Erfahrungen bei der Begleitung einer Sterbenden
Autor Mike Kauschke begleitete seine Mutter in den letzten Stunden ihres Lebens. Dabei knüpfte er an meditative Erfahrungen an, einfach da zu sein mit dem, was ist. Er fand dafür das Bild „Brücke sein“, sich zu öffnen für etwas Größeres, das Leben und Sterben umfasst. Auch im Alltag können wir eine Brücke sein, etwa indem wir anderen zuhören und Trennendes überwinden.
Als vor einiger Zeit meine Mutter starb, machte ich eine Erfahrung, die mich seitdem begleitet. Ich stand an ihrem Bett auf der Intensivstation inmitten der Geräte.
Die Ärzte hatten geraten, alle lebensverlängernden therapeutischen Maßnahmen einzustellen.
Meine Mutter wurde aber weiter beatmet, erhielt Medikamente zur Schmerzlinderung und Beruhigung. Mit dieser Entscheidung wurde ihr Sterben eingeleitet, weil die Komplikation nach einer Operation keine Hoffnung auf ein Weiterleben mehr zuließ.
Ich blieb bei ihr und spürte, wie sich ihr Körper veränderte. Sie wurde noch einmal etwas wacher, schien mich zu spüren, vielleicht auch zu hören. Ich hielt ihre Hand, berührte ihre Stirn, sprach zu ihr. Sammelte all meine Präsenz, Gegenwärtigkeit, all mein Lebensvertrauen, um ihr auf diesem letzten Weg zur Seite zu stehen.
Die Offenheit, das Vertrauen in ein größeres, uns umfassendes Sein, die Wirklichkeit unseres freien, offenen, liebenden Bewusstseins, jenseits aller Identitäten, Identifikationen, Gedanken und Bilder, das ich in vielen Stunden der Meditation immer wieder etwas mehr freigelegt hatte – mit all dem wollte ich jetzt für sie, mit ihr da sein.
Und im Laufe dieser Stunden hatte ich zunehmend das Gefühl, auf diesem Weg eine Brücke zu sein. Für das innere Leuchten, die Weite und Offenheit des Geistes, die ich in diesem Prozess des Sterbens anwesend spürte, wollte ich Brücke sein.
Vertrauen in etwas Größeres
In meiner Arbeit im Hospiz hatte ich es immer wieder erlebt, dass die vertrauensvolle, zugewandte Anwesenheit eine Brücke des Vertrauens sein kann.
So kann auch dieser Moment des vollkommenen Loslassens dieses Lebens – mit allem, was es für denjenigen Menschen bedeutet hat – zuinnerst aufgehoben ist im Mysterium des Lebens, von dem wir ein unauslöschlicher Teil sind.
All meine Erfahrungen in der Begleitung Sterbender und in der Meditation flossen in diesem Moment zusammen, als ich meiner Mutter, die für mich Brücke in mein Leben war, auf dem Weg aus ihrem Leben begleitete.
Und als ich so mit ihr war, spürte ich, wie sich mein Geist, mein Herz weitete, wie ich in Berührung kam mit diesem fraglosen Vertrauen in ein größeres Leben, das auch das Sterben umfasst.
Ein Sterben, dass nicht das Ende des Lebens, sondern seine Vollendung und Freigabe in einen weiteren Prozess des Werdens und Vergehens ist, in dem wir alle eingeflochten sind. Meine Ahnung des geistigen Raums, in den sie nun als Sterbende hineingenommen wird, wurde vielleicht zur Brücke für sie, um diesen Weg hoffentlich mit etwas mehr Gelöstheit zu gehen.
Sich in die Offenheit hineingeben
Ich fühlte mich als Brücke, als Geleit und darin auf merkwürdige Weise auch dieser geistigen Anwesenheit, die ich wie von der anderen Seite herüberschimmern spürte, verpflichtet. In mir war ein Empfinden, dass nun hier all meine Inspirationen und auch Mühen auf einem meditativen, spirituellen Weg, ihre Frucht hervorbrachten.
Oder es war einfach der Zeitpunkt, wo ich angerufen wurde, wie von einer geistigen Instanz in mir und in allem, jetzt da zu sein, jetzt eine Brücke zu sein und zu bilden.
Ausgespannt zwischen diesem Moment, in dem meine Mutter in ihren letzten Atemzügen durch das Loslassen aus diesem Leben ging, und der Öffnung, der Befreiung, dem Eingang in ein liebendes Licht, das ich ahnend spüren konnte.
Und als ich so einige Stunden bei ihr war, spürte ich, wie diese Präsenz der anderen Seite zunahm in ihrer Leuchtkraft. Wie meine Mutter sich zunehmend in diese Offenheit hineingeben konnte. Manchmal stoppte ihr Atem schon für einige Sekunden.
Und nach einer Weile hatte ich das Gefühl, dass sie über die Schwelle gegangen ist, schon hineingegangen in den weiten Raum, sich ihre seelische Anwesenheit in den Raum öffnete.
Obwohl die Beatmungsmaschine weiterhin dafür sorgte, dass sie atmete, hatte ich das Gefühl, dass sie innerlich hinübergegangen ist. Einige Stunden später ging sie dann vollends über die Schwelle und starb.
Das Leben als Einheit erfahren
Dieses Empfinden, eine Brücke sein zu können, ließ mich nicht mehr los. Einander Brücke zu sein, so scheint mir, ist eine wundervolle Möglichkeit unseres Menschseins. Hebammen und Sterbebegleiter bilden und bewohnen ganz existenziell solche Brücken, die das Leben mit dem Sterben, die Geburt mit dem Leben verbinden. Auch deshalb sind sie dem Wesen des Lebens nahe.
Und, so entfaltete sich meine Reflexion weiter, es gibt noch viele andere Brücken, bei denen es immer um die Verbindung der vielen Dimensionen unserer Wirklichkeit geht. Und immer dann, wenn diese Verbindungen spürbar werden, erfahren wir die Ganzheit, die Einheit des Lebens.
Brücken bilden auch Beziehungen zwischen uns Menschen. Sie ermöglichen Verständigung und Begegnung über alle Unterschiede hinweg. Brücken verbinden uns zudem mit dem Erlebten der Vergangenheit, den Möglichkeiten der Zukunft. Brückenbauer verbinden verschiedene Kontinente, Sichtweisen, Nationalitäten, Interessen, Bedürfnisse. Brücken ermöglichen Frieden.
In einem Gespräch zur Frage „Wie befreien wir uns vom Hass?“ erklärte die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur, dass in einem Krieg zuerst die Brückenbauer angegriffen werden. Sie widerstehen der Trennung, in der wir uns von den anderen oder dem anderen abspalten.
Sie halten die Brücken offen und damit auch die Hoffnung auf Verstehen, Versöhnung, Vergebung und Frieden. Deshalb brauchen wir heute in einer Zeit zunehmender Brüche, Fragmentierungen und Polarisierungen die Brückenbauer so dringend.
Wir brauchen mehr Brückenbauer
Solche Menschen künden von Möglichkeiten des Menschseins, die noch nicht vollkommen eingelöst sind. Sie bilden Brücken in eine mögliche Zukunft.
In Dialogen schimmern manchmal Möglichkeiten, Einheit zu stiften, auf. Trotz unterschiedlicher Sichtweisen ist ein gemeinsamer Raum der Verbundenheit anwesend. Eine Möglichkeit des Friedens.
Die Demokratieaktivsitin Claudine Nierth erzählte mir von Begegnungen bei dem Projekt „Brandenburg-Dialoge“, bei denen Menschen mit völlig verschiedenen Sichtweisen und politischen Interessen zusammenkommen. Sie sprechen miteinander, obwohl sie dachten, dass die Brücken unwiederbringlich zerstört waren.
Indem sie einander zuhören, entstand zumindest wieder eine Möglichkeit des Verstehens.
Inmitten einer Gegenwart, die hoffnungslos erscheinen kann, sind solche Erfahrungen wie ein Ruf aus einer noch möglichen Zukunft. Ein offener Raum, der Hoffnung lebendig werden lässt. Und mich aufruft, mit meinem Leben eine Brücke zu dieser Möglichkeit zu sein. Da, wo ich bin.
Viele Menschen machen Erfahrungen, die uns die Brücken in die Tiefe, ins Herz der Schöpfung eröffnen, sei es in der Meditation, im Gebet, in der Natur, in künstlerischen Prozessen oder an den existenziellen Grenzen von Geburt, Verlust, Krankheit und Tod.
Es gab immer Menschen, die diese Brücken zum Göttlichen – oder wie man den Urgrund unseres Seins auch immer nennen will – gebaut und eröffnet haben. Mystiker in allen Traditionen waren und sind solche Brückenbauer zum Wesentlichen, zum Unbekannten, zum größeren Ganzen.
Auch Dichter und Künstlerinnen verstehe ich als solche Brückengestalter, weil sie mit Worten und Werken nicht erklären oder benennen wollen, sondern Resonanzräume öffnen. Sie schaffen die Sprache und die Bilder, die zu Brücken zwischen uns werden können.
Mir scheint, es ist an der Zeit für einen Aufbruch der Brückenbauer, wo immer wir auch an dem verbindenden Gewebe mitarbeiten, das letztlich unser Menschsein möglich und zukunftsfähig macht. Einander Brücke sein. Die Wege und Möglichkeiten dazu sind unerschöpflich:
Über den Fluss
Der uns trennt
Leben spenden
Ufer verbinden
Einander Brücke sein
Über den Fluss
Der uns eint