Philosophische Kolumne
Ich bin mit meinen Büchern ein Fossil. Nicht, dass ich außerordentlich viele davon hätte. Andere haben gewiss mehr, doch Quantität allein zählt hier nicht, wenn nicht auch biographische Herzensbindung dabei ist. Meine Bücher begleiten mich seit meinem intellektuellen Erwachen, und seitdem behaupten sie ihren Platz im Regal. Von Umzug zu Umzug.
Wenn ich mit den Augen über die Buchrücken streife, dann steigen mir, empfängliche Gemütslage vorausgesetzt, Erinnerungen auf an lange Lesenachmittage. Die Hermann-Hesse-Phase während des Zivildienstes. Die beiden S.-Fischer-Bände mit Kafkas Romanen und Erzählungen, in deren Sog ich in meinem ersten Semester geriet. Camus und Sartre in eselsohrigen rotschwarzen rororo-Taschenbüchern. Kants Kritik der reinen Vernunft, die ich als Zweitsemester-Greenhorn mit despektierlichen Randkommentaren geschmückt hatte (»so ein Blödsinn du Oberphilosoph!«) – keine Autorität, die nicht zu stürzen war damals, ja, so ging es zu in jungen Jahren.
Die Buchrücken dokumentieren Treuebekenntnisse zu einzelnen Autoren, sie erzählen aber auch von abgebrochenen Lektüren, von frustrierten Trennungen von einstigen Lieblingen sogar, dann wiederum von flatterhafter Unbeständigkeit, von One-book-stands. Mit manchen Büchern verbinde ich Reisen wie die an die Südküste von Kreta während eines Februarmonats, der dem Durcharbeiten von Theodor Adornos Ästhetischer Theorie gewidmet war. Eine verbissene Lektüre war’s, ohne rechte Leselust, aber angetrieben vom Willen, durchzuhalten und einen Gewinn herauszupressen aus den langen selbstverliebten Sätzen. Und dann – rieche ich sie wieder, die feuchte Mittelmeerluft eines sonnigen Wintermorgens.
Die frühen Lektüren, jene, die zum Aufbruch gehören, stehen an der Spitze meines Rankings. Sie haben ein doppeltes, ja mehrfaches Gewicht, ganz so, wie es den Erinnerungen junger Jahre zukommt, die mehr wiegen als die aus reiferen Lebensphasen. Als es hinausging ins Leben, waren Bücher immer dabei.
Vielleicht laden Bücherwände zu narzisstischen Betrachtungen ein. Es gibt ja den lauten und den stillen Narzissmus, den, der ein Publikum braucht und missbraucht, und den, der lustvoll sich selbst genug ist. Den, der sich vor allen im Spiegel zeigen möchte, geschminkt und aufgeputzt, und den, der einfach betrachten will, um sich seiner Existenz zu versichern.
Und so, denke ich, ist es mit mir und meinen Büchern. Sie erzählen mir Geschichten darüber, wie sich über die Jahre bis heute mein intellektuelles Wurzelgeflecht im Erdreich der Traditionen verbreitert hat. Geschichten um Temperatur und Klima des jeweiligen In-der-Welt-Seins. Was für jemanden große Bedeutung hat und für eine andere nur eine kleine. Da ist, um jeden hochfliegenden Gedanken wieder zu erden, weniger dran als es klingt, denn von einer auf die andere Sekunde kann die ganze geistige Welt verlöschen, wenn der Körper streikt.
Ich bin ein bibliophiles Fossil, und es gibt einige andere neben mir. Ich gäbe viel darum, hätte ich die Gabe, mit ihnen ins Gespräch zu kommen wie Saleem, der Held aus Salman Rushdies Mitternachtskinder, der zur Geburtsstunde des indischen Staates auf die Welt kam und der telepathisch Verbindung aufnehmen kann zu allen anderen Kindern, die zur gleichen Stunde geboren wurden. Wir würden dann eine bibliophile Gemeinschaft bilden. Jeder und jede von uns hat ja seinen eigenen Kurs durch das Bücheruniversum genommen.
Vielleicht, das mag sein, war es nur in Maßen eine freie Navigation gewesen, die Welt übt ja so viele Einflüsse aus auf den Einzelnen. Aber alles Gelesene bildet doch den Resonanzraum für die Weltereignisse, die von außen ins Bewusstsein dringen und dort besprochen, gedeutet, bewertet werden. Auf der Weltkonferenz der Lesenden würde man sich in existenzieller Tiefe begegnen. In unendlichen wirkästhetischen Horizonten würden die Bücher ihre Leser versammeln – und vernehmen, was sie, die Bücher (!), dort draußen in der Welt angerichtet haben.
Irgendwann habe ich irgendwo bei Hannah Arendt gelesen, ohne Eigentum an Dingen würde der Mensch weltlos bleiben. Der Gedanke hat Zündkraft, man könnte von ihm aus zu den Mönchsklausen, zu Gewand, Nadel und Faden, Almosenschale, Rasiermesser und Wassersieb. Man kann aber auch zurück zu den Büchern, die tatsächlich mehr sind als bloße Dinge. Im Idealfall nämlich, so sehen wir Bibliophilen das: ein offenes Fenster, durch das der Weltwind hineinweht zum einsam Lesenden auf dem Sofa. Ein überpersönliches Du, das zu uns spricht, das uns einlädt, teilzunehmen am großen Gespräch, durch das wir das verwirklichen, was wir potenziell sind: Menschen.
Peter Vollbrecht, 28. Oktober 2024
Peter Vollbrecht ist Lektor an der Universität of Delhi, Buchautor und Initiator von Verknüpfungen zwischen Philosophie und Leben. So gründete er 1997 das „Philosophische Forum Esslingen“ und leitet seit 2006 in Kooperation mit der Zeitung Die ZEIT philosophische ZEIT Reisen. Sein Roman „Ich bin allein wirklich. Die Philosophie und das launige Leben“ ist 2017 bei Klöpfer & Meyer erschienen. Sein philosophisches Programm zu finden auf www.philosophisches-forum.de