Ernst Blochs Philosophie der Hoffnung
Hoffnung spielt im menschlichen Leben eine große Rolle. Doch die Philosophie entdeckte diese vitale Kraft erst mit Ernst Bloch. Peter Vollbrecht über das „Prinzip Hoffnung“ in der Philosophie Blochs, Sozialutopien und die Kunst des Tagträumens hin zu einer besseren Welt.
Früher verabschiedeten sich die TV-Nachrichten von ihrem Publikum mit einem »Guten Abend« oder auch persönlicher mit einem »Machen sie es gut!« Seit einiger Zeit heißt es hingegen: »Bleiben sie zuversichtlich!« Es komme also darauf an, durchzuhalten? Steht es so um uns gegenwärtig?
Ja, die vielen Krisen schlagen aufs Gemüt. Machen uns dünnhäutiger und reizbarer. Und weil den Menschen – glücklicherweise! – das Hoffen nicht auszutreiben ist, werden sie leichte Beute für die Ideologen.
Hoffen können macht uns resilient und verführungsanfällig zugleich. Es komme also darauf an, so verkündete schon vor achtzig Jahren der Hoffnungsphilosoph Ernst Bloch, das Hoffen zu lernen. Um bloße Phantasmen von soliden Hoffnungen unterscheiden zu lernen.
Eine charismatische Persönlichkeit
Ernst Blochs Lebenswerk kreist um das Noch-nicht. Es begann mit seinem Frühwerk Geist der Utopie, das er, 1885 in der Arbeiterstadt Ludwigshafen geboren, als 33-Jähriger publizierte. Dann schrieb er das monumentale 1600-Seiten-Hauptwerk Prinzip Hoffnung. Kurz vor seinem Tod, im Alter von 90 Jahren, veröffentlichte er das Experimentum Mundi . Alles eine große, weltliterarisch einzigartige Einübung in die vitalen Kräfte des Utopischen.
Seinem Gesicht sieht man das Ringen mit der Hoffnung und ihrer treuen Weggefährtin, der Enttäuschung, an. In die kantige Lineatur kerben sich der Glanz wie auch die Katastrophen des Zwanzigsten Jahrhunderts: die intellektuellen jüdischen Zirkel der Zwanziger Jahre, denen sich Bloch in Berlin anschloss, das Exil in Zürich, Wien, Paris, Prag und schließlich New York.
Dann kehrte er in die neue Wahlheimat DDR zurück mit der Professur in Leipzig, dem kurz darauf verhängten Lehr- und Publikationsverbot wegen mangelnder Parteitreue, die Übersiedelung nach Tübingen und der späte Ruhm seiner spektakulären Vorlesungen dort.
Eine Enzyklopädie der Hoffnungen
Der Mensch ist das hoffende Wesen. Doch wie kommt es, dass die Philosophie über die Jahrtausende hinweg der Hoffnung die kalte Schulter gezeigt hat? Darüber staunte Ernst Bloch und machte sich daran, die Lücke zu füllen.
Über drei Bände hinweg versammelt er Hoffnungsgestalten aus den Märchen, den Jahrmärkten, dem Zirkus, der Pantomime, aus Film und Variété, Oper und Mythologie, den Wunschlandschaften der Malerei und den Sphären der Musik, den Erlösungsphantasien der Religion, den Sozialutopien, den erotischen literarischen Stimmlagen und aus vielem, vielem anderen mehr.
Und man kann aus dem heutigen Bewusstsein ergänzen: die künstlichen medialen Welten, die touristischen Sehnsüchte – ach, es findet kein Ende damit! Elf Stunden täglich, so berichtet Ernst Bloch, habe er während seines Exils am Prinzip Hoffnung geschrieben.
Mit wahrer Besessenheit hat er der Nachwelt die umfassendste Enzyklopädie der Hoffnungen hinterlassen. Aus ihren Farben entsteht Blochs Hoffnungslehre, die Docta spes: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«
Am Nullpunkt des Erlebens bildet sich die Zukunft
Das Prinzip Hoffnung versteht sich als eine Philosophie der Hoffnung, auch wenn es sich mitunter sehr erzählerisch gibt. Den Grundgedanken artikuliert Ernst Bloch in der Formel vom »Dunkel des gelebten Augenblicks«.
Niemals, so gibt Ernst Bloch darin zu verstehen, ist das Jetzt, die unmittelbare Gegenwart, gut beleuchtet. In der Regel begreifen wir erst in Nachhinein deren Bedeutung. Die Laterne wirft ihr Licht auf die Umgebung, der Laternenpfahl dagegen verbleibt im Dunkel. Doch am Nullpunkt unseres Erlebens bildet sich schon Zukunft. Da scheint im bloßen Jetzt schon ein Morgen auf.
Hoffnungen werden in den Köpfen geboren, sie müssen aber auch da draußen in der Welt ihre Chance haben. Die Docta spes, die Lehre von der Hoffnung, tut sich also um im Noch-nicht-Bewusstsein und im Noch-nicht-Sein. Auf diesen beiden Bühnen geben die Hoffnungen ihren Auftritt.
Tagträume der Hoffnung
Den alltäglichsten nehmen sie in den Tagträumen, denn jeder Mensch träumt auch am Tage. »Träumt einer, so bleibt er niemals auf der Stelle stehen.« In poetischen Miniaturen zeichnet Bloch sie nach. Die Leser werden sich darin erkennen oder auch nicht, denn in den imaginierten Welten spiegeln sich Zeitgeist und biographische Erfahrungswelten.
Kinder tagträumen anderes als die Erwachsenen, und das Alter assoziiert auf seine spezifische Weise. Tagträume eröffnen einen weiteren, unkonventionellen und bislang ungebahnten Zugang zum Menschen selbst.
Macht und Ohnmacht der Utopien
In den Tagträumen leben Hoffnungen auf, selten allerdings betreffen sie mehr als die eigene Person. Aber in ihnen wohnt ein Veränderungswunsch, sie bearbeiten imaginär Zukünftiges. Und so schlummert in ihnen – anders als in den Nachtträumen, die lediglich Vergangenes aufarbeiten – eine politische Potenz.
In den Sozialutopien der frühen Neuzeit hatten sich die schwebenden Hoffnungsgestalten erstmals direkt politisch artikuliert (eine Ausnahme bildet allerdings Platons Politeia). Seefahrer, so die beliebte Rahmenhandlung, berichten ihrem staunenden Publikum von einer besseren Welt auf Inseln fern draußen im Ozean.
Dort kennt das gesellschaftliche Leben kein Eigentum und keine Fronarbeit, alles wird in kommunistischer Seligkeit erarbeitet, der Arbeitstag währt nicht länger als vier bis sechs Stunden. Jede und jeder geht den Rest des Tages seinen Bedürfnissen nach in dieser Welt der Gleichheit und des Friedens.
Ernst Bloch betrachtet sie genau, diese frühsozialistischen literarischen Experimente. Auch sie gehören dem Geschichtsprozess an, »auch Utopien haben ihren Fahrplan«. So ist Thomas Morus‘ Gemeinschaft der Utopier typisch britisch, denn sie prämiert den Freihandel und den politischen Liberalismus.
Bloch unterhält ein ambivalentes Verhältnis zu den Sozialutopien. Zweifelsohne sind sie Leuchttürme der Hoffnung. Darin besteht ihr Wert. Doch zur politischen Praxis ist es noch ein weiter Weg, denn die Utopien stehen auf keinem soliden Unterbau – wendet der Marxist Ernst Bloch ein.
Es fehle an theoretischer Expertise, an einer sozioökonomischen Gesellschaftsanalyse. Und die werde erst der Marxismus beisteuern. Erst dann reifen die Utopien zur Revolution heran. Erst dann langt das Noch-nicht-Bewusstsein aus zum Noch-nicht-Sein. Erst dann können die bürgerlichen Ideale, die religiösen Anschauungen und die Kunstwerke ihre Hoffnungspotenziale politisch einlösen.
Blochs marxistische Hoffnungen und der Mauerbau
Wir können heute wohl nicht mehr das Hohelied mitsummen, das Ernst Bloch auf die marxistische Philosophie anstimmt. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern«, behauptet Karl Marx in seiner berühmten elften Feuerbachthese, der Ernst Bloch ein ganzes Kapitel widmet. Allein der Marxismus-Leninismus überwinde den Abstand von Theorie und Praxis und gebiert das Noch-nicht-Sein aus dem Noch-nicht-Bewusstsein.
Da segelt der Marxist Ernst Bloch mitunter hart am dogmatischen Wind. Doch der Lauf von einem Hoffnungsbewusstsein zu einer Hoffnungsontologie bleibt nur eine Behauptung – eine Hoffnung vielleicht.
Am 13. August 1961 wurde sie enttäuscht, als DDR ihre Bevölkerung hinter der Berliner Mauer im realexistierenden Sozialismus einsperrte. Ernst Bloch war in jenen Tagen auf Vortragsreise in der Bundesrepublik und zog es vor, seine Hoffnungen im Westen zu suchen. Er ging nach Tübingen in die Stadt des frühromantischen Aufbruchs.
Literaturhinweise:
- Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände, Frankfurt 1985
- Ernst Bloch: Spuren. Frankfurt 1985
- Rainer Traub/Harald Wieser (Hg): Gespräche mit Ernst Bloch. Frankfurt 1975
- Rainer E. Zimmermann (Hg): Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. (Reihe Klassiker auslegen) Berlin 2017