Eindrücke von Gesprächen mit Palästinensern
Das Westjordanland ist nur fünf Minuten Autofahrt von Israel entfernt. Johannes Zang war im Frühjahr 2025 dort und sprach mit Palästinensern. Hier schildert er seine Eindrücke: von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, von Standhaftigkeit und Ratlosigkeit, von Zweckoptimismus und Zuversicht.
Text: Johannes Zang
„Vor Reisen in den Gazastreifen und in das Westjordanland wird gewarnt“, so die Empfehlung des Auswärtigen Amtes Mitte April 2025. Genau dahin bin ich unterwegs – im 26-Minuten-Schnellzug vom Flughafen Tel Aviv nach Jerusalem.
Bunter geht’s wohl nicht: Da sitzen leichtbekleidete, tätowierte junge Israelinnen neben ultraorthodoxen Juden mit Pelzhüten und mehreren Kindern, deren Ehefrauen ihre Haare wie üblich unter einer Haube verbergen.
Fünf Meter weiter legt sich ein junger Frommer vor aller Augen die Gebetsriemen Tefillin an, dazwischen Touristen mit Riesenkoffern, während blutjunge Soldatinnen und Soldaten, in der Linken das Handy, in der Rechten eine Cola, die sich einen Weg durch den Waggon bahnen und bisweilen mit dem Gewehr an einem sitzenden Passagier hängenbleiben …
Kommen sie gerade aus Gaza? Oder werden sie bald dort kämpfen? Wissen sie von dem Bericht „The Perimeter – eine Geschichte der totalen Auslöschung“, den die israelischen Veteranen der Organisation „Breaking the Silence“ vor wenigen Tagen herausgegeben haben?
In dem Bericht kommen in Gaza eingesetzte israelische Soldaten zu Wort, die über ihren Befehl berichtet haben, eine bis zu 1500 Meter breite Pufferzone (Perimeter) zwischen Gaza und dem israelischen Grenzgebiet herzustellen.
Es ist die „methodische Massenzerstörung“ von Wohngebäuden, Kuh- und Hühnerställen, erntereifer Blumenkohl-Äckern und Auberginenfeldern für einen 1.500 Meter breiten Streifen zwischen Gaza und Israel. Damit wird ein Drittel allen landwirtschaftlichen Landes des Gazastreifens zunichte gemacht. Ein Stabsfeldwebel, um eine Beschreibung gebeten, urteilte: „wie Hiroshima“.
Westjordanland – nur fünf Minuten Luftlinie von Jerusalem
Der übervolle Zug ist in Jerusalem angekommen. Alles strömt nun den Rolltreppen zu. Ein Taxi bringt mich in etwa 20 Minuten durch den Feierabendverkehr Westjerusalems zum Kontrollpunkt 300 an der israelischen Sperranlage mit den vielen Namen: Sicherheitszaun, Landraubmauer, Apartheid- und Annexionswall.
Der Kontrollterminal, ein Gebäude mit Handscannern, Metalldetektoren, Röntgengeräten und Drehkreuzen, lässt sich in der Richtung Israel – Westjordanland in zwei Minuten durchqueren. In entgegengesetzter Richtung, wenn palästinensische Arbeiter morgens auf dem Weg nach Israel sind, verbringen sie oft ein bis zwei Stunden in diesem Gebäude.
Für uns geht es schnell, und schon sind wir „drüben“, in Bethlehem. Eine Woche lang werde ich hier wohnen und von hier aus starten – zu Interviews in der Geburtsstadt Jesu und den Nachbarorten Beit Sahour und Beit Jala, nach Jerusalem und Ramallah und zu benachbarten Dörfern wie Bethanien.
Drei palästinensische Christen, auf die ich dort in einem christlichen Wohnprojekt unweit des Lazarus-Grabs treffe, sind misstrauisch und haben Angst vor möglichen Folgen eines Interviews. Ich kann die Bedenken nicht zerstreuen und muss auf ein Interview verzichten.
Am selben Tag veröffentlicht die israelische Ha´aretz eine Untersuchung des israelischen aChord-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem unter circa 1.600 jüdischen und arabischen Oberstufenschülern.
Ergebnis: 51 Prozent der jüdischen Jugendlichen hassen Araber, während ein Drittel der arabischen Befragten Juden hassen.
„Am 7. Oktober zerbrach meine Welt“
In Bethlehem interviewe ich am Abend George Sa´adeh. Seine Tochter Christine wurde 2003, während der zweiten Intifada, von einem israelischen Spezialkommando, das auf ein Auto mit Hamas-Leuten wartete, versehentlich erschossen.
„Wie lange hast du gebraucht, bis du vergeben konntest?“, ist eine meiner Fragen an ihn. George, der damals mit neun Kugeln schwer verletzt wurde. Er ist nun Anfang 60 und Rektor einer christlichen Schule: „Augenblicklich. Wenn ich ein echter Christ bin, dann vergebe ich.“
Sa´adeh schloss sich dem Parents Circle – Family Forum, einem Zusammenschluss von israelischen und palästinensischen Hinterbliebenen, die alle einen Verwandten verloren haben, sich für Frieden und Versöhnung einsetzen und in israelischen und palästinensischen Schulen davon berichten.
Dieser „Elternkreis“ veranstaltete kürzlich die 20. Gedenkzeremonie für alle Opfer des Konflikts. Wie alljährlich erklang Musik von Israelis und Palästinensern, teilten Hinterbliebene ihre Leidensgeschichte und ihren Weg zum Friedensengagement mit.
Eine von ihnen ist Liat Atsili vom Kibbutz Nir Oz. Die Lehrerin, Mutter von drei Kindern, wurde selbst verschleppt und verlor ihren Mann Aviv, mit dem sie 30 Jahre verheiratet war. „Am 7. Oktober zerbrach meine Welt, der Anker meines Lebens wurde entwurzelt.“
Dann beschreibt sie den geliebten Mann, seinen Beruf, seine Hobbies, seine Liebe zur Natur. Ihre Schlussbotschaft lautet: „Dem anderen ins Gesicht zu schauen, ohne Erwartungen, öffnet einem die Tür zur Verantwortung; einer Verantwortlichkeit, die Freiheit verkörpert. Diese Freiheit ist vielleicht eine schwere Bürde, aber das einzige, was Frieden zwischen Völkern stiften und beitragen kann, eine moralische, gerechte Gesellschaft zu bauen.“
“Wir geben nicht klein bei”
Dieser Friedensgruppe sowie fast 30 anderen drohen nun drastische Kürzungen, wenn nicht gar das Ende der finanziellen Unterstützung, weil die US-Regierung die Mittel für friedensfördernde Projekte gekürzt hat. Ein Fonds, nach der kürzlich verstorbenen jüdischen Demokratin Nita M. Lowey Middle East Partnership for Peace Act genannt, kurz MEPPA, wird von USAID verwaltet.
Dan McDonald, der die MEPPA-Umsetzung bei USAID von Anbeginn begleitete und überwachte, erklärt, es habe Jahre gebraucht, MEPPA „durchzukriegen und da kam es keinem in den Sinn, dass das durch den Präsidenten beendet werden könnte.“ Jahre habe es gedauert, Strukturen aufzubauen, und nun mitansehen zu müssen, „wie das in wenigen Augenblicken in Stücke gehauen wird, ist eine von derzeit vielen globalen Tragödien.“
Im Schnellzug geht es nach einer Woche schließlich zum Flughafen zurück: Im Gepäck verstaut liegen 21 Kilogramm Olivenholzherzen für den Bischof von Würzburg und über 20 Botschaften palästinensischer Christen, die von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zeugen, von Standhaftigkeit und Ratlosigkeit, von Zweckoptimismus und Zuversicht.
Aber auch Gespräche sind haften geblieben mit Palästinensern, die seit fünf Jahren nicht mehr in Jerusalem waren, obwohl sie zehn Autominuten entfernt wohnen, und anderen, die noch nie das Mittelmeer – eine Autostunde entfernt – gesehen haben.
Im roten Zug Made in Germany sind wieder Soldaten. Wissen diese Jugendlichen von den über 240 Soldaten des Refuser Solidarity Network, die gedient haben, desillusioniert zurückkehrten und die sich nun weigern, in diesem Gaza-Krieg zu kämpfen?
Bei Protesten tragen die „Refuseniks“ ein T-Shirt, auf dessen Rückseite die Botschaft prangt: „Man hat eine moralische Verpflichtung, ungerechten Kriegen den Gehorsam zu verweigern.“
Wenige Tage zuvor hat diese Gruppe versichert, dieser Krieg „habe nur das Ziel, das Überleben des Netanyahu-Regimes zu sichern, die Besatzung fortzusetzen und die Palästinenser zu vernichten.“ Trotz Strafen und Einschüchterung seitens der Armee wachse diese Bewegung, höre man ihren Botschaften zu, ändere sich etwas in Israel. „Die Risse in der Mauer werden größer. Wir geben nicht klein bei.“
Erwähnte Organisationen und Medien:
Neta Halperin / Haaretz (engl. Ausgabe): Study: Half of Jewish Israeli teens hate Arabs, but hope remains, 21. April 2025, Artikel in Haaretz
The 20th Joint Memorial Ceremony, 29.4.2025, das zitierte Zeugnis ist ab der 25. Min. zu hören
Deborah Danan: Before Nita Lowey died, Donald Trump eviscerated the $250 M Middle East peace fund named for her, Jewish Telegraphic Agency, 18.3.2025, siehe https://www.jta.org/2025/03/18/united-states/before-nita-lowey-died-donald-trump-eviscerated-the-250m-middle-east-peace-fund-named-for-her