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Philosophische Kolumne

Unerwartete Interpretationen faszinieren mich immer aufs Neue; das bringt das Unerwartete so mit sich. Gerade lese ich Meister Eckhart. Er ist mir Vorbild ohnehin; und hier nun erster Beispielgeber.

Nehmen wir die Erzählung von Maria und Martha aus dem Lukas-Evangelium und staunen wir, wie Meister Eckhart mit der Martha-Figur umgehend, die traditionelle Lesart umkehrt und ein reife Menschlichkeit hervorkehrt: indem er zwar zugibt, dass Maria, die jüngere Schwester, die Jesus zu Füßen sitzt und ihm lauscht, den besseren Teil gewählt habe, nicht aber überhaupt und absolut, wie das die Tradition immer wollte, die stets die vita contemplativa der vita activa vorgezogen hat.

Nein, nur – ein Lob der Differenzen – auf den Entwicklungsstand Mariens bezogen soll der Wortlaut des Textes verstanden werden. Dass Martha Maria zur häuslichen Mitarbeit und Hilfe auffordert, deutet er auch nicht als das eigentliche Bedürfnis Marthas.

Diese, so erkennt der wahre Meister, sorgt sich liebend um das Menschsein der Schwester. Und so besänftigt er die Martha, der es um die geistlich-spirituelle Bildung der Jüngeren geht, sie selbst soll einfach nur zuwarten: Maria werde allmählich auch noch zu einem erwachsen werdenden Christentum hinfinden.

Wir reifen mit der Zeit, durch die Zeit – oder besser: die Zeit ist gewissermaßen ein Fallschirm des Geistes. Im freien und doch noch gebremsten Fall können wir lernen, bis das Hauptwort Liebe zum Tun-Wort gereift ist. Es geht nicht um Liebe, vielmehr um das Lieben, kurz um das Mensch sein.

Nicht nur Geschichten und Erzählungen kann man gleichsam gegen gute Gewohnheiten lesen, sogar einzelne „Worte“. Der sprachsensible Goethe bietet beispielsweise im Faust (der sich wie Eckharts Predigten immer neu zu lesen lohnt) eine ganze Reihe von Übersetzungsmöglichkeiten für den Anfang des Johannesevangeliums.

Ja, was war nun im oder am Anfang? Das Wort, wie man Logos gewöhnlich überträgt? Hier stockt er schon! „Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.“ Doch erneut besinnt er sich. Dass ein Anfang sei, dazu bedarf es doch einer Kraft, nicht wahr? Aber nein, auch der Entschluss gehört dazu. „Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat / Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“

Inzwischen aber ist es – durch allerhand Tätlichkeiten, weniger durch tätig sein – so weit gekommen, dass es vielleicht doch hilfreich wäre, bei einer der von ihm ausgemusterten Wendungen noch länger zu verweilen: „Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen“ – das nehme ich Goethe nicht übel, wenigstens dem Monologiker nicht. Ja, er war ein Mono-Logiker.

Als er Verse von Marianne von Willemer in seinen Divan aufgenommen hatte, ohne deren Herkunft aus dem Denken und Dichten der Herzallerliebsten zu bezeichnen, hat er Plagiatsvorwürfe mit dem Hinweis gekontert, dass ohne die Begegnung mit ihm, dem Genius, dieses Mädchen niemals darauf gekommen wäre, so zu dichten – und also eben doch er als der eigentliche Autor höchstselbst und in Person anzusehen sei.

Diese „Idiotie“ – wie Byung-Chul Han das Wort, wiederum faszinierend, ganz positiv gemeint ins Spiel bringt – war Goethes Stärke, wie schon Schiller erkannte. Aber deshalb wird Goethe entgangen sein, was nun „Logos“ auch noch heißen kann, nämlich nicht nur Wort, sondern Wortgeschehen, das wir üblicherweise als Wechselrede oder auch Gespräch bezeichnen.

Im Anfang: das Gespräch. Aber kein Dialog, der bloß ein Durchsprechen wäre; kein Dialog zur Wahrheitsermittlung, schon gar nicht ein agonaler, eristischer oder auch nur pädagogisch-strategischer. Nein. Einfacher und schöner und ehrlicher: Gespräch.

Wer sich darauf einlässt, wird sich nicht wundern, dass der schöpferische, christlich gedachte Gott dreifaltiger Einer ist. Aus dem innersten Gespräch der Gottheit heraus die ganze Welt, zuletzt ein Wortgeschehen und ausgefaltet auf das Gespräch hin.

Mit der Idee, dass im Anfang das Gespräch die Menschen (ein-)„führt“, lässt sich leicht verbinden, dass Menschen anfänglich im Plural da sind und dass Menschen Mit-Menschen sind.

Im Gelingensfall sind sie unterschieden und ungleich, aber gerecht und friedenstiftend. Der Mensch in der Einzahl ist eine Abstraktion, so sehr das Ich für sich sein darf und soll, ja muss, um dem Du begegnen zu können.

Doch die wirkliche Wirklichkeit – das ist nun ein Zufall unserer deutschen Sprache – schreibt sich anfänglich aus den Buchstaben Wir… Wer oder was meint Wir? Jedenfalls nicht die erste Person im Plural, denn das wären doch Ich und Ich und Ich, also Iche! Ein Heer von Idioten?

Idiotien gibt es viele; deshalb insistiere ich in einer Zeit der Stimmungen umso mehr auf dem Logos, der die Stimme trägt und um dessentwillen sie erhoben wird.

Gerade heute ist das Wort zu schätzen, wenn die Alternative das Handgreifliche ist und die Hände Fäuste bilden. Faustisch in vielerlei Hinsicht ist diese Welt.

Wie schön aber konnte es Hölderlin, den man für verrückt hielt, sagen: „Und der Vater thront nimmer oben allein. / Viel hat erfahren der Mensch, / Der Himmlischen viele genannt, / Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander.“ Kein Monarch, kein Tyrann – einfach Mit-sein. Daher auch kein Oben und Unten mehr. Mit Erich Fried: „Sage nicht: hier herrscht Freiheit. Freiheit herrscht nicht.“

Ein letzter Gedanke dazu, wieder eine kleine überraschende Entdeckung, zuguter letzt der Anstoß de Gedankenreihe: Ich war gerade bei einem Gespräch zugegen, das handelte von einem Buch mit dem Titel Gut Mensch sein. Wie sehr wird da von manchen Leuten wieder auf eine Praxis geschaut, diesmal eher in der (vermeintlichen) Spur Marthas.

Doch ist nicht von guten Menschen die Rede im Sinn der ethischen Forderung. Es geht um viel weniger, was aber viel mehr bedeuten kann: nicht um Güte oder Gutheit zunächst, sondern schlicht ums Mensch sein.

Der Autor, Gernot Böhme, hat ganz recht verstanden: Um ein guter Mensch zu sein, muss man zuvor sich darum bemühen, überhaupt Mensch zu sein. Woran es offenkundig mangelt: wir sind in aller Regel nur schlecht und recht Mensch.

Kaum zu glauben: überhaupt Mensch sein – das wärs? Ja, für den Anfang jedenfalls. So leicht scheint das eben nicht zu sein, wie die Leidensgeschichten lehren. Mensch sein gelingt, wenn wir uns mit uns auskennen lernen (wollen).

Andernfalls ist alles Moralische in Gefahr, geheuchelt zu sein. Friedfertiger müssten sie daherkommen, die „guten“ Menschen, dass man ihrer Güte vertrauen könnte, freundlicher, offener, geduldiger. Doch wer weiß schon, was ihm alles fehlt… – wir inbegriffen.

Thomas Gutknecht, 3. Februar 2017

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