Foto: Jo Magrean
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Philosophische Kolumne

Ich bin hoffnungslos von gestern. Worte wie Lauben- oder Lindengang kenne ich allenfalls  aus der Lyrik Goethes oder der Romantiker. Sie rufen in mir Bilder von beschatteten Wegen, flirrenden Sonnenflecken in weiten Parklandschaften oder stillen dörflichen Gärten hervor. Doch dann hat es mich eiskalt erwischt, als ich plötzlich eines dieser wundersamen Worte in einem nüchtern-prosaischen Anwaltsbrief zu lesen hatte. In strikten Sentenzen ganz ohne Dekor und Höflichkeitspuffer gebot man mir, Sorge dafür zu tragen, dass falsch angebrachte Blumenkästen im Laubengang entfernt würden. Schon zuvor hatte ich bitter erfahren müssen, wie hartnäckig man an vorwitzigen Geranien und rankenden Petunien Anstoß nehmen kann.

Ein langwieriger Briefwechsel zwischen Hauserwaltung, Anwaltskanzlei und Amtsgericht auf der einen und meiner Wenigkeit, einer einsamen Jeanne d’Arc der Blumentöpfe, auf der anderen Seite war dem neuerlichen Laubenganggeheiß vorangegangen. Unsanft hatte ich bereits lernen müssen, dass es im deutschen Rechtssystem keinesfalls nur darauf ankommt, ob die Balkongefäße bei plötzlichem Sturm einem selbstvergessenen Spaziergänger auf dem Kopf plumpsen könnten, oder etwa darauf, ob herab fallende Zweiglein respektive das allzu großzügig ausgeteilte Blumenwasser die Nachbarn vergrätzen.

Diese Gründe hätte ich widerspruchslos akzeptieren können. Nein, hier ging’s um weitaus Wichtigeres und ich musste diese Pille schlucken: Wenn eine entschlossene Eigentümerversammlung ästhetische Gleichförmigkeit verlangt und eine präzise Positionierung der Flora verordnet, dann hat der unschuldige Grünzeugliebhaber und Blumenindividualist in jedem Fall das Nachsehen. Er muss sich schicken und seine Blütenpracht diesseits der Balkonbrüstung oder sonst wo bestaunen.

Da nützt es auch nichts, wagemutig argumentierend ins Feld zu führen, dass doch – grob geschätzt – mehr als die Hälfte dieser braven Eigentümer jenseits der 50 ihre Urlaube in Bayern oder Südtirol verbringt, an jenen unerhörten Orten also, wo die wild wuchernde Blumenfülle immer und überall außerhalb der Brüstung wallt. Ja es ist dort, wie ich neulich mit eigenen Augen beobachten konnte, eine ganz normale Sache, Pflanzenbehältnisse sogar am unteren Rand der äußeren Balkonfront – oft in schwindelerregender Höhe – anzubringen.

Das kann selbst ich nicht verstehen, denn immerhin birgt unter diesen Umständen der ganz alltägliche Akt des Wässerns ein erhebliches Absturzrisiko für die pflichtbewusste Hausfrau in sich. So unterschiedlich sind die Völker! Aber wundern wir uns nicht! Denn wir alle wissen, die „gewöhnliche“ Italienerin schreckt ja nicht einmal davor zurück, ihre rosaroten Unterröcke in fröhlicher Reihung quer über die Hauptstraße zu spannen!

Womit wir der Sache schon näher kommen: Auf solche Exzesse würde es nämlich hierzulande auch hinauslaufen, so man der Freiheit der Blumenkunst nicht beizeiten Einhalt geböte, versicherte mir die Hausverwaltung. Dies konnte ich nur wortlos zu Kenntnis nehmen und mich auch nicht weiter grämen, als das ganze Hin und Her damit endete, mir saftige Strafgebühren und Gerichtskosten aufzubrummen. Pech gehabt!

Dabei war ich schon auf halber Strecke eingeknickt und hatte gemäß dem Motto „Die Klügere gibt nach“ meine bedauernswerten Pflänzlein nach innen verfrachtet, wo sie seitdem ohne alle Zweifel ihre Köpfe hängen lassen. Blumen haben eben auch ihren Stolz! Nun muss ich feststellen, dass mein Einlenken die Gegenseite neuerdings dazu anstachelt, die Laubengänge ins Visier zu nehmen.

Ganz egal, dass die in der finstersten Ecke des Gebäudes liegen und man quasi um das Haus herumkriechen muss, um dem Delikt der Uneinheitlichkeit überhaupt auf die Spur zu kommen. Ordnung muss sein und der Streitfall geht weiter! Mein so genannter Laubengang, der in grauer Betondüsternis so gar nichts mit seinen romantischen Vorläufern bei Goethe und Eichendorff gemein hat, der allenfalls noch angesichts der mühsam gepflegten und gehegten Wandelröschen diesen Namen verdient hätte, dieser Laubengang wird wohl demnächst auch dem gestrengen Pflanzenparagraphen der Hausordnung zum Opfer fallen.

Lachen kann man da schon, aber verklagt ist verklagt. Eines jedoch stimmt mich milder: Im Verklagen liegt das wunderschöne alte Verbum „klagen“. Nach dem Deutschen Wörterbuch wird es zurückgeführt auf „einen schmerz, ein leid oder weh ausdrücken, eigentlich ausschreien.“ Im Mittelalter bedeutete es auch, dass man etwas „mit klagen zu ende bringen“ muss.

So geht es mir jetzt auch! In ihrem Gedicht „Wappen von Berlin“ erzählt die Lyrikerin Gertrud Kolmar von einer Bärin, deren Verklagen „dem gewaltsamen Eindringen der Zivilisation in die Sphäre der Natur“ gilt. Dieser Bärenklage würde ich mich gerne anschließen, wenn ich darf, oder besser gesagt: Ich würde gerne im Geiste dieser Klage flehentliche Gegenklage erheben.

Heidemarie Bennent-Bahle, 7. April 2017

Dr. Heidemarie Bennent-Vahle ist Philosophin und Logotherapeutin, sie betreibt eine Philosophische Praxis in Henri-Chapelle/Belgien. Sie ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der IGPP (Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis), Mitherausgeberin des Jahrbuchs und Mitglied des BVPP (Berufsverband Philosophische Praxis). Autorin mehrerer Bücher, u.a. “Besonnenheit – eine politische Tugend” 2020 und “Weltverflochtenheit, Verletzlichkeit und Humor” 2022.

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