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Erziehung: Grenzen setzen um jeden Preis?

Lucky Business/ shutterstock.com
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Gastbeitrag der Autorin Vivian Dittmar

Konsequent sein? Grenzen setzen um jeden Preis? Die Autorin Vivian Dittmar, Mutter von zwei Kindern, glaubt nicht daran. Für sie ist die Beziehung entscheidend. Wenn wir uns von den Gefühlen berühren lassen, die Kinder in uns auslösen, ist eine tiefe Begegnung möglich.

Im August war ich als Referentin auf einem Elternkongress eingeladen. Der Familienpädagoge Achim Schad empfahl in seinem Vortrag einer Mutter, ihre Kinder ins Kinderzimmer einzusperren, wenn sie ihren Wunsch, in Ruhe mit ihrer Freundin zu telefonieren, nicht respektierten.

Ich war fassungslos. Im Jahr 2015 wird Eltern empfohlen, ihre Kinder in dieser Weise zu disziplinieren? Es werden hierfür die gleichen Argumente angeführt, mit denen die Generation meiner Eltern noch geschlagen wurde: Kinder brauchen Grenzen, Kinder müssen wissen, wer das Sagen hat und Respekt lernen.

Eine kurze Onlinerecherche zeigt: Herr Schad ist mit dieser Auffassung nicht alleine. Annette Kast-Zahn, angeblich Deutschlands meistgelesene Autorin von Erziehungsratgebern, scheut sich in ihrem Bestseller “Jedes Kind kann Regeln lernennicht, Eltern ähnliche Erziehungsmethoden nahezulegen. Sie macht präzise Angaben, etwa das Kind entsprechend den Lebensjahren einzuschließen, also einen Zweijährigen für zwei Minuten, eine Fünfjährige für fünf Minuten. Falls das Kind sich nicht unterordnet, wird der Vorgang wiederholt.

Offenbar lebe ich auf einer Insel der Seligen. Meine Kinder respektieren mich, obwohl, nein weil ich sie nicht einsperre und ihnen stattdessen Respekt vorlebte. Ein Beispiel: Mein Elfjähriger reagierte empört auf meine Ankündigung, dass es bald Zeit sei, ins Bett zu gehen. Er dachte, wir würden noch einen Film ansehen. Wir hatten zwei Stunden zuvor darüber gesprochen, uns dann aber entschieden, den Sommerabend draußen zu verbringen. Erst jetzt stellte sich das Missverständnis heraus. Früher hätte ich auf seine Empörung ebenso heftig reagiert: was ihm denn einfällt, wie er auf so eine Idee kommt und das kommt ja überhaupt nicht in Frage!

Heute weiß ich, dass Druck Gegendruck erzeugt. Ich prüfe für einen Moment in mir die Bereitschaft, doch noch einen Film zu schauen. Sie ist gering, maximal 30 Minuten wären für mich okay, und das auch nur, wenn es ihm sehr wichtig ist. Daraufhin überrascht er mich mit der Frage: Worauf hast du denn Lust?Ich ganz klar: Ich habe nicht wirklich Lust auf einen Film. Ich würde mich lieber mit dir aufs Sofa kuscheln und noch den spannenden Artikel, von dem du mir erzählt hast, mit dir lesen.Und genauso endete der Abend dann auch.

Das ist meine Lebensrealität mit meinen Kindern, mit dem inzwischen Siebzehnjährigen übrigens genauso. Habe ich zwei extrem liebe Kinder? Nein, sondern ich habe gelernt und dieses Lernen trägt Früchte.

Meine Konsequenz hat die Beziehung verletzt

Das war nicht immer so. Ich bin sehr jung Mutter geworden und wollte wie so viele Eltern alles richtig machen. Richtig machen hieß damals wohl ähnlich wie heute, konsequent sein. Ich war verblüfft festzustellen, dass der gleiche Wesenszug, der mir als Kind und Teenager noch als negativ ausgelegt worden war meine Starrköpfigkeit mir als Mutter plötzlich Anerkennung einbrachte. Ich sei ein Vorbild an Konsequenz, bekam ich oft zu hören. Nie ließ ich mich von dem Schreien oder sonstigen Anstalten, die mein Sohn machte, von einer einmal getroffenen Entscheidung abbringen. Beeindruckend!

Heute weiß ich, dass diese so bewunderte Konsequenz tiefe Wunden in die Beziehung zu meinem Sohn geschlagen hat. Mein Verhalten hat meinem Kind genau das beigebracht, was ich ihm vorgelebt habe: sein Herz für die Bedürfnisse anderer zu verschließen und nur auf andere einzugehen, wenn sie Macht auszuüben. Er entwickelte sich phasenweise zu einem unangenehmen Zeitgenossen, das Zusammenleben mit ihm war, ehrlich gesagt, eine Qual.

Es war kein leichter Weg zu lernen, es anders zu machen. Mit das Schwierigste daran war, die Stimmen aus meinem Kopf zu verbannen, die mir einredeten, ein Kind müsse erzogen werden, um zu einem anständigen Menschen heranzuwachsen. Ich lebte mit einem ständigen latenten Misstrauen gegenüber diesem mir anvertrauten Wesen.

Irgendwann stieg jedoch, mitten aus meinem Herzen, ein anderes Bild empor: Was wäre, wenn dieses Wesen bereits als anständiger Mensch auf die Welt gekommen war und sich gemäß seinem ganz eigenen Plan entfaltete? Was wäre, wenn ich diesem Prozess einfach vertrauen könnte? Wie wäre es, wenn meine Aufgabe nichts weiter wäre, als diesen Prozess nach bestem Wissen und Gewissen zu begleiten, indem ich ihm Respekt, Liebe, Wertschätzung und Klarheit entgegenbringe?

Gehorsam oder Kooperation – man muss wählen

Meine Kinder kommen nicht auf die Idee, mich zu etwas zu zwingen, da ich auch nicht versuche, sie zu etwas zu zwingen. Meine Kinder respektieren mich, weil ich sie respektiere. Trotzdem sind wir manchmal verschiedener Meinung, haben Bedürfnisse, die auch auf den zweiten Blick gar nicht zusammenpassen und reiben uns aneinander. Doch da es getragen ist von einer Basis aus Respekt, käme niemand von uns auf die Idee, den anderen einzusperren schon gar nicht, wie Herr Schad auf dem Kongress suggerierte, um in Ruhe mit der Freundin telefonieren zu können!

Wenn ich in Ruhe mit meiner Freundin telefonieren möchte, bitte ich meine Kinder, mich in Ruhe das Gespräch führen zu lassen. Ich habe keine Garantie, dass sie das tun werden. Als sie kleiner waren, gelang es ihnen manchmal und manchmal nicht. Heute ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie es tun, einfach weil sie besser darin geworden sind, ihre eigenen Bedürfnisse auch mal zurückzustellen. Von wem sie das gelernt haben? Von mir. Sie haben gesehen, wie ich meine Bedürfnisse auch mal hinten angestellt habe, wenn ich merkte, dass ihre gerade dringlicher sind.

Die Moral von der Geschichte: Wir können unseren Kindern entweder Gehorsam oder Kooperation beibringen. Beides zugleich geht nicht, da die Kooperation einen völlig anderen Satz an Fertigkeiten voraussetzt als der Gehorsam. Was Kinder lernen, wenn sie zum Gehorsam gezwungen werden, ist auf Menschen zu hören, die ihnen etwas antun können. Das wird dann Respekt genannt, ist aber keiner. Es ist Unterordnung.

Wenn Kinder konsequent zur Kooperation aufgefordert werden, lernen sie wirklichen Respekt, der sich dadurch kennzeichnet, dass er auch trägt, wenn der andere keine Macht ausüben kann. Er gilt auch den Schwächeren, er ist empathisch.

Wenn wir die Geschichte weiterspinnen und schauen, wie das Kind sich verhalten wird, wenn es nicht mehr klein genug ist, um an den Schultern gepackt zu werden denn mit genau dieser Geste begleitete Herr Schad auf dem Kongress seinen Vortrag und in Zwangsverwahrung bugsiert zu werden, dann wissen wir, dass wir dieses Kind spätestens als Halbwüchsiger nicht mehr erreichen werden. Er wird sagen: Du kannst mich mal! Ich mache jetzt was ich will, und du hast mir gar nichts zu sagen!.

Viele Menschen denken, dass Jugendliche nun mal so sind. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das nicht so ist. In einer von Respekt getragenen Beziehung muss der junge Mensch nicht beweisen, dass er tun und lassen kann, was er will. Er weiß das. Er muss seinen Eltern nicht alles heimzahlen, was sie ihm über die Jahre an Respektlosigkeit zugemutet haben. Er muss seine Würde nicht zurückerobern, da sie ihm nie genommen wurde.

Eines der gängigsten Argumente für Konsequenz und Disziplin ist heute, dass Kinder Grenzen bräuchten, sie würden ihnen Halt geben. Wenn dem so wäre, würde ein Gefängnis jede Menge Halt geben. Ich möchte damit nicht sagen, dass man keine Grenzen braucht zwischen Eltern und Kindern. Doch Halt finden Kinder viel besser und natürlicher in Beziehungen. Grenzen werden gebraucht, einfach damit das Miteinander funktioniert.

Der Kampf um Würde

Wenn Kinder gegen künstliche, von oben herab gesetzte Grenzen rebellieren, wird oft behauptet, sie würden Grenzen testen.Was für eine absurde Theorie! Meine Beobachtung ist eine völlig andere: Das Kind kämpft um seine Würde. Und es kämpft einen existentiellen Kampf, in dem es um jeden Preis herausfinden möchte, ob hinter der harten, konsequenten, emotionslosen Fassade seiner Bezugsperson noch ein Herz schlägt und ob in diesem Herz Liebe für das Kind wohnt. Das ist für das Kind existentiell. Deshalb beharrt das Kind, deshalb gibt es nicht auf, auch wenn es auf gänzlich verlorenem Posten steht. Es kämpft um seine emotionale Existenz und es kämpft um seine Beziehung zu uns.

Genau davor haben wir Angst, und das versuchen wir um jeden Preis zu vermeiden: Wir fürchten uns vor der Wucht von Gefühlen, die dieses kleine Wesen schon vom ersten Tag seiner Existenz an bei uns auslösen konnte. Wir haben Sorge, dass wir einfach dahinschmelzen könnten, wenn wir uns von ihm berühren lassen und dann würde unsere ganze Liebe einfach ausströmen und jeden guten Vorsatz, konsequent zu sein, Grenzen zu setzen, das Kind zu einem anständigen Menschen zu erziehen, hinwegfegen.

Meine Einladung ist: Lass es zu! Du musst keine Angst davor haben! Es wird nur ein paar eingestaubte, festgefahrene Konzepte über den Haufen werfen, mehr nicht. Doch dafür wird es dich mitreißen und davontragen, mitten in das Herz des Lebens hinein, wo dein Kind schon lange auf dich wartet. Du wirst es nicht bereuen. Du wirst nichts von Wert verlieren und du wirst alles gewinnen. Und dann wird Elternsein endlich das, was es immer schon sein sollte: die schönste Aufgabe der Welt.

Vivian Dittmar

Vivian Dittmar ist Autorin der Bücher Kleine Gefühlskunde für Eltern, beziehungsweise Beziehung kann man lernenund Gefühle & Emotionen Eine Gebrauchsanweisung. Als Unternehmensberaterin begleitet Sie Organisationen auf dem Weg in eine emotional und sozial kompetente Kultur. Weitere Informationen: www.viviandittmar.net

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Willkommen im Club! Ich selbst habe meinen Sohn vom Augenblick seiner Geburt an intuitiv als vollwertiges Wesen anerkannt, das wachsen und lernen muss, um sich immer mehr ins Leben zu entfalten – einfach natürlicher (selbstverständlich gleichwertiger) Respekt! Knapp 17 Jahre später kann ich dies nur als uneingeschränkten Erfolg auf ganzer Linie einschätzen – was mich freut und beruhigt, da ich mir keine andere wirkliche Beziehung vorstellen kann. Kein einziges der von anderen an die Wand gemalten Schreckensszenarien ist eingetroffen – von einem tiefen Verständnis getragener Respekt und gegenseitige Achtung sind für mich einfach realistisch und stimmig. Man muss es nur können (und hier hat man echten Einfluss)!

Hallo,
grundsätzlich stimme ich dem zu, ich frage mich allerdings wie ich mit Dingen umgehe, die das Kind nicht gut heißt aber durchgesetzt werden “müssen”. Wir haben zB einen Termin und wollen pünktlich sein, das Kind will aber das Spiel nicht beenden. Kind räumt nicht auf / muss vor Gefahr bewahrt werden/ verhält sich in irgendeiner Weise nicht situationsangemessen und reagiert nicht auf eine respektvolle Bitte. Was nun? Gewaltsam die gute Beziehung aufs Spiel setzen?
Ich wäre für eine Antwort dazu sehr dankbar.
Gruß A.

Na hallo,
Sachzwänge (Termine) bestimmen unser Leben immer wieder, je eher ein Kind das lernt umso besser- damit wirfst du doch eine Beziehung nicht über Bord!!!
Schliesslich würde ich manchmal auch lieber im Bett bleiben als zur Arbeit- wer nicht? Beim Verkehr dito! Dein Kind wird sehr bald merken, was nur du willst und was sein muss. Beim Aufräumen muss ich sagen, das willst ja eigentlich du- kreatives Chaos muss manchmal auch über Nacht bleiben dürfen… Dann kann am nächsten Tag weiter gespielt werden… Ein Buch / ein Bild entsteht auch nicht in 12 Stunden… Viel Spass beim Ausprobieren!

Ich probiere es in Kurzform:
1. Alles überflüssige “Müssen” über Bord werfen. Kinder spüren das. Nur was als authentisches Bedürfnis in ihrem jeweiligen Gegenüber lebendig ist, ist für sie relevant.
2. emotional berührbar sein.
3. Voll für die eigenen Bedürfnisse einstehen.
4. Die Bedürfnisse des Kindes würdigen. Das bedeutet nicht, sie zu erfüllen, sondern sie anzuerkennen.
5. In Gefahrensituationen gibt es jene, wo ohne Worte gehandelt wird (Kind packen, das sonst in den Verkehr läuft) und jene, wo dem Kind der Freiraum zugestanden werden muss, sich in Gefahr zu begeben (auf einen Baum klettern). Das müssen wir aushalten.
6. Gemeinsam mit dem Kind verbindende Lösungen entwickeln, wenn widersprüchliche Bedürfnisse auftauchen (also ständig ;-)…) Die Kinder lernen, es uns gleich zu tun und übernehmen so schon bald Verantwortung für die Bedürfnisse anderer.
7. Ehrlich sein. Zum Beispiel: “Wenn du dich so aufführst, habe ich überhaupt keine Lust mehr, mit dir ins Restaurant zu gehen. Das finde ich total schade, weil ich gehe total gerne mit dir ins Restaurant und hatte mich riesig darauf gefreut.”. Das ist keine Drohung, sondern einfach ehrlich. Kinder spüren das.
8. Dem Kind den Raum zugestehen, auch “Nein” zu sagen, ohne meine Wut, meine Trauer oder meine Angst zu verbergen. Kinder und Jugendliche müssen manchmal “Nein” sagen, um ihre Würde zu behalten Gestehen wir Ihnen dies zu, kommen sie oft schon bald, oder sogar sofort, wieder auf uns zu.
Für die lange Version verfasse ich auf mein Buch “Kleine Gefühlskunde für Eltern – Wie Kinder emotionale & soziale Kompetenz entwickeln”.
Herzliche Grüße,
Vivian Dittmar

Danke für diesen klaren Standpunkt für Einfühlung statt Machtausübung.
Übrigens behandeln nicht nur manche Eltern ihre Kinder mit falsch verstandener Konsequenz, sondern auch Seminarleiter ihre Teilnehmer! Ich staune immer wieder, was sich da Erwachsene alles bieten lassen.
Aber die meisten von uns haben eben Gehorsam statt Selbstbewusstsein als Kinder gelernt, und dann erwarten wir von einem Seminarleiter entsprechende “Autorität”, die uns subtil entmündigt.
Wie vieles hat das die Wurzeln in den Beziehungen unserer Kindheit. Danke für die Aufklärung im besten Sinne!

[…] Mir fällt auf, dass es eine Vielzahl von solchen Erziehungs-Plattitüden gibt, die vermeintlich plausibel erscheinen, aber oft das Gegenteil von dem darstellen, was ich selbst für mich wünsche. Und das Fiese daran ist, dass es immer wieder Momente gibt, in denen ich selbst diesen Ratschlägen anheim falle. Da kommt eine etwas stressigere Situation, und schon sind sie da, meine Law-and-Order-Fantasien und der Wunsch, jetzt aber mal ordentlich Grenzen zu setzen. Doch meine Wut, meine Genervtheit und meine nicht geäußerten Bedürfnisse kriege ich mit der Begrenzung meines Gegenübers nicht in den Griff. Es ist gut, sich das einzugestehen. Und für alles weitere, was man denn statt “Grenzen setzen” Besseres tun kann, verlinke ich hier einen guten Artikel von Vivian Dittmar. […]

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