Interview mit dem Medizinethiker Prof. Urban Wiesing
Der Medizinberuf ist ethisch ausgerichtet, geht es doch um das Wohl des Menschen. Medizinethiker Wiesing spricht im Interview über ethische Grundsätze wie die Gleichheit und die Selbstbestimmung der Patienten sowie herausfordernde Themen wie Sterbehilfe und Abtreibung.
Das Gespräch führte Maria Köpf
Frage: Die Gretchenfrage für Ärzte in Deutschland müsste vielleicht heißen: „Wie halten Sie es mit der Ethik?“
Prof. Urban Wiesing: „Ethik in der Medizin“ ist heute ein Pflichtkurs für angehende Mediziner. Hier werden ethische Grundlagen vermittelt, wie die Schweigepflicht und Selbstbestimmung des Patienten und die ethische Ausrichtung, auf der der gesamte Beruf basiert, nämlich „Wir wollen kranken Menschen helfen“.
Frage: Damit holen sie die Medizinstudierenden dann auch meistens gut ab?
Wiesing: Ja, unsere Ethik-Vorlesung kommt in den Evaluationen sehr gut weg. Doch wichtig ist, dass Studierende beginnen, tatsächliche Situationen im Alltag auch zu reflektieren, auf Grundlage ethischer Normen, etwa die des hippokratischen Eids: „Nutzen und nicht schaden“.
Was seit dem 20. Jahrhundert hinzugekommen ist, wäre vor allem das Prinzip „Selbstbestimmung respektieren“. Dies betrifft auch die Fälle, in denen jemand bewusstlos wird und daher nicht mehr sagen kann, welche Behandlung er möchte. Für diese Fälle gibt es eben Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten.
Als weiteres ethisches Prinzip gilt für Ärzte die Norm der Gerechtigkeit. Hier regelt ein Arzt seine Behandlungen im Sinne der gleichberechtigten, Behandlung für alle Menschen.
„Alle Patienten sollten gleichberechtigt behandelt werden.“
Frage: Man darf nicht vergessen, dass genau dieses Prinzip während der Coronapandemie für viele eine brennende Frage wurde.
Wiesing: Ja, und hier stellt sich die Frage: Wie kann eine Ärztin Gerechtigkeit herstellen? Und die Antwort ist: Sie kann ihre Aufmerksamkeit gerecht verteilen.
Hier gilt vor allem, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht von bestimmten Faktoren abhängig macht, wie Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung oder soziale Stellung.
Daran ist jede ärztlich handelnde Person durch das Genfer Gelöbnis gebunden. Darüber hinaus gibt es bestimmte Probleme, die wir besser oberhalb der Arzt-Patienten-Beziehung regeln sollten, insbesondere unter Knappheitsbedingungen.
Das ist zum Beispiel die Verteilung von Organen. Das entscheiden ja nicht die Ärzte am Krankenbett, sondern das entscheidet die Organisation Eurotransplant.
Seit Corona haben wir ein Gesetz, das vorschreibt, anhand welcher Kriterien entschieden werden muss, wenn es zu wenig Behandlungsmöglichkeiten gibt und man zwischen Patienten auswählen muss. Hier gilt es sich als Arzt immer zu fragen: Auf welcher Ebene wird das entschieden?
Triage-Entscheidungen sind heikel.
Wenn wir gleich einmal kurz bei diesem sehr eindrücklichen Triagegesetz seit der Coronapandemie bleiben – wie wird das heute ethisch geregelt?
Wiesing: Der Kern ist, dass die Entscheidung, wer eine Behandlung bekommt, nicht von Geschlecht, Rasse, ethischer Orientierung, sexueller Orientierung oder einer Behinderung abhängig gemacht wird. Hier haben insbesondere die Behindertenverbände darauf hingewirkt, dass in das Triagegesetz nicht die Wertung des Gesundheitszustands an sich einbezogen worden ist.
Seltsam, dass dies noch gesetzlich festgehalten werden musste. Nach welchen Kriterien wird eine Beatmungsmachine zwischen zwei Patienten heute aufgeteilt?
Wiesing: Im Wesentlichen nach dem Kriterium der Erfolgswahrscheinlichkeit: „Bei welchem Patienten erwarte ich medizinisch den größeren Erfolg?“ Die Ärzte beachten zum Beispiel, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Patient die Beatmung überlebt.
Falls eine Person eine nur 20-prozentige Wahrscheinlichkeit hat gegenüber einer anderen Person mit einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit, wird der Person mit der besseren Prognose der Vorzug gegeben, wenn nicht beide behandelt werden können. Das ist natürlich heikel, es geht um Prognosen. Aber die gesamte Medizin beruht auf Prognosen.
Detailprobleme zur Sterbehilfe sind gesetzlich nicht geregelt.
Und es wird keinesfalls die Anzahl der von einem Menschen direkt abhängigen Menschen einbezogen?
Wiesing: Nein, ob nun eine Mutter von acht Kindern mit Bundesverdienstkreuz oder ein Obdachloser vor einem Arzt steht, darf bei seiner Entscheidung keine Rolle spielen.
Hinsichtlich Sterbehilfe, einem ähnlichen Thema, gibt es vielleicht ähnliche übergreifende Bestimmungen?
Wiesing: Das ist ein recht brisantes und vieldiskutiertes Thema. Denn es gab 2020 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Hilfe zum Suizid straffrei ist, auch die organisierte Hilfe seitens der Sterbehilfevereine.
Das war vorher verboten, ist nun jedoch straffrei gestellt. Seither gibt es jedoch kein neues Gesetz; in einem liberalen Rechtsstaat gilt, dass erlaubt ist, was nicht gesetzlich geregelt ist.
Es gibt aber inzwischen einzelne Fälle, in denen denen Gerichte entschieden haben „Das war unzulässig – weil die Willensbildung derjenigen, die sterben wollte, nicht dauerhaft und nicht frei verantwortlich war.“ Sterbehilfevereine nutzen die gegenwärtige ungeregelte Lage; die Zahl der Sterbehilfefälle steigt und die Nachfrage nach Assistenz zum Suizid scheint ebenso zu steigen.
Das scheint ein großes Problem.
Wiesing: In einigen Fällen schon. Es gibt dokumentierte Fälle von Menschen, die den Wunsch zu sterben äußerten und um Sterbehilfe ersuchten, bei denen eine psychische Erkrankung vorlag und kein Psychiater zuvor mit dem Patienten gesprochen hat.
Bei einer psychischen Erkrankung sollte nach meinem Urteil auf jeden Fall der Facharztstandard gewährleistet sein. Die Frage ist auch, lässt man ein Vieraugenprinzip oder in manchen Fällen sogar Sechsaugenprinzip von einem Arzt sowie einem Zweit- oder Drittarzt gelten?
Zudem gibt es die Frage der Wartezeit. Bei einer Erkrankung im Endstadium monatelang zu warten zwischen Gespräch und Überlassung des tödlichen Giftes ist etwas ganz anderes als bei einer Depression längere Zeit zu warten.
Diese Detailprobleme betreffen uns Mediziner direkt, denn sie sind nicht geregelt. 2023 hat der Bundestag über einen konservativen Gesetzesentwurf und einen eher liberalen Entwurf abgestimmt, beide bekamen keine Mehrheit.
Die Politik kann nur den Rahmen für ethisches Verhalten setzen.
Auch im Zuge des Abtreibungsgesetzes wurden viele Debatten geführt.
Wiesing: Interessanterweise waren die umstrittensten Gesetze in Deutschland häufig medizinethische Gesetze: wie der Paragraph 218 zum Schwangerschaftsabbruch oder zur Organtransplantation, zur Präimplantationsdiagnostik oder zur Stammzellforschung.
Interessant ist auch, dass diese Gesetze jenseits der Parteilinien verabschiedet wurden. Stattdessen haben sich Gruppen im Bundestag gebildet über Parteien hinweg, die Gesetzesentwürfe geschmiedet haben.
Gerade beim Schwangerschaftsabbruch gibt es bekanntermaßen in der Ethik keine Einigkeit – zwischen einer liberalen und einer katholischen Position kann es keine Einigung geben. Das Parlament kann hier nur politisch entscheiden und festlegen, wo es Grenzen gibt.
Insofern kann der Bundestag bei solch ethischen Fragen nur einen politischen Rahmen setzen, wie etwa der gegenwärtige, dass ein Abbruch unter bestimmten Bedingungen straffrei ist –nur bis zur 12. Woche und dass eine Pflichtberatung und eine Wartezeit eingehalten werden müssen.
Es gab bei Medizinern immer eine Moral.
Ich stelle es mir dennoch schwierig im Arztalltag vor, die moralischen Grundlagen auszubalancieren: das Wohl des Patienten, die Selbstbestimmung, die gerechte Entscheidung des Arztes – all dies gilt es zu beachten.
Wiesing: Nennen Sie mir einen Bereich in unserer Gesellschaft, in der es ethisch nicht schwierig wird. Wir leben in Zeiten des moralischen Wandels, der Transformation der Gesellschaft, des Klimawandels, der Globalisierung…
Wie würde man dennoch ethisches Handeln bestmöglich bei Ärzten fördern, damit sie einfühlsames Verhalten einüben…
Wiesing: Die Medizinethik gibt es nicht erst seit der Aufnahme der Ethik in das Lehrcurriculum der Ärzte. Ethische Verhaltensweisen in der Medizin sind schon immer von älteren zu jüngeren Generationen transportiert worden.
In Arztserien, auch wenn sie vor Kitsch nur so triefen, können Sie immer auch nachvollziehen, wie ethische Werte in der Medizin weitergegeben werden. Es gab bei Medizinern immer eine Moral. Nur jetzt ist sie explizit ein Fach im Curriculum des Medizinstudiums und es gibt Institute, die darüber wissenschaftlich arbeiten.
Ist empathisches Verhalten eine weiche Komponente im Arztstudium, die nicht abgeprüft, aber erwünscht wird?
Wiesing: Empathie abzuprüfen ist schwierig. Hier könnte es höchstens bei den praktischen Fallbeispielen im Staatsexamen besser oder schlechter benotet werden, ob der angehende Arzt auf den Patienten angemessen einging oder nicht.
Die Faktenlage, die wissenschaftlichen Kenntnisse kann man prüfen. Haltungen lassen sich sehr schwierig überprüfen. Das gilt auch für andere Berufe. Dennoch kann man ethische Fragen benennen und reflektieren.

Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing, Jahrgang 1958, ist Professor für Ethik in der Medizin an der Universität Tübingen. Er studierte Medizin, Philosophie, Soziologie und Geschichte der Medizin in Münster und Berlin. Er wurde in Medizin und Philosophie promoviert und habilitierte sich in Theorie und Geschichte der Medizin in Münster. Autor zahlreicher Bücher, u.a. Zeitenhandel. Über die Kunst der Prävention, erschienen 2023.