Ein Essay von Ina Schmidt
Toleranz ist wesentlich für demokratische Gesellschaften. Doch wann zerstört Toleranz die Grundlagen der Demokratie und schafft sich damit selbst ab? Die Philosophin Ina Schmidt nennt in Anlehnung an Karl Popper auch Kriterien, die Grenzen der Toleranz aufzeigen.
Im Namen der Toleranz
sollten wir uns das Recht vorbehalten
die Intoleranten nicht zu tolerieren.
Karl Popper
Vielfalt und Offenheit sind Ideale einer demokratischen Gesellschaft, Kontroversen und Streitkultur inbegriffen. Regierungskoalitionen zerbrechen daran. Die Frage, was mit wem und warum unvereinbar ist, was es auszuhalten und welche Kompromisse möglich sein müssen, beherrscht schon lange die politische Agenda. Es ist von Verantwortung die Rede, von Werten, die es zu verteidigen gilt, die wir vorleben und gestalten müssen. Aber wenn wir sie denn verteidigen müssen, gegen wen und warum?
Und das gilt nicht nur auf der politischen Bühne, sondern auch im ganz normalen Alltag: Wann ist eine kritische Bemerkung angemessen, und wann ist sie einfach nur eine Behauptung, eine Lüge oder eine Beleidigung? Was handelt es sich um eine Meinung, die ich frei äußern können sollte, und ab wann lässt sich eine Meinung nicht begründen und muss daher mit Widerspruch rechnen?
Die Debatten darüber, wie unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung funktionieren sollte und wie wir sie sogar im Gespräch beim Bäcker, mit Freunden oder in der Familie stärken oder schützen sollten, reißen nicht ab.
Wie gehen wir mit Menschen um, die eine andere Meinung haben? Und welche Meinung ist eigentlich keine, sondern nur eine wilde Behauptung? Oft, wenn wir nicht mehr weiter wissen, sprechen wir von Toleranz. Seien wir doch ein bisschen „toleranter“, hört man dann.
Aber bedeutet Toleranz, dass wir jeden Standpunkt ins Gespräch einladen oder akzeptieren und dass wir uns mit Widerspruch nicht auseinander setzen müssen?
Toleranz erträgt und hält aus
Der Begriff der Toleranz stammt vom lateinischen Verb „tolerare“, was soviel bedeutet wie ertragen oder aushalten. Der Kern ist, auch das, was meiner eigenen Lebens- oder Denkweise nicht entspricht, anzunehmen, Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit als Teil einer pluralistischen Kultur gutzuheißen.
Im besten Fall geht es sogar so weit, dass man sich auf der Basis von Toleranz auf neue, dritte Wege einigt, Kompromisse findet und die eigene Position überdenkt. Diesen Anspruch haben wir an andere, müssen ihn im Sinne der Toleranz aber ebenso auf uns selbst anwenden: Wie sicher bin ich mir eigentlich in dem, was ich tue und denke, und warum?
Dieser Gedanke beruht auf dem oftmals unausgesprochenen Grundsatz, der so etwas wie die „Goldene Regel“ des menschlichen Miteinanders beschreibt: Behandle die andere Person so, wie Du selbst gern behandelt werden möchtest.
Was kann uns Orientierung bieten?
In der europäischen Denktradition ging der Aufklärer Immanuel Kant noch darüber hinaus und formulierte seinen „Kategorischen Imperativ“ als eine „Maxime“ des eigenen Handelns, von der wir „wollen können sollen, dass sie allgemeines Gesetz werde.“
Die Idee ist: Wenn ich etwas tue, kritisiere, verurteile, soll ich gut prüfen: Würde ich wollen, dass dieses Verhalten anderer sich auf Basis einer fest geschriebenen Gesetzesvorlage auch gegen mich selbst richten könnte?
Zugegeben ist dieses hehre Ideal nicht immer mit der eigenen täglichen Lebenswelt in Übereinstimmung zu bringen, aber Ideale können dennoch Orientierung bieten.
Selbst wenn wir es nicht ganz so streng nehmen und hier und da doch ein weniger toleranter mit der menschlichen Unvollkommenheit umgehen wollen, bleibt die Grundfrage bestehen: Wo ist die Grenze dessen, was wir als Gemeinschaft aushalten wollen bzw. können, damit diese Gemeinschaft bestehen bleiben kann?
Regelverstöße im Sport werden wie selbstverständlich geahndet, wir haben die Verfassung und Gesetze für das, was wir als Verbrechen anerkennen, wie aber halten wir es mit dem, was wir als soziale Regeln für ein gelingendes Miteinander nicht ständig neu verhandeln wollen?
Intoleranz heißt, einen rationalen Diskurs zu vermeiden
Diesen Gedanken verfolgte der Philosoph Karl Popper in seinem Werk „Die offene Gesellschaft“ von 1945 als das Phänomen des „Toleranzparadoxons“. Popper lehnt darin eine unbedingte Forderung nach Toleranz ab und zwar aus einem einleuchtenden Grund: der Überzeugung, dass die Toleranz sich auf diese Weise selbst abschaffen würde.
„Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“
Nun stellt sich natürlich unmittelbar die Frage, wer oder was „die Intoleranten“ sind und wer das entscheiden kann. Karl Popper legt für die Antwort auf diese Frage zwei Eigenschaften als grundlegend für das fest, was er unter „Intoleranz“ versteht:
Intoleranz zeigt sich zunächst in der Ablehnung und Vermeidung eines rationalen Diskurses, der es ermöglichen würde, auch unterschiedliche Meinungen in einem Nebeneinander (als gleichwertig) anzuerkennen. Rationaler Diskurs bedeutet, vernünftige Gründe zu haben, statt bloße persönliche Befindlichkeiten oder subjektive Deutungen anzuführen.
Es muss intersubjektiv verständliche Kriterien geben, die auch von anderen als Gründe anerkannt werden können. Die Kritik an gängigen Denkmustern oder gewohnten Erklärungen ist damit sehr wohl gewünscht und gewollt – und zwar indem man sich auf Argumente und das beruft, was die moderne Gesellschaft als wissenschaftliche Praxis und Annahme ernst nimmt und diskutiert. Darin ist die Weiterentwicklung von Erkenntnissen und das Eingestehen von Fehlern oder Irrtümern eingeschlossen.
Der zweite Punkt geht noch einen Schritt weiter. Kennzeichen von Intoleranz ist demnach, zur Verfolgung oder gar zur Gewalt gegen Andersdenkende oder Anhängerinnen anderer Ideologien aufzurufen. Natürlich kann man Andersdenkenden oder Vertreterinnen anderer Ideologien widersprechen, denn dies ist Teil demokratischer Streitkultur. Intoleranz verweigert aber gerade diese kulturelle Praxis des Diskurses.
Sie beklagt Widerspruch als Einschränkung der eigenen Freiheit und strebt nach Vereindeutigung vom komplexen Sachthemen: Dabei lässt sie Kritik nicht zu, sondern verabsolutiert den eigenen politischen Standpunkt.
Die offene Gesellschaft kann nicht Gruppen tolerieren, die sie abschaffen wollen
Popper ist durchaus klar, dass die Entscheidung, im Namen der Toleranz intolerant zu handeln, durchaus angreifbar ist und daher nur als „ultima ratio“ Anwendung finden darf. Wann genau ein solcher Fall eintritt, kann allein im konkreten Kontext entschieden werden.
Die Entscheidung können diejenigen treffen, die sich verantwortungsvoll für den Erhalt einer Wertelandschaft einsetzen, in der von Toleranz überhaupt noch gesprochen werden kann; am Ende können das in der Demokratie unabhängige Gerichte sein, die entscheiden, ob eine Tat, eine Äußerung mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Es ist also nicht undemokratisch, eine soziale Gruppe von demokratischen Prozessen auszuschließen, die offen für die Zerstörung eben dieser Prozesse eintritt. Würde man hier Toleranz üben wollen, wäre es in etwa so, als würde man gemeinsam über einen See segeln, dabei durchaus kontrovers diskutieren, wie der Wind steht und was als nächstes zu tun ist, und einigen wenigen dabei zusehen, wie sie das Boot zersägen.
Für den Erhalt einer notwendigen gemeinsamen Grundlage einzutreten, ist also die Voraussetzung für Toleranz – auch mit den Mitteln begründeter Abgrenzung, wenn wir weiter in der Lage sein wollen, das gemeinsame Boot durch den Sturm zu bringen.