Das ganz andere Zeitgefühl
Das indische Zeitverständnis ist ganz anders als das europäische. Die Zeit gilt hier als illusorisch, irreal, folglich gehen die Menschen unbekümmert mit der Zeit um. Martin Kämpchen lebt seit 50 Jahren in Indien und versucht, die Kultur zu verstehen. Kann man die Zeit fühlen?
Text: Martin Kämpchen
Das indische Zeitgefühl ist auf unterschiedlichen Ebenen aktiv. Grundlegend ist wohl das Bewusstsein eines unendlichen, undefinierbaren »Zeitmeeres«, das nicht zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet.
Romain Rolland und Sigmund Freud nannten es mit unterschiedlicher Akzentuierung »das ozeanische Gefühl« und meinten damit einen Zustand der konzentrierten meditativen Innenschau, bei der Zeit keine kognitive Kategorie mehr ist.
Am ehesten können sich Europäer in diesen Zustand hineinfühlen, wenn sie Rāgās anhören. Diese improvisierten, aber dennoch nach genauen Regeln sich entfaltenden Lautwellen geben uns das zunächst irritierende und dann hilflose und schließlich wohltuende Gefühl, in einen ort- und zeitlosen Raum eingetreten zu sein, den wir bewohnen, aber in dem wir nicht handeln und wirken können.
Indien möchte die Zeit “überwinden”, nicht indem es sie maximal nutzt, sondern indem es versucht, sie zu ignorieren, zu negieren, zu vergessen. Nach der Philosophie des Landes ist Zeit zyklisch; das heißt, sie erneuert sich immer wieder. Zuerst ermüdet die Energie, darauf erneuert sich die Energie in einem weiteren Zyklus, und so fort.
Das gilt für alles, was lebt: Alles kreist, die Pflanzen wie die Tiere, die Menschen wie die Natur. Es ist eine hoffnungsvolle, aber ebenso eine pessimistische Vorstellung. Pessimistisch ist sie, weil die Zeit keinen Fortschritt vorsieht, keine Verbesserung der Zustände. Es ist darum nicht erstaunlich, dass das ultimative Ziel ist, diesem ständigen Kreislauf zu entkommen: Das ist Befreiung.
Das gleiche Wort für „gestern“ und „morgen“
Der mexikanische Dichter Octavio Paz interpretiert in “Im Lichte Indiens” das Zeitgefühl der Inder: “[E]s ist […] das Manko des Menschen, daß er ein Kind der Zeit ist. Das Schlechte liegt in der Zeit. Aber warum ist die Zeit schlecht? Weil sie unbeständig, illusorisch, irreal ist. Die Zeit besitzt keine Substanz: sie ist ein Traum, Lüge, māyā.”
Zeit verlöscht angesichts der Fülle des Seins. Aus dieser negativen Einschätzung der Zeit erklärt sich Paz auch die “Abwesenheit von Geschichtsbewußtsein bei den Hindus”.
Gern zitieren Beobachter das immer wieder bestaunte Sprachphänomen, dass in den vom Sanskrit abgeleiteten Sprachen dieselbe Vokabel für »morgen« und »gestern« gebraucht wird: Kāl, »Zeit«. Das stimmt auch für Bengalisch.
Im Alltagsgespräch sorgt es tatsächlich oft für Verwirrung. Wenn der Zusammenhang nicht verdeutlicht, ob gestern oder morgen gemeint ist, hilft nur eine Rückfrage. Dann kommt die präzisere Antwort: āgāmi Kāl für morgen und Gata Kāl für gestern.
Ereignisse in der näheren Zukunft oder in der nicht so fernen Vergangenheit werden in ihrer Beziehung zur Gegenwart sprachlich wie emotional nur ungenau bestimmt. Der Mensch »schwimmt« sozusagen in einer Gestern-heute-morgen-Atmosphäre.
Leben im Rhythmus der Jahreszeiten
Genau festgelegt sind jedoch die Makrozeiteinteilungen, die Zyklen der Jahreszeiten und Jahresfeste. Hier geben Natur und Kosmos die Zeiten vor. Indien kennt sechs Jahreszeiten (Ritu), jede von ihnen zwei Monate umfassend. Zu den uns geläufigen vier Jahreszeiten kommen die Regenzeit (Barshā) und die »Tauzeit« (Hemanta) hinzu; diese vollzieht den Übergang von der Regen- und Erntezeit zum Winter.
Der Monsunregen fällt ungefähr von Mitte Juni bis Mitte August. Beinahe täglich prasselt einige Stunden lang der Regen herab, ohne den der Anbau von Reis nicht möglich wäre.
Für den Rest des Jahres fällt nur sporadisch Regen, etwa im Winter oder bei den Hitzegewittern des Sommers. Der regelmäßige Verlauf der sechs Jahreszeiten ist vor allem für die Bauern lebensnotwendig. Denn viele Felder profitieren nicht von künstlicher Bewässerung, und selbst sie hat im Laufe rasanter Klimaveränderungen ihre Grenzen.
Unregelmäßigen Regen und Dürren hat es stets gegeben; doch die einschneidenden Wandlungen der letzten zwei Jahrzehnte, während denen zum Beispiel der Grundwasserspiegel drastisch und unwiederbringlich sinkt, bringen den Ablauf der Jahreszeiten ins Wanken.
In Unordnung kommt damit auch die innere Uhr der Landbevölkerung, die sich seit Generationen den äußeren Rhythmus der Natur zum eigenen Lebensrhythmus gemacht hat. Ihn zu verlieren, ist existenziell bedrohlich.
Rituale stiften Ordnung
Die innere Übereinstimmung mit dem Rhythmus der Jahreszeiten zu verlieren ist umso bedrohlicher, weil die meisten religiösen Feste eng mit den Jahreszeiten und den typischen Tätigkeiten der Landbevölkerung zusammenhängen.
Das Fest zur Aussaat kann eine Bauernfamilie erst feiern, nachdem die Aussaat tatsächlich stattgefunden hat, das heißt, wenn das Feld bewässert und beackert und bestellt ist. Ebenso das Erntedankfest: Ohne eingeholte Ernte ist es sinnlos.
Auf subtile Weise hängt im Jahreskreis eines vom anderen ab. Das Rituelle ist nicht nur Schmuckwerk des Alltags, sondern es fördert die Prozesse der Natur; es beschwört die Schutzgötter und -göttinnen der verschiedenen Naturphänomene, ihre vorbestimmten Aufgaben zu erfüllen.
Der Ritus ist ordnungsstiftend und schließlich ein Dank dafür, dass die Natur ihre Aufgabe zum Wohl der Menschheit erfüllt hat. Die Riten wirken in den Menschen, und nicht nur in der Landbevölkerung, bis ins Mark.
Die Städter mögen für ihre tägliche Nahrung nicht mehr unmittelbar von den Produkten des Ackers abhängig sein, doch sie haben ihre psychischen Wurzeln in den Dörfern, die sie vor einer oder zwei Generationen verlassen haben. Sie mögen ein wenig hochmütig auf das einfache Leben der Feldarbeiter und Handwerker herabblicken, doch innerlich sind sie ihnen nicht ganz entfremdet.
Unpünktlichkeit wird toleriert
Im Alltag gehen die Menschen in Stadt und Land unbekümmert mit der Zeit um. Niemand entschuldigt sich für eine kleine Verspätung. »Ich habe mich verspätet«, das genügt zur Erklärung und gilt als Entschuldigung. Dass andere warten mussten, ist unbedeutend, es sei denn, die Verspätung verstößt gegen das Gesetz der Hierarchie; sprich, ein Jüngerer ließ einen Älteren warten.
Kein Bahnhofsvorsteher würde der Ankündigung, dass ein Zug verspätet ist, eine Entschuldigung hinzufügen, wie es meist in deutschen Bahnhöfen geschieht.
Doch handelt es sich um einen jahreszeitlich festgelegten Ritus, dann muss er auf die Minute genau zur vorbestimmten Zeit beginnen. Warum? Und wie wird die Zeit bestimmt?
Indien hat eine gläubige Beziehung zur Astrologie. Feste werden nach dem Stand der Gestirne und nach den Bewegungen von Mond und Sonne bestimmt. Es gibt Almanache, in denen die »günstigen« und »ungünstigen« – sprich: segenbringenden und zu vermeidenden – Augenblicke entsprechend der Stellung der Sterne von Minute zu Minute verzeichnet sind.
Nach diesen Almanachen, deren Erarbeitung eine alte indische Wissenschaft ist, richten sich der Beginn der Pujās (Gottesdienste) aller Feste im Jahreskreis. Nur hierbei wird Unpünktlichkeit nicht toleriert, um nicht der Verdienste, die eine Pujā bewirkt, und der Gunst der angebeteten Gottheit verlustig zu gehen.
Auszug aus dem neuen Buch von Martin Kämpchen: Der Duft des Göttlichen. Indien im Alltag, 2025. Mit freundlicher Genehmigung des Patmos Verlags.

Martin Kämpchen kam nach seinem Studium in Wien als Deutschlektor nach Kalkutta. Es folgte ein Zweitstudium der Religionswissenschaft in Indien, wonach er als freischaffender Schriftsteller, Journalist und Übersetzer in Santiniketan (West-Bengalen) wohnen blieb. Im Jahr 2022 veröffentlichte er seine Autobiographie „Mein Leben in Indien“ (Patmos Verlag). Mit seinem Buch „Der Duft des Göttlichen. Indien im Alltag“ zog er ein zweites Mal die Summe seiner Erfahrungen in Indien.