Eine Ukrainerin überlebte russische Gefangenschaft
Die Ukrainerin Olena Piekh wurde 2018 in ihrer Heimat Donbas entführt und in Gefangenschaft misshandelt. Sie kam frei und lebt heute in Deutschland. An einem öffentlichen Abend erzählte sie ihre Geschichte und wie Liebe und unbändige innere Stärke sie retteten.
Kurz vor dem 80. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg bin ich zu einem Benefizabend eingeladen. Er ist den ukrainischen Frauen im Krieg gewidmet, zu Gast ist die Ukrainerin Olena Piekh, die 2018 in ihrer Heimat von Separatisten verschleppt wurde.
Ich war schon oft dort, im „Luftraum“ in Berlin-Schöneberg. Es ist einer der wenigen Gründerzeitbauten, die wie durch ein Wunder den Zweiten Weltkrieg überstanden haben. Heute Abend aber verändert sich meine Sicht auf diesen Ort. Nicht wegen seiner Architektur – sondern wegen der Geschichte, die sich dort ereignet hat.
Wir erfahren: Der Großvater der heutigen Besitzerin saß während der Bombennächte auf dem Dachboden. Mit Sandsäcken. Während andere in den Bunker gingen, wartete er auf die Phosphorbomben. Denn Phosphor kann man nur mit Sand löschen. Und das hat er getan. So blieb dieses Haus stehen, wie auch ein weiteres in der unmittelbaren Nachbarschaft.
Wenige Meter unter diesem Dach, im ersten Stock, feierte Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Hitler verübte und scheiterte, seinen letzten Geburtstag. Dort traf sich über Monate der Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Und genau darunter, im Erdgeschoss, sitzen wir nun. Der Raum trägt noch immer Geschichte in seinen Wänden – nur dass sich heute die Geschichten verändern. Und mit ihnen: wir.
Die Frau, die Folter überlebte
Olena Piekh, eine Kunsthistorikerin, erzählt heute Abend ihre Geschichte. Und weil viel mehr Menschen gekommen sind, muss sogar extra noch eine Stuhlreihe vor der ersten eingebaut werden. Sie liest Gedichte von ukrainischen Schriftstellerinnen und auch ihre eigenen.
In den Pausen wird dieser Abend von Olga Prykhodko und ihrem Vokalensemble Kammertòn begleitet. Sie singen Stücke der ukrainischen Komponistin Victoria Poljowa. Man kann eine Stecknadel fallen hören, so still ist das Publikum. Kein Räuspern. Keine Ablenkung, nur manchmal ein piepsendes Mobiltelefon.
Obwohl Olenas Hüftgelenke durch die Folter mit Elektroschocks und Vergewaltigungen deformiert waren, sitzt sie aufrecht vor mir. Zum einen hat sie dank mehrerer Operationen nun zwei künstliche Hüftgelenke, die ihr das ermöglichen. Zum anderen kommt ihre aufrechte Haltung aus ihrem Herzen. Und vom Schreiben über das, was sie erlebt hat.
Sie war schon längst fort aus ihrer Heimat, dem seit 2014 von Separatisten umkämpften Donbas im Osten der Ukraine. Doch als ihre Mutter 2018 schwer krank wird, kehrt sie zurück. Um sie zu pflegen und da zu sein. Aus heutiger Sicht, würde man laut schreien und sagen: „Nein. Lass das!“
Kurz darauf wird sie festgenommen. Ein vermummter Mann kommt bei dem Haus ihrer Mutter vorbei, bezeichnet sie als Spionin und führt sie mit einer Tüte über dem Kopf ab. Wohin: Das weiß sie nicht. Der Grund: Russland zahlt den Separatsiten 10.000 Euro Kopfgeld pro Geständnis.
Ich sitze da, höre zu – und frage mich: Wie überlebt ein Mensch so etwas? Wie steht man wieder auf, wenn man so tief in den Boden getreten wird?
Glaube, Liebe, Hoffnung
In der Gefangenschaft war Olena verboten, Ukrainisch zu sprechen. Also schrieb sie Gedichte – auf Russisch. Gedichte über Schmerz, über Verrat. Aber auch über Hoffnung. Sie schrieb sich das Überleben in Versen zusammen, in Bildern, die selbst das Unaussprechliche ertrugen.
Im Namen der Freiheit
Ich werde die Handschellen zerreißen,
ich werde aus dem geschlossenen Kreis ausbrechen.
Ich umarme meinen einzigen Freund,
trage die Liebe wie den Glauben tief in meinem Herzen.
Ich werde die Handschellen zerreißen wie einen bösen Brief,
wie das Urteil der Gefangenschaft,
wie die Qualen meiner Seele,
wie den blutigen Verband an meinen Adern.
Ich werde die Handschellen zerreißen,
ich renne auf die Gegenfahrbahn – doch der Schmerz ist nicht fort!
Wie ein entlaufener Hund aus dem Schlachthof
werde ich jedes Hindernis auf dem Weg zu meinem Ziel niederreißen.
Ich werde die Handschellen zerreißen,
ich muss einfach rennen!
Mein Herz droht, aus dem Maul zu springen!
Ich bin eine stolze Bestie,
ich muss sie besiegen!
Sie haben mir in die Kehle gestochen – doch ich kämpfte weiter!
Ich werde es schaffen! Ich sehe das grüne Licht!
Nur noch die Handschellen zerreißen!
„Mich aus der Unterwelt zu erheben“ war mein Eid,
und ich habe versprochen, im Sommer zurückzukehren.
Ich habe meinen Davidstern verteidigt!
Er leuchtet an meinem Hals.
Ich habe die Handschellen zerrissen!
Ich bin nicht stark genug.
Aber ich bin am Leben!
Früher, denke ich, war Glaube für mich etwas da draußen – an Gott, an andere, an das Gute in der Welt. Heute, nach diesem Abend, spüre ich: Glaube beginnt in uns selbst. Olena glaubte an sich. Trotz allem. Trotz der Menschen, die sie brachen. Trotz der Freund*innen, die sie verrieten.
Und sie überlebte, dank einem Gefangenenaustausch Ende Juni 2024, initiiert vom Vatikan. Auch das klingt wie das Happy Ends eines Thrillers. Aber es ist geschehen.
Ein Raum für Menschlichkeit
Die Initiative Existentia e.V. hat diesen Abend möglich gemacht. Und viel mehr: Sie begleitet betroffene Frauen therapeutisch, juristisch, menschlich. Damit das Grauen nicht nur in stillen Therapieräumen ausgesprochen und bezeugt wird, sondern auch öffentlich gehört wird – vor Gerichten, in Gesellschaft und Politik. Der Verein ermöglichte Olena zwei Hüftoperationen, so dass sie heute ohne Krücken laufen kann und auf Arbeitsuche ist.
Was bleibt? Der Abend ist mir unter die Haut gekrochen, direkt in mein Herz. Wie nah der Krieg an uns in Europa dran ist, ist für mich durch die Präsenz von Olena näher gerückt. Und dass ich mich noch mehr engagieren will, mit dem was ich kann: Schreiben über das, was moralisch und ethisch wichtig ist. Vor allem Nächstenliebe.
Olena gab mir noch etwas Wichtiges mit auf den Weg: „Glaube an Dich, auch wenn du am dunkelsten Ort bist. Würdige deinen Atem, deinen Körper, dein einzigartiges Sein. Das wirft Licht in die Dunkelheit. Und du kannst den nächsten Schritt gehen. Du bist es wert zu leben – du bist ein Geschenk.“
Vielleicht ist das die radikalste Form von Hoffnung. Nicht naiv. Nicht romantisch. Sondern geerdet in einer Geschichte, die das Schlimmste kennt – und trotzdem aufsteht.
Existentia e.V. unterstützt ukrainische Frauen und Sanitäter*innen in den umkämpften Gebieten