Ein Schulprojekt für interkulturelle Bildung
Lernen ist mehr als Mathe und Deutsch. Es ist auch ein Verstehen der Vielfalt der Kulturen, gerade in Zeiten, in denen mehr Menschen in Deutschland einwandern. Andrea Vermaaten hat für das Netzwerk Ethik heute ihr Projekt „Nachbarschaft Welt“ an Hamburger Schulen gestartet. Lehrer, die Interesse haben, können sich beim Netzwerk melden.
„Stell dir vor: Du lebst auf einem anderen Kontinent, in einem anderen Land, trägst einen anderen Namen, feierst andere Feste, hörst andere Geschichten, glaubst an andere ‚Dinge’, isst andere Speisen, … bist ein anderer Mensch – in einer anderen Haut.“
Mit dieser Ankündigung wirbt Andrea Vermaaten für ihr Schulprojekt im Rahmen einer Projektwoche am Gymnasium in Hamburg-Finkenwerder im Juli 2015. Vermaaten, die früher selbst Lehrerin war, hat das Projekt im Netzwerk Ethik heute und mit Unterstützung der Gustav Prietsch-Stiftung initiiert. Es geht um interkulturelle Bildung. Sie hat damit viele Jahre an US-amerikanischen Schulen Erfahrungen gesammelt.
Das Konzept, das Andrea Vermaaten „Nachbarschaft Welt“ nennt, wurzelt in unterschiedlichen pädagogischen Ansätzen. Es umfasst Elemente einer angeleiteten, offenen Erkundung, der Kommunikation und Präsentation. Es kann fachspezifisch, z.B. in Deutsch oder Religion, aber auch fächerübergreifend und fächerverbindend eingesetzt werden. Angestrebt wird eine langfristige Arbeit, die innere und äußere Lernprozesses initiiert und begleitet.
Vermaaten konnte in diesem Frühsommer die Lehrer an zwei Schulen in Hamburg für eine Einführungswoche und langfristige Projektarbeit gewinnen. Dafür stellte sie mit großem ehrenamtlichen Engagement Konzepte und Unterrichtsmaterial bereit und begleitete selbst die Unterrichtsstunden.
In eine andere Haut schlüpfen
Die Schüler in der „Nachbarschaft Welt“ ahmen ganz konkret eine andere Kultur nach, sie schlüpfen also in die Haut von Indern oder Chinesen. Darüber hinaus wird die jeweilige Kultur durch multimediale Methoden der Kommunikation und Forschung (Film, Internet, Skype etc.) von ihren Vertretern vermittelt.
Zu Beginn suchen sich die Schüler eine Nationalität aus, die sie erkunden wollen, und bilden eine kulturspezifische Familiengruppe. Dann geht es los. Die Simulation umfasst maximal 13 Bausteine, etwa Lernaufgaben wie geographische und historische Grundlagen, aber auch kulturelle Erfahrungen wie die Beschäftigung mit Märchen und Legenden, Musik und Liedern.
Auch ein Training in Achtsamkeit und kreativer Dialogführung gehört dazu, denn bei dieser Simulation geht es um mehr Toleranz, Respekt und gegenseitiges Verstehen. Die Schüler finden sich zusammen, die eigene Rolle in der Familiengruppe wird definiert: Wie sieht beispielsweise ein normaler Tagesablauf als Tochter einer indischen Mittelschichtsfamilie aus? Dafür lesen sie Literatur über die Kultur, lösen konkrete Aufgaben, die sie in der Gruppe diskutieren, und präsentieren den anderen die Ergebnisse ihrer Recherchen.
Nicht alle 13 Bausteine können in einer Projektwoche erarbeitet werden. Möglich ist auch, einzelne Teile herauszunehmen und damit zu üben. Die ersten Praxiserfahrungen mit diesem Projekt in Deutschland sind gut. Die Lehrerinnen von zwei fünften Klassen an der Stadtteilschule in Hamburg-Bahrenfeld hoben positiv hervor, dass „viele Schülerinnen und Schüler sich mit ‚ihrer neuen Kultur’ identifizierten, indem sie einen anderen Namen annehmen, eine Landesflagge basteln und in ihrer Kulturgruppe über ‚ihr Land’ lernen.“
Eine Schülerin fasste ihre Erfahrung so zusammen: „Wir fanden es alle toll, einen anderen Namen zu haben. Auch dass wir uns den selber aussuchen konnten.“ Mehrmals betonten die Fünftklässler, dass es Spaß es mache, die Flagge ihrer Familiengruppe zu basteln und während des Projektes als Kennzeichen auf dem Tisch zu haben.
Fürsorge für Kulturen und Religionen übernehmen
Ziel der „Nachbarschaft Welt“ ist ein interkulturell verantwortliches Bewusstsein und Handeln: „Ich möchte mit dem Projekt die Vielfalt der Welt in die Schule, ins Klassenzimmer und in die Gedanken und Herzen der Kinder bringen. Gleichzeitig die Welt durch mehr Verständnis, Respekt und Fürsorge für Kulturen und Glaubensformen, die eigene und andere, bereichern“, so Andrea Vermaaten.
Die „Nachbarschaft Welt“ hat einen ganzheitlichen Ansatz. Es ist eine Ausbildung des gesamten Bewusstseins, sowohl des Denkens und Fühlens als auch von Kommunikationsfähigkeiten und sozialem Verhalten. Wenn sich die Klasse darauf einlässt, kann die kontinuierliche Arbeit ein tieferes Verständnis bewirken, was Menschsein wirklich bedeutet und wie eine Zusammenarbeit zwischen den Menschen aller Kontinente, Kulturen und Religionen möglich ist. Sie lernen, mehr das Gemeinwohl im Blick zu haben, statt selbstbezogenen Interessen zu folgen.
Für tiefgreifende Veränderungen sind aber Zeit und Kontinuität notwendig. Eine Projektwoche reicht nicht aus. Sie ist bestenfalls ein Impuls oder eine Saat, die weiter gepflegt werden muss. Dass die Saat tatsächlich aufgeht, zeigen die Reaktionen der Lehrerinnen der Stadtteilschule Bahrenfeld: nach der Projektwoche:
Die Schüler haben ‚Aha’ Erlebnisse“, dass Kinder/ Menschen in anderen Ländern nicht wie selbstverständlich unseren ‚Luxus‘ genießen. Sie lassen sich durch Geschichten berühren. Spontan klatschen sie am Ende einer Lesung über einen serbischen Flüchtlingsjungen: „Ich fand die Geschichte mit dem Jungen, der im Krieg war und nach Deutschland geflüchtet ist, so gut. Er hatte diesen Lehrer, bekam Hilfe und freundete sich mit einem Mädchen an“, so ein Schüler.
Auch das Erlernen der dialogischen Fähigkeiten zeigt Wirkung. Die Schüler brauchen dafür das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, eigene Gedanken und Gefühle in der Klassengemeinschaft offenzulegen und sich gerade in der Unterschiedlichkeit wertzuschätzen.
Toleranz und Empathie sind zwar Lehrplan-Ziele, aber bei den kognitiv ausgerichteten Curricula haben sie oft keine Prioritäten. Vielen Schülern gefällt es, nach anfänglichen Hemmungen in einem geschützten Rahmen mehr von ihren Mitschülern zu erfahren und sich selber mitzuteilen. „Mir hat das so gut gefallen, dass jeder den Talking-Stick erhielt. Auch das alle gleich wertgeschätzt werden und sprechen dürfen.“
Lernen ist mehr als Mathe und Deutsch
Andrea Vermaaten sieht große Unterschiede zwischen Deutschland und den USA: „In Deutschland merke ich, dass das Wort Herausforderung nicht antreibt, sondern ängstlich macht und als Problem empfunden wird. Wenn wir in den USA von „Challenge“ gesprochen haben, war es ein großer Ansporn, das anzugehen.“
Die Umsetzung des Projekts Nachbarschaft Welt an deutschen Schulen ist für Andrea Vermaaten eher Challenge als Herausforderung. Dafür möchte sie nicht nur Projektwochen gestalten, sondern am liebsten über längere Zeiträume kontinuierlicher Bestandteil des schulischen Lernangebots sein. Dann könnten auch Aktionen der interkulturellen Nachbarschaftshil
fe wie z.B. die gemeinsame Erstellung eines Jahreskalenders mit Collagen über die verschiedenen Menschen, Länder und Kulturen durchgeführt werden.
Die Erfahrungen und Lernprozesse der Projektwoche motivieren die Schülerinnen und Schüler. Begeistert überlegen sie, was beim nächsten Mal gemacht werden könnte. Denn dass sie mitbestimmen dürfen, gefällt ihnen besonders: So zeigt sich, dass Lernen mehr ist als Mathe und Deutsch. Es ist auch ein Verstehen der Vielfalt der Kulturen, die gegenseitige Anerkennung und respektvolle Begegnung.
Damit sich das Verständnis für Menschen und Kulturen, die sich von der eigenen unterscheiden, weiter entwickelt, wollen sie das Projekt nun an ihrer Schule in Hamburg-Bahrenfeld über mehrere Jahrgänge fortsetzen und wenn möglich auch in ein Profil, dass heißt einen Schwerpunktbereich ab Jahrgang 8, münden lassen.
Das Netzwerk Ethik heute sucht weitere Schulen in Hamburg, die das Projekt „Nachbarschaft Welt“ zusammen mit Andrea Vermaaten umsetzen möchten. Gerade in Zeiten, in denen wir täglich Bilder von flüchtenden Menschen sehen, gehören Offenheit und Toleranz auf die Lehrpläne. Nur dann können junge Menschen diese Situation auch als Chance begreifen, den eigenen Horizont zu erweitern und Menschen anderer Kulturen mit Interesse und Wohlwollen zu begegnen.
Stefan Ringstorff
Kontakt: Andrea.Vermaaten@ethik-heute.org
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Andrea Vermaaten war von 1978-19 83 als Diplompädagogin in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. 1993 bis 2011 lebte sie in den USA und arbeitete als Lehrerin im öffentlichen Schuldienst. Dort lernte sie das Curriculum ‚Neighborhood’ kennen und hat daraus das Konzept ‚Nachbarschaft Welt’ entwickelt.