Interview mit Buchautorin Jessica J. Alexander
„Dänemark ist das beste Land, um Kinder großzuziehen“, sagt Autorin Jessica Alexander. In Dänemark gebe es mehr Empathie, Respekt und Unterstützung für Eltern. Zudem lasse weniger Leistungsdruck und Stress Familien mehr Raum für Regeneration, inneres Wachstum und eine gute Bindung.
Das Gespräch führte Maria Köpf
Frage: Eine Studienbefragung aus dem Jahr 2021 belegt, dass Eltern in Frankreich, Polen, Belgien und in der Schweiz prozentual am stärksten von einem Elternburnout betroffen sind. Hat Sie dies überrascht?
Jessica Joelle Alexander: Ja, das überrascht mich, denn ich hatte immer das Gefühl, dass Elternschaft beispielsweise in der Schweiz relativ entspannt verläuft.
Sie sind in den USA aufgewachsen, leben aber seit einigen Jahren mit Ihrem Mann und Ihren Kindern in Dänemark. Das dänische Volk gilt laut World Happiness Report seit 2005 als das zweitglücklichste Volk der Welt. Gilt dies auch für Eltern?
Alexander: Es gibt verschiedene Indikatoren, die dafür sprechen. Im vergangenen Jahr wurde in Dänemark beispielsweise ein Gesetz geschaffen, dass Väter verpflichtet, einige Monate Elternzeit zu nehmen, um ihre Familie zu entlasten.
Das klingt nach wirksamen gesellschaftspolitischen Maßnahmen. In Deutschland fühlen sich laut einer FORSA-Umfrage vom März aktuell fast 70 Prozent aller Eltern mitunter erschöpft oder ausgebrannt.
Das sind alarmierende Zahlen. In Dänemark entstresst die Tatsache, direkt nach der Geburt zu zweit zu Hause zu sein, bereits ungemein. Später, wenn Eltern an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, profitieren die Dänen von einer hervorragenden Work-Life-Balance.
Die Arbeitszeit beginnt hier normalerweise gegen 8.30 Uhr und endet für viele Eltern bereits um 15.30 Uhr. Man kann sagen, dass die Gesellschaft in Dänemark akzeptiert, dass der Mensch neben der Arbeit ein Privatleben und eine Familie haben. Man kann sich auch wegen Stress krankschreiben lassen.
Es gibt mehr Empathie für Familen.
In anderen Ländern lastet Ihrer Erfahrung nach mehr Druck auf Eltern?
Alexander: Nun, grundsätzlich nehme ich die dänische Umgebung als Amerikanerin wahr, die mit einem Dänen verheiratet ist und mit ihrer vierköpfigen Familie auch einige Monate in Italien und Belgien gelebt hat. Mir scheint der größte Unterschied in Dänemark zu sein, als Eltern mehr wertgeschätzt zu werden.
In anderen Ländern habe ich die Erfahrungen gemacht, dass kaum Empathie und Respekt für Eltern ausgedrückt wird. Arbeitskollegen sprechen zwar davon, dass der Spagat zwischen Familie und Beruf sicher anstrengend sein könne.
In Dänemark hingegen wird nicht nur im Sinne gegenseitiger Rücksichtnahme gehandelt, sondern auch im Gespräch oft ausgedrückt, welch große Leistung Eltern tagtäglich vollbringen.
Zudem arbeitet man in den USA und in vielen europäischen Ländern viel zu viel. In Dänemark scheint dagegen ein intuitives Bewusstsein dafür zu herrschen, dass von entspannten und präsenten Eltern nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kinder einen Nutzen haben. Man weiß hier, dass Kinder richtiggehend aufblühen, wenn ihre Eltern ganz da sein dürfen.
Stichwort: Umgang mit Druck. Was empfehlen Sie Eltern, die neben dem Beruf eine Familie haben?
Alexander: Ich empfehle ihnen, zunächst an der Grundlage dafür zu arbeiten, dass ihre Beziehung zu sich selbst und zu ihren Kindern keine leistungsorientierte, gestresste und lieblose wird.
Beispielsweise wird in Dänemark nicht so schnell „gelabelt“, das heißt, es wird Kindern weniger kategorisch gesagt: „Er ist schlecht in Mathe“ oder „Sie ist antisozial und weniger akademisch begabt“.
Man muss aufpassen, Kinder nicht zu pathologisieren. Damit geht die Gefahr einher, sie zu extremen Leistungsmenschen zu erziehen, Neurosen zu fördern oder auch mutlos und unselbstständig werden zu lassen.
Die Mitautorin meines Buches, Iben Dissing Sandahl, eine dänische Psychotherapeutin, versuchte bei ihren Patienten häufig eine wirkungsvolle Methode: Sie half, Zuschreibungen aus der Kindheit der Erwachsenen aufzulösen. Das gelang am besten, wenn sie zwischen Person und Ereignis unterschied.
Wenn Erwachsene zum Beispiel das Ereignis „Ich habe den Schlüssel verlegt“ bewusst vom Gedanken trennen, „immer schusselig zu sein“, konnten sie sich ungezwungener verhalten und manchmal auch von ihrer negativen Selbstwahrnehmung lösen.
Väter werden mehr in die Pflicht genommen.
Wo liegt noch ein entscheidender Unterschied zwischen Elternschaft in Dänemark und in anderen europäischen Ländern – vielleicht weniger erzieherisch als gesellschaftlich?
Alexander: In Dänemark ist es weniger bedeutsam, ob eine Familie finanzielle Ressourcen hat oder nicht. Ein Beispiel: Kommt ein Kind zur Welt, organisiert die Geburtsklinik Müttergruppen in der Nachbarschaft. Die Teilnahme ist freiwillig und kostenfrei.
Das schafft ein unterstützendes System in der nahen Umgebung, in dem Erfahrungen geteilt, Mitgefühl und Hilfe erfahren werden, Sorgen besprochen werden. Dies entstresst Mutterschaft zutiefst und lässt Kinder, die tiefe und warme Verbindungen benötigen, optimal aufwachsen.
Wer mit Kindern pädagogisch oder therapeutisch arbeitet, weiß, dass Eltern mit jüngeren Kindern durchaus Phasen der gesellschaftlichen Abschottung und sogar der Einsamkeit erleben. Mittlerweile gibt es solche verpflichtenden Gruppen auch für Väter. Sie sind für die ersten Monate nach der Geburt ein zentrales Schlüsselelement.
Wie verhält es sich in Dänemark mit dem Wunsch einer Mutter, bereits früh wieder arbeiten zu gehen? Wird das respektiert?
Alexander: Ich würde sagen, die Umgebung erwartet von den Müttern, wieder arbeiten zu gehen. Nach einem Jahr kehren die meisten wieder in ihre Arbeitsstelle zurück.
Nicht zurückzukehren, ziehen viele Frauen in Dänemark gar nicht in Betracht. Die Elternzeit für Mütter und Väter und die exzellente Tagesbetreuung in Dänemark vermitteln Müttern und Vätern, dass ihre Kinder gut umsorgt sind.
In Dänemark kannst du die Arbeit tageweise früher beenden und dir Zeit für dich nehmen, wenn du gestresst bist.
Und Frauen, die sich dagegen entscheiden nach einem Jahr sofort in den Beruf zurückzukehren?
Alexander: Man kann auch länger in Elternzeit bleiben, muss dann eine geringere Bezahlung in Kauf nehmen. Egal ob man sich für das Eine oder Andere entscheidet, gibt es mehr Empathie von der Gesellschaft.
Für mich als Amerikanerin ist ein bedeutsamer Unterschied, dass du in Dänemark die Arbeit tageweise früher beenden und dir Zeit für dich nehmen kannst, wenn du gestresst bist.
Ich habe das noch noch nie zuvor gehört, in Amerika gehört Stress einfach zum Leben. In Dänemark hingegen möchte man nicht, dass du gestresst bist.
Gerade wenn Sie die Vorteile der Elternschaft in Dänemark genossen haben, ist es dann schwieriger wieder in anderen Ländern Kinder großzuziehen?
Alexander: In anderen Ländern ist es generell einfacher, wenn man genügend finanzielle Ressourcen als Familie zur Verfügung hat, etwa um ein Au-Pair zu bezahlen oder andere Hilfen in Anspruch zu nehmen.
In Dänemark hingegen ist es weniger entscheidend, ob du viel Geld zur Verfügung hast oder nicht. Ich kenne keinen besseren Ort für Kinder und keinen besseren für Eltern, ihre Kinder großzuziehen.
Jessica Joelle Alexander ist eine gefragte Buchautorin, Erziehungsexpertin und Kulturforscherin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Kopenhagen. Unter ihren Büchern sind einige Bestseller-Erziehungsratgeber. Unter anderem war sie auch Sprecherin des Spielzeugherstellers LEGO, hält weltweit Reden und forscht sowie schreibt für die Universität von Kalifornien, Berkeley. Sie plant aktuell eine neue Buchveröffentlichung für 2025.
Quellenangaben:
Jessica Joelle Alexander und Iben Dissing Sandahl. Warum dänische Kinder glücklicher und ausgeglichener sind. Wilhelm Goldmann Verlag 2020