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Philosophische Kolumne

Zweifellos würde die Gegenwart einen besonderen Rang bei den Psychotechniken des Wegschauens bekleiden. Denn sie muss ihre hohen ethischen Standards, derer sich der zivilisatorische Westen brüstet, mit ihren skandalösen Praktiken befrieden, von denen es mindestens vier gibt.

Da sind zu nennen: die Agrarpolitik, die die afrikanische Landwirtschaft in die Knie zwingt; der Waffenhandel, der seine Gewinne aus dem Export von Kriegen zieht; der Ressourcenhunger, der die Naturräume vergiftet; und schließlich die Flüchtlingspolitik, die den Migrationsdruck in menschenunwürdigen Lagern aufstaut.

Vor vierhundert Jahren forderte Galileo Galilei die Philosophen der Universität Padua auf, durch sein selbstgebautes Fernrohr zu schauen, um die Jupitermonde zu betrachten. Nicht weniger als das letzte kosmologische Privileg der Erde stand auf dem Spiel. Denn auch wenn unter den Gelehrten Europas weitgehend Einigkeit herrschte, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht, so könne sich wenigstens kein anderer Himmelskörper mit einem Mond schmücken.

Doch nun – die Monde des Jupiter. Nein, die Philosophieprofessoren verweigerten den Blick durch das Fernrohr mit dem pfiffigen Argument, die Monde seien doch nur im Teleskop, nicht aber am Himmel, Galilei sei ein Betrüger. Eine hübsche Anekdote, kolportiert von Hans Blumenberg, der so intensiv über den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit geforscht hat wie kein Zweiter:

»Dass man sich weigern kann zu sehen und leugnen kann, gesehen zu haben, und bestreiten, je sehen zu können, und wünschen, nicht sehen zu brauchen, wurde als menschliche und geschichtliche Möglichkeit durch das Angebot des Fernrohres zum ersten Mal akute und bestürzende Gegebenheit.«

Es wäre gewiss lohnend, eine kleine Kulturgeschichte des Wegsehens zu verfassen. Welche Stationen man dabei auch beschreiben würde – interkulturell müsste man dabei vorgehen und die Konformitätspotenziale anderer Zivilisationen einbeziehen – , zweifellos würde die Gegenwart einen besonderen Rang bei den Psychotechniken des Wegschauens bekleiden.

Denn sie muss ihre hohen ethischen Standards, derer sich der zivilisatorische Westen brüstet, mit ihren skandalösen Praktiken befrieden, von denen es mindestens vier gibt: die Agrarpolitik, die die afrikanische Landwirtschaft in die Knie zwingt; der Waffenhandel, der seine Gewinne aus dem Export von Kriegen zieht; der Ressourcenhunger, der die Naturräume vergiftet und neue Sklavenstände schafft; und schließlich die Flüchtlingspolitik, die den Migrationsdruck in Lagern aufstaut, in denen ein menschenwürdiges Leben nicht mehr möglich ist.

Wenn sich, was immer mal wieder vorkommt, Besucherinnen und Besucher, eine Politikerin etwa, oder ein Sprecher einer humanitären Hilfsorganisation oder eine sonstwie öffentliche Person über die Zustände im Lager Moria auf Lesbos vor laufender Kamera äußern, dann flimmern Bilder geschockter Gesichter auf unsere Monitore.

Und unisono der Tenor: solche Verhältnisse habe man in der langen Karriere als Politiker, als Journalistin, als Aktivistin noch nicht gesehen. Das Elend rückt uns visuell förmlich auf den Leib, nein: es dringt tief in unseren seelischen Haushalt ein und ruft uns zu menschlicher Solidarität auf. Was tun? Abschalten und uns weigern, zu sehen?

Vor fünf Tagen ist das Flüchtlingslager Moria abgebrannt. Es war, so insistieren Bundestagsabgeordnete der AfD, Brandstiftung, begangen von den Flüchtlingen selbst. Ein illegaler Akt von Brandstiftern, so insinuieren sie, und würden wir sie aufnehmen, so trieben sie ihr brandschatzendes Geschäft hier weiter. Das wolle das deutsche Volk nicht.

An Infamie ist diese Projektion kaum zu überbieten, unterstellt sie doch ein gleiches Handeln in unvergleichbaren Lebenswelten, was entweder boshaft oder dumm ist, wahrscheinlich aber eine Mischung aus beidem. Eher sollte man den Brand als Verzweiflungstat ansehen, mit dem die Flüchtlinge auf die Kultur des Wegschauens reagieren, als ultima ratio eines Handelns,das die eigene Selbstvernichtung inszenieren muss, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden.

Erbärmlich und zutiefst beschämend die Reaktion der Politik: Deutschland wolle 100 bis 200 Kinder evakuieren, Frankreich ebenso, mehr aber sei nicht drin, und dann folgt wie stets in den letzten Jahren das Mantra von der europäischen Lösung.

Darin liegt eine gewisse Logik, allein, die europäische Lösung der Asylpolitik kommt nicht durch Interviews, sondern nur durch eine Öffentlichkeitsoffensive, vor der maßgebliche Kreise der Politik aus dem Spektrum der christlichen Parteien zurückscheuen, weil man um das eigene Wählerklientel fürchtet.

Dabei sind größere Teile der Bürgerschaft zu humanitären Gesten bereit, was eindrücklich die Initiativen der Städte Bielefeld, Düsseldorf, Freiburg, Gießen, Göttingen, Hannover, Köln, Krefeld, Oldenburg und Potsdam zeigen, deren Stadtoberhäupter Briefe an die Kanzlerin und den Bundesinnenminister geschickt haben. Doch Seehofers Nein hallt durch die Republik, kaum wahrgenommen und diskutiert, man ist von Corona-Sorgen absorbiert.

Ein stolzes Selbstverständnis unserer Kultur lautet: Die Stimmen von Philosophie, Literatur und Publizistik, ja des Kunst- und Kulturbetriebes im Ganzen pumpen das humanitäre Blut durch die Arterien der Gesellschaft, flankiert von einer wertorientierten Rechtsordnung. Die bittere Realität sieht heute anders aus. Unter dem Diktat der gewinnorientierten Märkte sind die geistigen Gefäße nämlich schon stark verkalkt.

Die Gesellschaft entwickelt sich in ihren politisch schweigenden Hauptpartien zu einer autistischen Echokammer, die nur noch auf ihre eigenen Bedürfnisse achtet. Für das Leid derer, die Krieg und Umweltzerstörung aus ihrer Heimat getrieben haben, hat sie kein Ohr und übt sich in der Kunst des Wegsehens. Gerade in einem Land wie dem unsrigen, wo Politik mit Wirtschaft fast gleichzusetzen ist, klingt das Wort vom Wirtschaftsflüchtling, dem man kein politisches Asyl gewähren könne, frivol. Boshaft oder nur dumm? Wahrscheinlich beides.

Es mag eine Aufgabe der Psychologen bleiben zu erforschen, welche mentalen Auswirkungen die Kunst des Wegschauens auf die individuelle Psyche hat. Die gesellschaftliche Seelenlage äußert sich dagegen in einem öffentlichen Text. Der ist lesbar, für alle, die lesen können. Nein, es muss heißen: die ihn lesen wollen. Die Voraussetzung dazu: nicht wegsehen wollen.

Peter Vollbrecht, 15. September 2020

Peter Vollbrecht ist Lektor an der Universität of Delhi, Buchautor und Initiator von Verknüpfungen zwischen Philosophie und Leben. So gründete er 1997 das „Philosophische Forum Esslingen“ und leitet seit 2006 in Kooperation mit der Zeitung Die ZEIT philosophische ZEIT Reisen. Sein Roman „Ich bin allein wirklich. Die Philosophie und das launige Leben“ ist 2017 bei Klöpfer & Meyer erschienen. Sein philosophisches Programm zu finden auf www.philosophisches-forum.de

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