Warum es gut ist, sich den Gefühlen zuzuwenden
Gefühle sind die Antriebskräfte im Leben, über die Gefühle treten wir in Beziehung zur Welt und anderen Lebewesen. Die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle rät, sich den Gefühlen bewusst zuzuwenden und eine Praxis des Mitfühlens zu üben. So können wir uns mit anderen verbinden.
„Das Gefühl gibt zu denken, denn es gibt zu spüren, was die Vernunft zu beachten hat, will sie wirklich vernünftig sein.“ (K. Blesenkemper)
Gefühle binden an den konkreten Augenblick im Hier und Jetzt. Unwillkürlich und machtvoll erfassen sie uns, so dass wir plötzlich einem intensiven Erleben ausgesetzt sind. Oft werden wir dann unsanft aus Sicherheit bietenden Routinen herausgerissen.
Neues drängt sich auf und erscheint bedeutungsvoll: ein Vorfall, eine Gegebenheit, eine Person oder ihr Verhalten — irgendetwas wird als bedrohlich, faszinierend oder vielleicht anstößig wahrgenommen. Der flaue Strom der Ereignisse ist unterbrochen, wir geraten in einen Zustand zugespitzter Wachsamkeit.
Pulsierende Gefühlsmomente steigern die Vitalität, reißen mit, versetzen in Spannung oder Schwingung, bis hin zu Begeisterung, Rausch, Ekstase. In der Tiefe des Fühlens kann der Eindruck entstehen, deckungsgleich mit uns selbst zu sein.
Gefühle sind immer konkret, nackte Tatsachen, wenn man so will: Ob man zustimmt oder nicht, sie rücken zu Leibe, verabreichen Stöße und teilen auf diese Weise unmissverständlich mit, was in der Welt wichtig für uns ist.
Oft verweisen sie darauf, dass dringender Handlungsbedarf besteht, zumindest kommt es uns so vor. Gefühle sind unsere eigentlichen Antriebsquellen, ohne sie wüssten wir das Leben kaum zu gestalten, wären nicht einmal lange überlebensfähig.
Vehemente Gefühlserlebnisse – ausgelöst z.B. durch Misserfolge, Krankheit, Liebesverlust oder gar den Tod eines anderen – wirbeln alles durcheinander, vertreiben uns rabiat aus dem bequemen Lehnstuhl eingefahrener Lebensweisen.
Gefühle sind Türen oder Fenster zur Wirklichkeit, Öffnungen in den Wänden des Ich, durch die wir mit dem, was uns umgibt, in Beziehung treten. Fühlend sind wir von der Welt betroffen: Dinge, Lebewesen, Kunstwerke, Menschen und ihr Verhalten ziehen nicht gleichgültig vorüber, sondern gehen uns an, sind mit Wert besetzt – positiv oder negativ.
Ob bewusst oder unbewusst, immer stehen wir in emotionaler Resonanz zu unserem Umfeld. Jede und jeder ist auf Stimulation von außen angewiesen, auf regen Austausch mit anderen Lebewesen, auf deren Widerhall, auf anerkennenden und kritischen Zuspruch.
Fühlend sind wir von der Welt betroffen
Dies bedeutet auch: Wer fühlend reagiert, offenbart sich als involviert, betroffen oder gar bedürftig. Er bekundet das Angewiesensein auf die umgebende Welt und gibt preis, was für ihn wertvoll und bedeutsam ist.
Da heftige Emotionen sich nie ganz verbergen lassen, wird er so für andere sichtbar: Mimik, Körperhaltung, Gesten, Stimmlage sind verräterisch. Jeder sieht, dass das Leben ihm zusetzt und ihn aus der Balance bringt, ja überwältigt. Eine Person, die Gefühle zeigt, wird sichtbar, durchschaubarer. Andere können sie leichter einschätzen, vielleicht gezielt provozieren, verletzen oder manipulieren.
Starke Affekte drohen die Souveränität zu untergraben, den Drang nach Selbstbestimmung, Kontrolle und Disziplin zu beeinträchtigen. Seit jeher werden sie kritisch beäugt, primär in Kontexten, die rigiden Männlichkeitsidealen folgen. Hier gelten auch prosoziale Emotionen wie Zuneigung und Mitgefühl als gefährliche Schwächen, die die konsequente Vollstreckung von Herrschaft und Macht behindern.
Im Extremfall quittiert er Anzeichen von Zuwendung, Liebe und Anteilnahme in seinem Umfeld mit Verachtung, Ressentiment oder Hass. Die Leiden anderer liest er als Symptome für Schwäche und Unvermögen — Verfassungen, die er sich selbst nie zugestehen würde, die es abzuwehren oder (brutal) niederzukämpfen gilt.
Die Praxis des Mitfühlens
Im bewussten Mitfühlen liegt der Versuch, das Trennende, die Fremdheit anderer, mittels schrittweiser Annäherung zu verringern und Isolation zu überwinden. Aktives Mitgefühl muss insbesondere die gedanklichen, wertenden Anteile, die in Emotionen mitwirken, bewusst angehen wie zum Beispiel die spontane Bevorzugung der eigenen Bezugsgruppe.
Weiter gehört dazu das Bemühen, an sich selbst kultur- und milieuspezifische Wertimplikationen intuitiver (Mit)Gefühlsreaktionen einzuräumen und aufzuspüren. Auch im Eigenen zeigen sich Einseitigkeit, blinde Flecken und Voreingenommenheit. i
Prosoziale Gefühle und moralische Haltungen formieren sich durch positive Erfahrungen von Nähe und Bezogenheit. Im freudigen Auskosten des geselligen Miteinanders, in der Anerkennung durch andere liegen die Quellen der Moralität. Deshalb ist fraglich, wenn, wie in der abendländischen Tradition oft erfolgt, eine Abtrennung der Moral vom Lusterleben propagiert und eintrainiert wird.
Individuelle Dispositionen, erwachsen aus existenziellen Grundstimmungen wie z.B. Angst oder Scham.ii Zugleich sind diese Hintergrundgefühle durch Ablagerungen lebensgeschichtlicher Lernprozesse bestimmt. Früh werden sie in sozialen Beziehungen geprägt, wobei kulturelle, milieuspezifische und individuell-biografische Faktoren eine Rolle spielen.
Sie stellen unsere passive, verleiblichte Seite dar. Sie lenken unsere Wertorientierungen, nehmen Einfluss auf situative Gefühlsreaktionen und machen uns zu begrenzten Wesen, da wir trotz bzw. gerade wegen ihrer kulturellen Vermitteltheit nur bedingt über sie verfügen können.
Hier liegt der Grund für die Unzugänglichkeit mancher Emotion, die wir an anderen wahrnehmen. Doch auch an uns selbst erleben wir ähnliche Schwierigkeiten, insofern gedanklich angeleitete Modifikationen unerwünschter Emotionen langwierig, schwierig, oft unmöglich sind. Wir stoßen an Grenzen des Verfügbaren, weil wir so sind, wie wir sind. Deshalb müssen wir vor allem lernen, adäquat mit dieser Schwierigkeit zu leben.
Die Ambivalenz der Emotionen
So erweist sich der gefühlsmäßige Weltzugang als doppelwertig: Zum einen vitalisieren Emotionen uns, verbinden uns mit Menschen und Dingen im Umfeld, zeigen hier Mangel oder Überfluss an; doch zugleich liegt darin die Gefahr, in subjektiver Einseitigkeit zu verharren, unbeirrbar an partikularen Perspektiven und Interessen zu kleben, ungeklärten Antrieben blind zu folgen oder sich unter dem Vorwand von Authentizität ungehemmt anderen zuzumuten.
Wird emotionales Erleben — die sich darin ausdrückende Verwobenheit mit anderen — anerkannt und konstruktiv (um)gestaltet, ist es als Brücke zum Gelingen anzusehen. Dazu müssen spontane emotionale Reflexe immer wieder neu überdacht und einer ‚Angemessenheitsprüfung‘ unterzogen werdeniii. Zumindest sollte man das im Nachhinein tun, besonders dann, wenn schon viel Porzellan zerschlagen wurde. Dreierlei ist notwendig: Momente des Rückzugs, die Bereitschaft zu nachdenklicher Selbstdistanzierung, Unterstützung durch wohlmeinende Dritte.
Ehrliches, moralwertiges Mitgefühl sucht durch Nachfragen und rückversicherndes Sprechen die Grenzen intersubjektiver Verständigung auszuweiten. Getragen von grundlegender Wertschätzung anderer braucht es zudem ein behutsames Nachdenken über gesellschaftlich-moralische Konventionen, in die wir eingebettet sind.
Studien mit kleinen Kindern zeigen: Mitfühlen ist eine ursprüngliche Anlage des Menschen. Diese gilt es im Blick auf sinnerfüllte Gestaltungen des sozialen Miteinanders nachdrücklich zu kultivieren, indem der Horizont des Mitfühlens von der stabilen Primärgruppe, auf die ein Kind unbedingt angewiesen ist, allmählich auch auf fremde und ferne Personen hin ausgedehnt wird.
Sich Gefühlen bewusst zuwenden
Zunächst benötigen wir überschaubare Kreise, direkte Vorbilder und relative Beständigkeit der Lebensprozesse, um uns in eine wertorientierte soziale Praxis einzuleben. Von hier aus lässt sich der Radius des Mitfühlens allmählich erweitern, so dass auch andere Wertsysteme anerkennend nachvollzogen werden können.
Für eine kulturübergreifende Übungspraxis der Mitgefühle gilt: Je weniger man von der Objektivität eigener Sichtweisen ausgeht, umso mehr erhöhen sich die Chancen, in die emotional-gedankliche Komplexität anderer Welten einzutreten und im Nachempfinden Verstehensprozesse anzuregen. Wichtig ist das Bemühen, eigene Überzeugungen auszusetzen oder einzuklammern, doch stets in dem Wissen, dass dies nur begrenzt möglich ist.
Wichtig ist zudem die Bereitschaft, auch unangenehme Gefühle zuzulassen, d.h. eigene Leiden und eigene Bedürfnisse nicht zu übergehen. Weil Gefühle Dienerinnen und Hemmnisse des Gelingens zugleich sind, müssen wir lernen, sie ab und an ins Licht der Bewusstheit zu heben, um sie aufrichtig zu betrachten und einzuschätzen. Damit verbindet sich fraglos das Risiko, mitunter auf wenig Schmeichelhaftes zu stoßen.
Es braucht Wahrheitsmut, der die tiefe, unaufhebbare Verwobenheit von Geist und Gefühl anerkennt: Obgleich Gefühle spontan aufflammen, sind sie keinesfalls ein naturwüchsiges Geschehen, das aus physischen Zuständen des Organismus resultiert.
Und ebenso trifft zu, dass ein Vernunftanspruch, der das Fühlen übergeht oder ausblendet, dazu tendiert, äußerst irrational zu sein. Ohne es zu bemerken, nährt er sich von emotionalen Quellen. Erst auf diese Weise werden Gefühle zu blinden, unerkannten und oftmals schädlichen Antrieben.
Quellenangaben:
i Abscheu gegen andere Menschengruppen gibt es in vielen Kulturen: Kastenwesen, Homophobie, Antisemitismus, Misogynie etc.
ii Zur Kategorie ‚Disposition‘ als dauerhafte Prägungen des Geistes, s.: R. Wollheim Emotionen. München 2001
iii Hierzu, s.: Bennent-Vahle Besonnenheit. Freiburg-München 2020
- Dr. Heidemarie Bennent-Vahle betreibt eine Philosophische Praxis in Henri-Chapelle/Belgien. Sie war viele Jahre im Vorstand der IGPP (Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis), wo sie jetzt im wissenschaftlichen Beirat mitarbeitet. Sie ist Mitglied des BVPP (Berufsverband Philosophische Praxis), wo sie u. a. auch ausbildend tätig ist. Sie ist auch Buchautorin, u.a. Gelassen bleiben, vor allem, wenn der Druck zunimmt. Eine philodophische Ermutigung. Verlag Karl Alber 2024
Foto: Jo Magrean