Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Im Herzen gewaltfrei sein

Protest von Palästinensern in der Westbank, Foto: Ryon Rodrick Beiler/ Shutterstock
Protest von Palästinensern in der Westbank, Foto: Ryon Rodrick Beiler/ Shutterstock

Wie ein politischer Dialog gelingen kann

Samdhong Rinpoche, tibetischer Mönch und ehemals Premierminister der Regierung Tibets im Exil, ist ein konsequenter Verfechter der Gewaltlosigkeit. Gandhi ist sein Vorbild. Im Interview spricht er über Differenzen, die Bedeutung von Dialog und warum es ohne eine gewaltfreie, mitfühlende Haltung und Kommunikation keinen Frieden gibt.

Das Gespräch führte Birgit Stratmann

 

Weise Menschen betonen, wie wichtig der Dialog für unsere Gesellschaft ist. Warum?
Antwort: Es gibt so viele Konflikte in dieser Welt. Konflikte gehören zu unserem Menschsein dazu. Wir können nicht erwarten, dass es keine Auseinandersetzungen gibt, wir müssen damit leben, dass Menschen sich nicht einig sind.
Wenn es Differenzen gibt, tendieren die Menschen dazu, Druck zu machen oder sogar Gewalt einzusetzen – wobei diese Gewalt verschiedene Formen hat: militärisch, wirtschaftlich, medial, etwa durch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Mit harschem Vorgehen löst man aber nicht die Konflikte. Die Differenzen bleiben bestehen, die Ursachen schwelen weiter, auch wenn eine Seite sich durchsetzt.
Mit der Zeit ändern sich die Umstände, und die Konflikte lodern wieder auf. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Was heißt das? Es bedeutet, Meinungsverschiedenheiten am Verhandlungstisch zu erörtern – mit einem offenen Geist und einem offenen Herzen. Denn es ist wichtig, dass die Parteien einander verstehen lernen.
Die Kommunikation ist enorm wichtig, weil es sonst keine Möglichkeit der Verständigung gibt. Wenn man sich nicht versteht, kann zwar eine Seite die andere beherrschen und den Sieg davontragen, aber nicht die Herzen gewinnen. Einen Konflikt wirklich zu lösen, ist immer eine win-win-Situation. Beide Seiten sollten zufrieden sein, erst dann gibt es keine Ursache mehr dafür, dass der Konflikt erneut aufflammt.

Ohne Vertrauen ist kein echter Dialog möglich

Sie nannten als eine Voraussetzung für den Dialog eine Offenheit, einen offenen Geist, dass beide Seiten den Wunsch haben, sich zu verstehen.
Antwort: Ja, wobei auch gegenseitiger Respekt und Vertrauen wichtig sind. Gandhi hat es oft gesagt: Ohne Vertrauen ist kein echter Dialog möglich. In der Diplomatie gibt es den Terminus der Vertrauensbildenden Maßnahmen als Basis für Verhandlungen.

Samdhong Rinpoche war von 2001 bis 2011 Premierminister der tibetischen Regierung im Exil. Gandhi ist sein Vorbild. Foto: Nagels

Samdhong Rinpoche war von 2001 bis 2011 Premierminister der tibetischen Regierung im Exil. Gandhi ist sein Vorbild. Foto: Nagels

Was kann man machen, wenn eine Seite keine Bereitschaft zum Dialog hat?
Antwort: Man muss herausfinden, warum diese Seite nicht bereit ist: Es kann aus Angst sein oder aus Misstrauen. Ein Beispiel ist der Dialog zwischen den Repräsentanen des Dalai Lama und der chinesischen Regierung. Die Gespräche haben nicht gefruchtet. Die Pekinger Vertreter waren voller Angst, Misstrauen und Zweifel. Diese konnten die Repräsentanen des Dalai Lama nicht ausräumen.
Es gibt kein Patentrezept. Gandhi entwickelte einige Strategien, um die andere Seite für Gespräche und Dialoge vorzubereiten – und zwar Satyagraha (die Praxis der Gewaltlosigkeit). Die Philosophie ist: Die mangelnde Bereitschaft der anderen Seite für den Dialog liegt nicht allein an ihrer Schwäche, sondern es zeigt auch die eigene Schwäche: Ich bin moralisch und spirituell nicht reif genug, um die andere Seite zu überzeugen.
Daher gibt es im Satyagraha zum Beispiel die Praxis des Fastens. Das macht man nicht, um den Gegner unter Druck zu setzen, sondern um den eigenen Geist zu reinigen und sich selbst spirituell in die Lage zu versetzen, das Vertrauen des anderen zu gewinnen. Gandhi war hier vollkommen aufrichtig. Und es klappte!
Manche haben das Fasten und die Hungerstreiks missinterpretiert als Aggression oder Selbstkasteiung. Sie haben nicht verstanden, dass es Gandhi um die eigene Person ging: sich selbst zu reinigen und spirituelle Kraft aufzubauen. Dann ist es definitiv möglich, dass die andere Seite Vertrauen entwickelt.

Jede Form von Hass gegen die andere Seite überwinden

Trifft dies auch auf die Beziehung zwischen Tibet und China zu?
Antwort: Ja, davon bin ich überzeugt. Als ich noch im Amt war (Premierminister der tibetischen Exilregierung, Anm. der Red.) habe ich gesagt: Wenn die Tibeter sich vorbereiten würden und wir 10 oder 20 qualifizierte Praktizierende von Satyagraha zusammen bekämen, könnten wir den Konflikt innerhalb von 24 Stunden lösen. Das habe ich von Gandhi, der sagte: Wenn ich 100 qualifizierte Ausübende hätte, ließe sich die britische Herrschaft innerhalb von 24 Stunden überwinden. Leider hat er nie mehr als einen gefunden.
Ein Satyagrahin muss alle Formen von Wut und Hass gegen die andere Seite überwunden haben und von echter liebevoller Zuneigung und Güte bewegt sein. Er darf keinerlei Misstrauen haben und braucht einen reinen Geist. Das ist sehr schwer zu erreichen.
Die Tibeter sind ja einen großen Schritt auf Peking zugegangen. Unter der Führung des Dalai Lama haben sie die Forderung nach einem unabhängigen Tibet aufgegeben und sich mit kultureller Autonomie innerhalb des chinesischen Staatsgebietes zufrieden gegeben. Zumindest ist das die offizielle Linie der Tibeter. Ist das nicht entmutigend, dass es trotz dieser Kompromissbereitschaft keine Annäherung gibt? Zweifeln Sie manchmal, ob Dialog überhaupt der richtige Weg ist?
Antwort: Dialog ist immer der richtige Weg. Aber wir waren nicht in der Lage, uns so vorzubereiten, dass ein gutes Ergebnis entstehen konnte.
Ich glaube übrigens nicht, dass die Tibeter so viel aufgegeben haben. Wir haben ja gar nichts. Alles, was wir hatten, ist ja schon verloren.
Sie haben die Vision eines freien Tibets…
Antwort: Das ist nur ein Vision…..
Brauchen Sie keine Visionen?
Antwort: Das habe ich nicht gesagt. Natürlich brauchen wir Visionen. Aber die Vision eines unabhängigen Tibets ist nicht erreichbar – und zwar nicht, weil wir nicht die Wahrheit auf unserer Seite hätten, sondern weil die ganze Welt nur darauf aus ist, mit China Liebkind zu machen und Geld zu verdienen. Niemand ist bereit, den chinesischen Markt zu verlieren, alle machen Appeasement-Politik. Daher ist die tibetische Sache nicht zu gewinnen. Diese Tatsache müssen wir anerkennen.

Das Haupthindernis für den Dialog ist der Hass

Es ist sehr schwierig, einen Dialog zu führen, wenn Menschen unterschiedliche Werte und ethische Normen haben, etwa, wenn eine Partei für Gewaltanwendung ist und die andere strikt dagegen. Denken Sie, dass es einen echten Dialog geben kann, wenn die Wertvorstellungen so weit auseinander liegen, z.B. zwischen den IS-Kämpfern und ihren Gegnern?
Antwort: Hier gibt es keine allgemeingültige Antwort. Meine Überzeugung ist: Wenn eine Seite von Gewaltlosigkeit überzeugt ist und sie wirklich praktiziert, so wird sie in der Lage sein, die andere Seite zum Einlenken zu bewegen. Aber dazu muss die Seite ihre Praxis der Gewaltlosigkeit voll entfaltet haben, sonst funktioniert es nicht. Gewaltlosigkeit bedeutet Nicht-Verletzen – und zwar nicht nur körperlich und sprachlich, sondern auch geistig.
Die Tibeter üben sich lediglich in der physischen Gewaltlosigkeit, aber in ihrem Geist sind sie nicht gewaltfrei. Ich schätze die Praxis der physischen Gewaltlosigkeit. Über 130 Tibeter haben sich in den letzten Jahren selbst verbrannt, um das zum Ausdruck zu bringen. Sie haben anderen Menschen nicht geschadet. Das ist eine große Sache.
Aber die Tibeter im Exil und auch die Mehrheit der Tibeter in Tibet tragen Wut und Hass gegenüber den chinesischen Autoritäten in sich, und es ist sehr schwer, diese starke Emotionen zu überwinden. Das sehe ich als Haupthindernis für den Dialog.
Sie sagen also: Wenn eine Partei vollkommen gewaltfrei ist und am Wohl der anderen Seite orientiert, dann würde diese Seite das bemerken und sich ebenfalls wandeln?
Antwort: Ja, davon bin ich überzeugt. Die andere Partei würde dann auch die Waffen abgeben. Viele Leute glauben nicht an die Kraft der Gewaltlosigkeit, weil sie sich nicht in der Lage fühlen, so zu handeln. Wenn man es aber vermag, dann wird man die positiven Resultate selbst erfahren, und so entwickelt sich eine starke Überzeugung in diesen Weg.

„Statt andere ändern zu wollen, sollten wir bei uns selbst anfangen“

Unsere Welt ist dominiert von Konkurrenzdenken, Durchsetzungskraft usw. Kann da die Gewaltlosigkeit überhaupt eine Chance haben?
Antwort: Ja natürlich! Aber die Schlüsselfrage ist: Können die Menschen Gewaltlosigkeit üben oder nicht?
Aber wo sollten sie es erlernen?
Antwort: Zuerst braucht man den Willen und die Wertschätzung dafür. Wenn man den Willen hat, werden sich Wege auftun. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, Vorbilder sowie Texte und Quellen, aus denen man lernen kann. Aber das Problem ist, dass die meisten keine Bereitschaft haben, sich damit auseinanderzusetzen. Das ist die schwäche des Einzelnen.
Der Geist der Menschen heute ist stark beeinflusst von modernen Haltungen, die Sie eben nannten: Konkurrenzdenken, Konsumjagd usw. Wir sind fast keine Menschen mehr, nur noch Konsumenten. Wir haben gar keinen freien Willen und können es nicht sehen, uns fehlt das Differenzierungsvermögen. Die Entscheidungen in unserem Leben werden von den Produzenten gefällt – auf unsere Kosten.
Was können wir tun? Die meisten von uns merken es ja nicht einmal.
Antwort: Ja, die einen merken es nicht, und die anderen, die es merken, fühlen sich hilflos. Vor zwei, drei Jahren war ich auf einer Konferenz in Patna, Indien. Es entwickelte sich ein Gespräch darüber, dass wir, um in dieser Gesellschaft zu überleben, Kompromisse eingehen müssten. Die Teilnehmer sagten, wir könnten nicht als Einzelne nach unserem Glauben, nach unseren Überzeugungen leben.
Ich habe das in Frage gestellt: Was ist überhaupt der Sinn zu überleben, wenn wir nicht unseren Überzeugungen und moralischen Prinzipien entsprechend leben können? Was ist eigentlich der Sinn zu leben?
Einfach nur zu sagen: Ich muss überleben, und deshalb muss ich Kompromisse machen, heißt ja nichts anderes, als dass wir keine Prinzipien haben. Wenn jemand sich einem Prinzip wie der Gewaltlosigkeit verpflichtet fühlt, was will derjenige eigentlich erreichen?
Es gibt viele Diskussionen über die Erziehung. Und sicher wäre es vorteilhaft, wenn Gewaltlosigkeit, Fürsorge für andere, liebende Güte schon den Kindern unterrichtet würden, so dass sie mit anderen Werten aufwachsen.
Aber anstatt zu überlegen, was wir tun können, um andere zu verändern, ist es besser, sich zu fragen: Wie kann ich mich selbst verändern? Wenn sich eine Person wandelt, kann diese auch andere dazu bewegen, sich zu verändern. Wir sollten unser individuelles Recht zu denken und zu handeln wahrnehmen und bei uns selbst anfangen. Das ist der einzige Weg.
Samdhong Rinpoche, 1939 in Tibet geboren, floh 1959 nach Indien. Er war Gründungsdirektor der Central University of Tibetan Studies in Sarnath/Varanasi und Mitglied des Entwurfkommitees für die Verfassung der künftigen tibetischen Staatsorganisation und des Rechts für Exiltibeter. Von 2001 bis 2011 war er Premierminister der Exilregierung im indischen Dharamsala. Er ist ein enger Vertrauter des Dalai Lama und seit 2013 Universitäts-Kanzler der Sanchi University of Buddhist-Indic Studies.

Shutterstock

Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
1 Kommentar
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Hallo,
auf dem mittleren Weg sollten wir beide Seiten betrachten:
Natürlich die Gewaltlosigkeit, aber auch die Frage, wie Politik funktioniert.
Gandhi hat nicht das alte Indien zurück gefordert, sondern die Möglichkeit, ein neues, selbstständiges Indien auf zu bauen.
Ich sehe heute kein einziges Land, das über Religion regiert wird, und das in Frieden lebt. Die Trennung von Religion und Staat scheint Thema der Zeit zu sein, und ist natürlich auch die Grundlage von Religionsfreiheit für Alle.
Warum sollte der überwiegend – aber nicht ausschließlich – christliche Westen einen “Gottes-/Buddhastaat” unterstützen? Damit gab es nur schlechte Erfahrungen!
Und ich sehe, dass in Europa der friedlichste und stabilste Übergang die Strategie der parlamentarischen Monarchie war. Darin wird zum Einen die Demokratie des Volkes umgesetzt, und die bisherigen Staatslenker wechseln auf die Position der Repräsentanten und allgemeinen Sittenwächter.
Ich gehe nicht davon aus, dass SH der Dalai Lama sonderlich erpicht darauf ist, sich mit den Einzelheiten der sehr komplizierten heutigen Welt auseinander zu setzen: Straßenbau, Elektrifizierung, Schulen, Krankenhäuser, internationaler Handel usw.
Tibet als autonome Teilrepublik eines anderen (demokratischen) Staates, der sich um die übergreifenden Themen wie Handel, Außenpolitik usw. kümmert, wäre natürlich auch denkbar. Oder ein System, das sich wie Belize in diversen Themen einfach an die USA anhängt. Hier wahrscheinlich Indien.
Dass die Ziele der Tibeter außerhalb von Moral so wenig konkrete Unterstützung finden, liegt m.E. auch daran, dass die politischen Ziele als rückwärtsgewand wahr genommen werden. Hier wird es Thema sein, ein Ziel oder eine mögliche Staats- oder Regierungsform zu entwickeln, die im Tibet und weltweit mehrheitsfähig ist, und deshalb unterstützt wird.
Gandhi war nicht nur erfolgreich, weil seine Strategie gewaltlos war, sondern auch sein Ziel vermittelbar und konform mit den Zielen der Weltgemeinschaft.
Und ich las bei Castaneda Don Juan sinngemäß sagen: Es war eine sehr schlimme Zeit, aber letztlich auch ein Segen, dass die Spanier gekommen sind. Dadurch waren die religiösen Führer von den weltlichen Aufgaben befreit. Mit den heutigen weltlichen Anforderungen an die politische Führung wären die religiösen Oberhäupter überfordert und die Religion hätte nicht überlebt.

Kategorien