Gelassenheit als philosophische Praxis

Cover gelassenheit, Bennent-Vahle

Ein Buch gegen den Wohlfühltrend

Die Philosophin Bennent-Vahle versteht Gelassenheit als eine philosophische Praxis, die mit der Tugendethik verbunden ist. Damit ist Gelassenheit für sie kein Wohlgefühl als Ausgleich für die auf Leistung getrimmte Gesellschaft, sondern eine Kraft, die aus Innenschau und Selbsterkenntnis entsteht.

Mit jeder Publikation, sei es eine Monographie, ein Aufsatz, Essay oder Kolumne, schreibt sich die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle tiefer hinein in eine Philosophie der Emotionen.

Die Texte kreisen alle umeinander, beleuchten sich gegenseitig und bilden ein vielperspektivisches Werk mit einem gewichtigen ethischen Schwerpunkt. Wie zu leben sei, diese antike Frage stellt die Autorin in das Licht gegenwärtiger philosophischer, psychologischer und pädagogischer Diskurse.

Unglücklich ist indes der Buchtitel, der der Ratgeber-Ecke entlehnt ist. Das geht in die Irre – philosophisch kochkarätig ist schon der Auftakt der gut 200-seitigen Studie: Knapp und pointiert stellt Bennent-Vahle das seit ein, zwei Jahrzehnten wieder aufgeflammte Interesse an der antiken Tugendethik dar.

Die Tugend der Gelassenheit stellt die Autorin in einen engen Kontakt zu den Tugenden Besonnenheit und Mut – woraus sich im Übrigen auch der Untertitel des Buches motiviert: »Eine philosophische Ermutigung«.

Doch weshalb braucht es Mut zur Gelassenheit? Die Autorin scheint mir auf diese Frage zwei Antworten zu geben. Die eine zieht sich als roter Faden durch das Denken Bennent-Vahles überhaupt, es ist der Wind ihres Denkens, um ein Wort von Hannah Arendt mitgehen zu lassen.

Heute, so tönt der Grundton der Studie, erfordert Gelassenheit Mut, weil sie eine unzeitgemäße Tugend ist. Mit ihr stellt man sich quer zum Zeitgeist einer »hochgeputschten Wettbewerbsgesellschaft«, in der sich die Individuen einem »Profilierungszwang« unterwerfen, mit dem sie Stärke und Coolness demonstrieren.

Gelassenheit ist das Antidote zum »emotional versierten Erfolgsjunkie«, der »gezeichnet ist von den Blessuren einer ungastlichen, ihm dauerhaft zusetzenden Lebenswirklichkeit«.

Immer wieder brilliert Heidemarie Bennent-Vahle mit treffgenauen Beschreibungen des an sich selbst überlasteten Menschen unserer Zeit. Unser Leben gewinnt an Reflektiertheit, an Souveränität und Freiheit, wenn es mit klug dosierter Gelassenheit geführt wird: »Gelassenheit ist dabei der eigentliche Schlüssel zu höheren Einsichten.«

Kritische Auseinandersetzung mit der Stoa

Mut aber braucht es zur Gelassenheit auch aus anthropologischen Tiefen heraus. Da ist zunächst – die eigene Endlichkeit, der Tod. Jeder ist einsam mit ihm. Wie anders ist umzugehen mit ihm, wenn nicht – gelassen?

Sodann bewährt sich die Gelassenheit an dem, was die Autorin den »Widerfahrnischarakter unserer Existenz« nennt. Darunter versteht sie den Umstand, dass Menschen niemals ihr Eingebundensein in die Welt objektivierbar überschauen können, ja dass uns die Augen auch im Blick auf uns selbst verbunden sind. Die Opazität unserer Existenz auszuhalten zu können, dazu bedarf es des Mutes zur Gelassenheit. Soweit zum Generalbass des Buches.

Der eigentliche Reichtum des Buches erschließt sich einen Augenaufschlag weiter, nämlich dort, wo Bennent-Vahle die abendländische Ideengeschichte auf Gelassenheitsdiskurse hin durchforstet.

Die Philosophie der Stoa ist die reichste Fundgrube einer Philosophie der Gelassenheit, mit der Stoa liefert sich Bennent-Vahle die ausführlichste Auseinandersetzung. Mal anerkennend, weil die Stoa zur nötigen Distanz zum unmittelbaren Gefühlsleben auffordert, mal aber auch ablehnend, denn in der Stoa erkennt sie eine emotionsfeindliche, der Hybris der Rationalität verfallende Denkschule.

Auch sei die Stoa sozialphilosophisch unterbelichtet, weil »der Katalog stoischer Forderungen der leiblich sinnlichen Eingebundenheit des Menschen nicht gerecht wird.«

Mit Seneca und Marc Aurel komme man wohl voran, nicht aber zum Ziel. Gesucht wird ein Gelassenheitskonzept, das den heutigen sozialen Anforderungen gerecht wird und zudem die Erkenntnisse moderner Sozialwissenschaften aufgreift.

Streifzug durch die Philosophie

Und so streift Bennent-Vahle weiter auf den philosophischen Boulevards, die von der mönchischen ›Gelâzenheit‹ in modernere Gefilde führen, zur schottischen Aufklärung und zu den Klassikern des zwanzigsten Jahrhundert, zu Martin Heidegger, Otto F. Bollnow und Helmut Plessner.

Heidegger entwickelte aus seinem ambivalenten Verhältnis zur Technik die Vision einer ›Gelassenheit zu den Dingen‹, ein schwebender Zustand zwischen der zupackenden Hybris des technologischen Dämons und einem hörenden, rezeptiven Zugang zur Welt der Dinge.

Otto F. Bollnow empfiehlt einen »Geist der Verträglichkeit«, um Gegensätze zu überwinden. Und schließlich schlägt Helmut Plessner eine ähnliche Tonlage an mit seinem Gelassenheitskonzept einer »Weisheit des Taktes«, dem Bennent-Vahle eine frühere Publikation gewidmet hatte (Weltverflochtenheit, Verletzlichkeit und Humor 2022).

Darunter ist eine soziale Haltung zu verstehen, die die Vulnerabilität des Menschen zu einer ›Ethik des Schonens‹ ausgestaltet, in der ein beidseitiger Respekt das Prius hat über das Durchsetzen eigener Positionen.

Heidemarie Bennent-Vahle ist eine ethische Optimistin. Ethische Optimisten glauben an den intrinsischen Zusammenhang von Moral und Glück. Dorthin führt sie ihre Leserinnen und Leser im Schlussteil des Buches.

Gelassenheit, so ihre Überlegung, öffne auch für ein Genießen des Augenblicks, ja mehr noch: im »gelassenen Innehalten« transzendiert das Bewusstsein das Ego und weitet sich auf ein großes Wir hin. »Nichts schafft so intensive Gegenwart, wie das im Heraustreten aus uns selbst fühlend und denkend anverwandelte Leben.«

In der Gelassenheit schwingen das Ich, das Du und das Wir in Resonanz, und der Schluss ihres Buches versammelt die wesentlichen Resonanztheoretiker: Hartmut Rosa natürlich, auf den die Theorie resonanter Weltbeziehungen zurückgeht, dann aber auch Autoren und Autorinnen, die ebenso für eine Ethik jenseits festgezurrter Normen stehen: Hannah Arendt, Emanuel Levinas, Ute Guzzoni und andere Gegenwartsstimmen mehr.

»Gelassenheit meint das Einüben eines vernehmenden Weltbezuges, meint das Einschwingen auf ein sich neu besinnendes Denken, meint die Bereitschaft, sich auch in größere, vielgestaltige Zusammenhänge einzufügen, als deren Teil man sich vorfindet.«

Peter Vollbrecht

Heidemarie Bennent-Vahle: Gelassen bleiben – vor allem, wenn der Druck zunimmt. Eine philosophische Ermutigung. Verlag Karl Alber 2024

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