auf seine philosophische Tradition. Die Folgen jahrhundertelanger Gedankenarbeit und politischer Kämpfe: Wohl begründete Freiheitsrechte, Rechte des Einzelnen, gegründet auf ein Menschenbild, das mit dem Ausdruck „Sakralität der Person“ bestens auf den Begriff gebracht ist – anschlussfähig also mit der religiösen Überlieferung. Doch was nützt es, wenn die Individuen gesund sind, der soziale Körper aber krank?

Von Thomas Hobbes über John Locke und David Hume bis zu John Stuart Mill läuft eine Linie, die den Staat zum Garanten individueller Selbstentfaltung erkoren hat. Neben der pragmatischen angelsächsischen Tradition stützten Freiheitsdenker wie Spinoza und Kant die Forderungen nach Selbstbestimmung systematisch ab. Die Feier des Individuums prägt unsere westliche Lebensform. Wenn der Sinn der Politik die Freiheit ist, so deshalb, weil Freiheit dem Ich den Lebensraum gibt. Das Ich ist Angelpunkt unserer Wertewelt.

Irritierend nur, dass das Ich zugleich als Entität in Frage gestellt wird und von ihm, wenn es nach den Wissenschaften geht, kaum mehr als ein Bündel von Ich-Zuständen bleiben kann. Auch dass die Willensfreiheit für eine Illusion gehalten wird, steht zum Kult des Individuums in Spannung. Aber diese „Lücke“ zwischen theoretischer und praktischer Philosophie soll uns jetzt nicht weiter beschäftigen.

Es ist ein anderer Punkt, der angesichts der aktuellen Bedrohungslage durch das neue Corona-Virus Aufmerksamkeit verdient. Ohne grob zu vereinfachen und damit das Denken im Osten und Westen schlicht zu dichotomisieren und fahrlässig zu polarisieren, möchte ich in diesen Tagen virologischer Aufgeregtheit eine bezeichnende Begebenheit zum Anlass nehmen, um einmal neben all dem Lob des vielgepriesenen Individualismus den Blick, wie es in Ostasien eher geschieht, auf den sozialen Körper richten. Denn nicht nur Einzelne sind in Gefahr – das Soziale droht zu kollabieren.

Vor wenigen Tagen trat ich die Heimreise nach schönen Urlaubstagen auf den Kanaren an. Mir selbst waren die Gefahren für die einzelnen Menschen, mehr aber noch für die gesamte Wirtschaft samt Folgen, etwa die Tragweite nötiger Beschränkungen von Freiheitsrechten oder der Shutdown des öffentlichen Lebens, noch nicht so recht klar.

Die vielbeschworene Dynamik der Entwicklung musste auch in meinem Verstand erst greifen. Stündlich überschlagen sich ja mittlerweile dramatische Meldungen. Kurz, die wirkliche Bedrohungslage unterschätzend, habe ich (wie andere auch) auf dem Flug von Teneriffa nach Stuttgart ein Ehepaar belächelt, das sich, mit einfachstem Mundschutz ausgerüstet, wie alle anderen Fluggäste es zu Hunderten auf engstem Raum tun mussten, durch die mit Bändern vorgegebenen mäandernden Anstehschleifen zur Gepäckaufgabe zubewegten.

Angesichts der Empfehlung, 1 bis 2 Meter Abstand zu halten, war diese Einrichtung, am Ende der Warteschlange die Passagiere schließlich „gerecht“ auf vier Annahmeschalter zu verteilen, zugleich auch die gerechteste Einrichtung zur gleichmäßigen Verteilung des vorhandenen Ansteckungsrisikos.

Auch andere Umstehende lästerten hinter vorgehaltener Hand, wie wenig diese Maßnahme des ängstlich wirkenden Paares diesem nützen könnten. Was wir alle für selbstverständlich hielten, war, wie mir erst im Nachhinein deutlich wurde, die Unterstellung, die beiden wollten sich selber schützen.

Vielleicht war es ja so. Aber die Fahrt aufnehmenden Diskussionen über Sinn und Unsinn der Reaktionen auf den sich rasant ausbreitenden Erreger in unserem gemeinschaftlichen Atemraum führte mich allmählich zum tieferen Verständnis der jetzt erforderlichen Formen von Solidarität.

Und jetzt fiel, wo Mutmaßungen dieses mitreisende Paar der Lächerlichkeit preisgaben, plötzlich neues Licht auf die angeblich so wenig Schutz bietenden Masken mit den Gummibändchen, die wohlfeil hinter die Ohren zu ziehen sind: Womöglich ging es gar nicht um den Eigenschutz, sondern um den Schutz der Anderen?

Wie beim Zahnarzt, der mal verschnupft sein kann und sich nur mit diesem Mund- und Nasenschutz über mich beugt, könnte der Gedanke dieser Fluggäste ganz auf die Mitreisenden gerichtet gewesen sein.

Somit verkehrt sich der Blickwinkel. Ressentiments lösen sich in Luft auf. Die Chinesen, Japaner oder Koreaner, die da durch die Häuserschluchten rasen und dicht gedrängt in den Untergrundbahnen auf ihren Zielbahnhof zusteuern, sind ja alles andere als Angsthasen.

Das zu denken hieße sich auf der Fährte Donald Trumps zu bewegen, der vom China-Virus sprach. Nein, dieser Mundschutz ist Ausdruck des Respekts und der Rücksichtnahme, der Solidarität mit denen, die angesteckt werden könnten und deren Immunsystem die Viren nicht so leicht wegzustecken vermag, wie dies das eigene mutmaßlich tut.

Erst allmählich wird diese Sichtweise im ich-bezogenen kulturellen Westen wohl greifen, so wie es auch bei mir etwas gedauert hat. Es bedarf keiner konfuzianischen Tradition oder einer buddhistischen Prägung. Ressourcen für den Ausbau einer veritablen Sozialphilosophie gibt es auch in den Schatzkammern unserer philosophischen und biblischen Tradition.

Die Ich-Du-Philosophie, eine Theorie des dialogischen Selbst oder die Transformation der Subjektphilosophie in eine Philosophie der Intersubjektivität, eine Sozialphilosophie, die nicht von wechselseitiger Anerkennung in liebendem Kampf stehender Einzelner ausgeht, steht längst neben dem Individualismus und dem Anspruchsdenken bereit.

Doch zu nennenswerter Bedeutung für das alltägliche Leben und Denken kamen diese Positionen nie. Von einer Anthropologie, die ihren Ausgang von der Trinität und dem personalen Mit-sein ausgeht, ganz zu schweigen.

Europa, näherhin die Union gründet nach Selbstauskünften auf Werten wie Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Rechte, Rechte, Rechte – und die zugehörigen, ja vorauszusetzenden Pflichten?

In der Freund/Feind-Logik vieler Westler steht dem gegenüber das Schreckgespenst des Kollektivs; Kommunismus, Sozialismus und selbst der Kommunitarismus landen in einem Topf, den sich viele nur in der Hexenküche brodelnd vorzustellen vermögen.

Ideen wie die von einer „Kollektiv-Person“ oder der Gedanke eines „Volksganzen“, ja gar eine „Volksseele“ gelten heute als Abstrusitäten finsterster Zeiten. (In gewisser Weise zu Recht… –  weshalb solches auch nicht beschworen oder in irgendeiner milderen Form aktiviert werden soll).

Doch an der Idee, dass es eine Gemeinschaft der Menschen, im weitesten Sinn eine Menschheit (das Menschengeschlecht oder die Menschheitsfamilie – Worte von dieser Art transportieren immer gleich „Weltanschauungen) gibt, und darin wiederum Gemeinschaften unterschiedlichster Art; dass je nachdem die Solidarität und das Füreinander, ja Liebe im Sinn von Wohlwollen und Fürsorglichkeit, dass Verantwortlichkeiten (gerade im Füreinander) von großem Wert sind, ja Werte schlechthin; dass es sich um Tugenden handeln – daran lässt sich ja nun doch ganz bestimmt nicht zweifeln.

Und genau hier müsste das Denken neu ansetzen. Der Individualismus verdient „korrigiert“ zu werden. Wir müssen uns dessen bewusst werden, dass Rechte in Pflichten gründen; dass Wesen, die in der Sprache zuhause sind, sprachbegabte Tiere, wie Charles Taylor sagt, wissen müssen, dass sie stets „Ant-Wort“ und nicht ursprünglich „Wort“ sind, und dass sie sich gegeben sind, inmitten kontingenter Vorgaben.

Was nützt es, wenn die Individuen gesund sind, und der soziale Körper erkrankt? Dass Soziopathien mittel- und langfristig auf die Gesundheit verheerende Wirkungen zeigen, ist so sicher wie die ansteckenden Viren. Werde ich angesteckt? Wie schütze ich mich? – So habe ich noch vor einer Woche gefragt. Wen schütze ich wie – so lautet die Frage heute. Traurig genug, dass es ein Schreckensszenario für das Umdenken brauchte.

Hoffentlich sitzt die Lektion – und breitet sich schneller aus als die Viren. Es ist nur recht und billig, die anderen im Auge zu haben und sich einzuordnen in ein Größeres, einen sozialen Körper. Meine Freiheit wird nicht nur begrenzt durch die Freiheit anderer. Mein Leben wird auch erweitert durch das Mit-sein mit den anderen. Geforderter Ab-stand als Bei-stand? Mithilfe des Ver-stands auch eine Frage des An-stands!

Thomas Gutknecht, 28. März 2020

Thomas Gutknecht lehrt und lernt nach Studium der Philosophie, Katholische Theologie, Germanistik unter anderem als Dozent am Kolping-Bildungszentrum Stuttgart, zudem an verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung. 1991 des des Logos-Instituts für Philosophische Praxis und freiberuflich tätig. Er war bis 2015 Präsident der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis. www.praxis-logos.de

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