Interview mit Alberto Acosta
Wenn wir der Natur Rechte geben, gibt die Natur uns Menschen das Recht zu leben, so sieht es der Politiker, Aktivist und Autor Alberto Acosta aus Ecuador. Er spricht im Interview über Gegenentwürfe zu Wirtschaftswachstum und „Entwicklung“ und das Konzept Buen Vivir, das Gemeinschaftssinn und mit den Rechten der Natur verbindet.
Das Gespräch führte Geseko von Lüpke
Frage: Wie konnten die ‚Rechte der Natur‘ in der Verfassungsgebenden Versammlung in Ecuador durchgesetzt werden?
Acosta: Diese Rechte in die ecuadorianische Verfassung zu bringen, hatte zwei starke Wurzeln: einerseits die Kultur der Ureinwohner, welche die ‚Pacha Mama‘ oder Mutter Erde als ihre wahre Mutter betrachten, zum anderen der zivilgesellschaftliche Widerstand vieler Gemeinden, die auf dem Land und in den Städten gegen die Zerstörung der Natur kämpften.
Da die Rechte der Natur etwas ganz Neues für eine Verfassung waren, gab es zwar Gegenwind. Aber viele der Zweifler hatten sich nicht richtig informiert. Andere dachten, das die Rechte der Natur nur eine Ergänzung der Umweltgesetzgebung seien. Das ist aber nicht der Fall. So gelang es.
Wer waren die stärksten Befürworter der Rechte der Natur?
Acosta: Die Verfassungsgebende Versammlung hatte die Zivilgesellschaft eingeladen, allen voran Vertreterinnen und Vertreter der indigenen Kulturen sowie Initiativen, die sich für die Natur engagieren. Aus dieser Mischung konnte etwas ganz Neues kreiert werden.
Was für ein Paradigmenwechsel vollzieht sich mit den Rechten der Natur?
Acosta: Wenn wir in der Verfassung die Natur als ein Subjekt mit Rechten anerkennen, überwinden wir juristisch unser anthropozentrisches Weltbild. Als Menschen müssen wir dann anerkennen, dass wir selbst Natur sind. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung.
Wenn wir der Natur Rechte geben, muss uns klar sein, dass das nicht nur auf dem Papier geschieht. In Wirklichkeit gibt die Natur uns Menschen das Recht zu leben. Diese Erkenntnis führt zu einer neuen kopernikanischen Wende, einer Wende der modernen Zivilisation.
Buen Vivir ist ein Gegenkonzept zur „Entwicklung“.
In Ecuador baut diese Sicht der Welt auf das indigene Konzept des Buen Vivir, des Guten Lebens. Wie lässt sich das für Europäer erklären?
Acosta: Buen Vivir ist eine Sammlung von Ethiken, Werten, Weltanschauungen und kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Praktiken, die in indigenen Völkern seit Jahrzehnten, vielleicht seit Jahrhunderten gelebt werden.
Buen Vivir ist eine Alternative zum westlichen Konzept von Entwicklung, das vor allem die Wirtschaft in den Mittelpunkt stellt. Buen Vivir (dt. Gutes Leben) ist ein Begriff aus den indigenen Sprachen: ‚Sumak kausay‘ in Quechua, ‚Suma qamaña‘ in Aymara.
Das Gute Leben oder besser das gute Zusammenleben ist weder ein fertig ausgearbeitetes noch ein unstrittiges Konzept. Es beansprucht kein globales Mandat, wie das westliche Konzept von ‚Entwicklung‘ in der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Ist dieser Ansatz ein antikapitalistischer, politischer südamerikanischer Ansatz?
Acosta: Wenn wir vom ‚Guten Leben‘ sprechen, dann tun wir das nicht im Sinne eines einzigen, homogenen Ideals des Guten Lebens. Wir müssen die Mehrzahl und die Diversität vieler Ansätze des Guten Lebens akzeptieren.
Buen vivir ist ein Gegenentwurf zur kapitalistischen Welt. Obwohl das Buen Vivir die kapitalistische Lebensweise mit seinen Werten grundlegend überwinden will, verlangt es nicht zuerst einen Umsturz des Kapitalismus, um dann das Buen Vivir zu verwirklichen.
Das Buen Vivir existiert als eine lebendige Kultur schon seit Jahrhunderten in Ecuador. Als eine zivilgesellschaftliche Bewegung kann es so von innen her zur Überwindung des Kapitalismus beitragen.
Die Grundideen des Buen Vivir existieren nicht nur im Amazonasbecken oder dem Anden-Raum, sondern mit der Idee des Ubuntu auch in Süd-Afrika. In Indien heißen solche Ansätze Swarash und in Japan Kyosei. Vielleicht gab es solche Ansätze auch in den Markgenossenschaften der alten Germanen.
Zu einem guten Leben gehört Gemeinschaftssinn.
Welche Alternativen zu einem Weltbild von Wettbewerb und Konkurrenz gibt es da?
Acosta: Buen vivir bedeutet ein gutes Leben, in dem der Mensch in Harmonie mit sich selbst und der Welt ist. Grundsätzlich gilt: Individuum und Gemeinschaften müssen im Gleichgewicht mit sich selbst und mit der Natur leben. Buen vivir ist aber kein akademisches Konzept, sondern eine diverse Lebenspraxis.
Das Gute Leben bietet uns daher die Möglichkeit, unser Leben anders zu gestalten. In diesem Sinne ist es eine mögliche Utopie, die jede Gemeinde in ihren jeweiligen Territorien realisieren kann. Aber es ist in verschiedenen indigenen Gemeinschaften in der Welt auch eine verwirklichte Utopie.
Lassen sich die Rechte der Natur von dem Kampf der indigenen Kulturen um Land und gegen Kolonialismus trennen?
Acosta: Nein, Buen vivir und die Rechte der Natur gehören zusammen. Für das Gute Leben brauchen wir erstens einen starken Gemeinschaftssinn. Zweitens brauchen wir eine tiefe Naturverbundenheit.
Die indigenen Völker sprechen als dritten Baustein von einer spirituellen Beziehung zur Welt. Indigene Spiritualität hat nichts mit Religion zu tun, sondern eher mit ethischen Werten wie Empathie, Solidarität, Reziprozität und Resonanz. Es erinnert uns daran, wie alles mit Allem zusammenhängt.
Um die Rechte der Natur zu sichern, brauchen wir mehr politische Kämpfe.
Ist der Weg Ecuadors, der Natur Rechte zu geben, auf europäische Rechtssysteme übertragbar?
Acosta: Wir sind nur das erste und bis jetzt einzige Land, das Rechte der Natur in einer Verfassung verankert hat. Seit diese Verfassung 2008 in Kraft trat, hat sich die Idee weiter verbreitet.
Zurzeit gibt es mehr als 40 Länder, in denen man sich offiziell mit dem Thema beschäftigt. Die Rechte der Natur sind in einigen dieser Länder schon umgesetzt worden – allerdings durch Gesetze, nicht durch neue Verfassungen: in Kolumbien, in Indien, in Neuseeland, Spanien und Panama.
Aktuell ist die innenpolitische Situation in Ecuador schwierig. Lassen sich unter diesen Umständen die Rechte der Natur durchsetzen?
Acosta: Es ist schwierig und wird schwierig bleiben, die Rechte der Natur in die Praxis umsetzen. Wir stellen damit die Privilegien von mächtigen Gruppen in Frage.
Daher brauchen wir mehr politische Kämpfe, um die Rechte der Natur zu sichern. Ähnliche Gruppen haben es vor Jahrhunderten nicht akzeptiert, dass die afrikanische Sklaven befreit wurden. Genauso war es mit den Rechten von Frauen, den Rechten der indigenen Völker, den Rechten der Kinder.
Es gibt eine Menge Möglichkeiten, das Leben anders zu gestalten.
Haben wir hier in Europa eigentlich auch Ansätze, die damit vergleichbar sind? Oder können wir solche Konzepte übernehmen?
Acosta: Man kann die Ansätze des Buen Vivir nicht 1:1 kopieren. Aber wir können aus diesen Vorschlägen etwas lernen, ohne die indigenen Gemeinschaften zu romantisieren.
Die Wurzeln für die Rechte der Natur gibt es auch in Europa. Der holländische Philosoph Spinoza sprach von der Mutter Erde als ‚Mater Natura‘ und schrieb: „Die Natur erschafft sich selbst“. Auch der deutsche Erfinder der Nachhaltigkeit, Hans Carl von Carlowitz, sprach im 17. Jahrhundert von ‚Mutter Erde‘. Alexander Humboldt vertrat ähnliche Ansichten.
In Europa gibt es schon viele Initiativen, die sich mit diesen Ideen beschäftigt haben. Der jüngste Fall ist die Süßwasserlagune Mar Menor in Spanien, das erste Ökosystem, das in Europa juristische Rechte bekommen hat. In Deutschland hat sich aus Juristen, Bürgern, Organisationen das deutsche ‚Netzwerk Rechte der Natur‘ organisiert. Ihr Ziel ist eine Reform des Grundgesetzes; hier sollen die Rechte der Natur verankert werden.
Ihr jüngstes Buch, das auch in Deutschland erschienen ist, trägt den Titel ‘Pluriversum – Ein Lexikon des Guten Lebens für alle’ mit Beiträgen von mehr als 100 Menschen aus allen Kontinenten. Was bedeutet ‘Pluriversum’?
Acosta: Pluriversum ist mehr als Universum. Es gibt nicht die eine Welt, in der nur eine Kultur, eine Weltwirtschaft, ein Demokratieverständnis, eine gesellschaftliche Organisationsform existiert. Es gibt schon eine Menge Möglichkeiten, das Leben anders zu gestalten und anders zu führen und viele Menschen, die vielfältige wertvolle Lösungsansätze entwickeln.
Man kann also sagen, dass viele Welten existieren. In diesem Sinne sprechen wir über das Pluriversum als eine Welt, in die viele Welten hineinpassen. Aber alle diese Welten müssen ein würdiges Leben für Menschen und nicht menschliche Wesen garantieren.
Das Pluriversum kann Inspirationen geben und ein Werkzeug des sozialen, politischen und ökonomischen Wandels sein. Es wird viele würdige Zukünfte geben: das Gute Leben ist für alle, nicht Dolce Vita für wenige.
Alberto Acosta ist Politiker, Aktivist und Autor aus Ecuador. Volkswirt der Universität zu Köln; Präsident der Verfassunggebenden Versammlung von Ecuador und Ex-Minister für Energie und Bergbau; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Friedrich Ebert Stiftung in Quito. Marketingmanager der staatlichen Erdölgesellschaft; Wissenschaftlicher Beamter der Lateinamerikanischen Energieorganisation und Universitätsprofessor. Mitkämpfer in zivilgesellschaftlichen Bewegungen, Autor mehrerer Bücher.