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Foto: Ilka Heckenmüller
Foto: Ilka Heckenmüller

Philosophische Kolumne

Manchmal genügt schon ein grauer Novembertag, um sich nicht in der Welt zu Hause zu fühlen. Nässe, Dunkelheit, Kälte erwecken den Eindruck allgemeiner Tristesse und schlagen uns atmosphärisch aufs Gemüt. Da wächst der Wunsch, alle Schotten dicht zu machen und sich aus der Welt zurückzuziehen.

Wenn es der Terminkalender erlaubt, kann man in den eigenen vier Wänden bleiben, und es sich heimelig machen. Eine Kanne Wohlfühltee, die kuschelige Decke und die Lieblingsserie im Fernsehen versprechen mollige innere und äußere Wärme und angenehme Ablenkung.

“Cocooning” heißt der Zeitgeistbegriff dazu. Wir spinnen uns in einen Kokon, eine Schutzhülle ein, die uns vom ungemütlichen Draußen abschotten soll. Diese Methode des Einigelns kann kurzzeitig Linderung verschaffen, wenn einem mal wieder alles zu viel wird.

Allerdings wächst gerade in der Adventszeit – tatkräftig unterstützt durch allgegenwärtige gefühlige Werbung – die Neigung, diese Notfall-Strategie zur allgemeinen Leitlinie zu erheben. Die seelenwärmenden Bilder der Kerzenbäume und der dazu passenden staunenden Kinderaugen, untermalt mit glöckchenklingenden Weihnachtsliedern, sollen uns glauben machen, dass solch ein Paradies mit den nötigen Accessoires leicht zu beschaffen sei.

Gleichzeitig entsteht die Vorstellung, diese heile Welt bewahren zu können, in dem wir sie und uns gegen dabei störende Einflüsse von außen abgrenzen und verteidigen. Heimelig und heimisch sind jedoch zwei verschiedene Paar Hüttenschuhe. Die friedliche weihnachtliche Stimmung erweist sich leicht als unwirkliche Simulation.

Nie sind Familien so streitgefährdet wie über die Weihnachtsfeiertage, denn schon zu zweit haben lange nur mühsam unterdrückte Konflikte nun endlich Zeit, sich zu entfalten. Besucher importieren alte offene Rechnungen mitten in die perfekt inszenierte Wohlfühloase hinein. Und auch wer alleine bleibt, wird mit dem Frösteln seiner Einsamkeit konfrontiert, das die aufgebaute Kulisse noch unpassender erscheinen lässt.

Das Unbehagen, im Kreise des Gewohnten nicht vollkommen daheim zu sein, beschleicht viele bereits in ihrer Jugend, denn der vertraute Zungenschlag, die bekannte Landschaft, alte Freunde und eine mehr oder weniger stabile Familienstruktur garantieren nicht, dass man sich heimisch fühlt.

Zu disparat sind die eigenen erwachenden Bedürfnisse und die daraus erwachsenden Lebensentwürfe, in denen jeder ein für sich funktionierendes Arrangement sucht, um mit sich und der Welt zurecht zu kommen. Andere erwischt es in der Midlife Crisis oder nach schweren Schicksalsschlägen. Manche sind sich im Berufsleben über die Jahre selbst fremd geworden. Und einige entdecken erst im Ruhestand, dass sie gar nicht mehr so richtig in der Welt zu Hause sind.

Angemessener als Lichterglanz und Geschenkepyramiden scheint daher die Herbergssuche das geeignete Bild für unsere Grundbefindlichkeit in der modernen Welt. Heimatlos und unbehaust sind nicht nur Flüchtlinge und Obdachlose. Auch vermeintlich besser Situierten erscheint die Welt oft abstoßend oder zumindest kalt und gleichgültig.

Dieses tiefere Gefühl der Heimatlosigkeit löst sich ganz und gar nicht auf, wenn man die schöngefärbte Scheinwelt mit Zimtsternduft einbalsamieren und gegen alles Äußere verschließen will – im Gegenteil, der Unmut wächst, weil sich unvorhergesehene Einflüsse und an den Grundfesten rüttelnde Veränderungen nicht wirklich aufhalten lassen.

Mit dem dämmernden Bewusstsein dieser Lage verschwindet jedoch keineswegs der drängende Wunsch, sich heimisch fühlen zu wollen, sich auszukennen, mit allem vertraut zu sein, die Fremdheit aufzuheben.

Friedrich von Hardenberg, der als naturwissenschaftlich ausgebildeter Salinenverwalter wohl auch über die prosaische Karriere und das Familienleben hinausreichende Sehnsüchte in sich trug und sich als Poet Novalis nannte, entdeckte: “Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb, überall zu Hause zu sein.”

Und wäre das nicht in der Tat eine nahezu genial anmutende Lösung, könnte man sich überall zu Hause fühlen, sich das Fremde ein Stück zu eigen machen, oder es wenigstens nutzen, um das Eigene besser zu erkennen und damit mehr bei sich zu sein? Die Sentenz mag zunächst wie überschwängliche romantische Träumerei klingen, doch das Problem ist gerade für die ganz unromantische Sachlichkeit der Gegenwart greifbar. Auch die aktuellste Soziologie benennt mit Hartmut Rosa die Resonanz als ein für viele zunehmend schwieriger erfüllbares Grundbedürfnis, die Welt für uns zum Sprechen, Klingen, Singen zu bringen.

Warum also nicht Novalis folgen und es mit Hilfe der Philosophie – dem Nachdenken über die Welt – versuchen, dem unstillbaren Heimweh nachzugehen? Der Weg, auf dem wir nach Hause kommen und uns heimisch fühlen können, begänne dann mit der gedanklichen Öffnung für das Andere, führte über das allmähliche Kennenlernen dazu, auch mit anfänglich Fremdem und Verstörendem in Beziehung und Austausch zu treten.

Schließlich gälte es zu spüren, was es in uns anspricht und zu erforschen, wo und warum wir anders denken. Auf diese Weise könnten wir uns Unvertrautes vertraut machen und es uns womöglich ein Stück weit anverwandeln. Philosophie ist seit jeher der Versuch, zu verstehen, sich mit der Welt und dem Leben im Denken bekannt zu machen, in der Selbstreflexion und im Austausch und in der Auseinandersetzung mit anderen.

Sie kann uns helfen, Veränderungen nicht zu leugnen, sondern bewusst wahrzunehmen und uns einen Reim darauf zu machen – in Begegnungen mit Gedanken, die eine Beziehung zur Welt und zu anderen schaffen. So kann durch philosophisches Denken die Freiheit wachsen, mehr und mehr unverdrängt ansehen und bedenken zu können, ohne sich fremd zu fühlen.

Heimweh und der Trieb, überall zu Hause zu sein, beinhalten keine Erfolgsgarantie. Eine Sehnsucht kann unstillbar sein und ein Trieb unbefriedigt bleiben. Aber einen Versuch ist es wert. Ein philosophisches Buch zur Hand zu nehmen, könnte ein Anfang sein. Und das kann man schließlich auch an einem unfreundlichen Tag auf der Couch.

Ludger Pfeil, 19. Dezember 2017

Ludger Pfeil studierte Philosophie mit den Abschlüssen Magister artium und Promotion in Bochum und erfüllte diverse Lehraufträge an Universitäten. Keineswegs ein Philosoph im Elfenbeinturm kennt er die Arbeitswelt eines global agierenden Großunternehmens aus Mitarbeiter-, Führungs- und Beraterperspektive ebenso wie die Lebenswelt eines aktiv eingebundenen Familienvaters. Er arbeitet seit 1996 als Philosophischer Praktiker mit Seminaren, Cafés, Workshops und Vorträgen sowie Einzelberatungen. Ludger Pfeil hat zur analytischen Ethik, zur Führungsethik und zur Philosophie im Alltag veröffentlicht. 2015 ist bei Rowohlt sein Buch „Du lebst, was Du denkst“ erschienen.

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