Neue Bewegung geht Nachhaltigkeit anders an
Der Wandel muss von innen kommen, sind die Verfechter einer neuen Bewegung überzeugt, die sich „Inner Development Goals“ (IDGs) nennt. Sie ergänzen die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen durch innere Entwicklungsziele. Erst der Bewusstseinswandel werde eine sozial-ökologische Transformation möglich machen.
Text: Dr. Geseko von Lüpke
„Wir setzen beim Wandel zu einer nachhaltigen Zukunft auf das falsche Pferd“, sagt eine wachsende Zahl von Vordenker*innen: Der Wandel müsse von innen kommen, bevor er außen greifen kann.
Das Klima heizt sich weiter auf, und wir sind weit davon entfernt, die von den Vereinten Nationen ausgegebenen 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG‘s) im Kampf gegen Armut, Hunger und Ungleichheit zu erreichen. Was läuft schief?
Man bräuchte eine Transformation im Weltbild, im Wahrnehmen, im Sein, so sieht es Katharina Moser, Aktivistin für die sogenannten ‚Inner Development Goals‘ (IDGs):
„Die IDGs geben einen Rahmen, damit wir die menschlichen Fähigkeiten entwickeln, die es uns erst ermöglichen, mit all den neuen Herausforderungen umzugehen. Das ist die Kernthese der Bewegung.“
Innere Arbeit ist notwendig, um äußere Ziele zu erreichen
Unter dem neuen Begriff der IDGs hat sich in den vergangenen drei Jahren eine neue globale Bewegung für innere Entwicklungsziele gebildet, die mit tausenden Menschen in mehr als 100 Ländern aktiv ist.
Aktivisten in knapp 700 dezentralen Büros und Initiativen – sogenannte ‚HUBs‘ – reichen nicht nur in große Konzerne hinein, sondern führen auch Gespräche mit der EU in Brüssel, im Weißen Haus noch unter Joe Biden und in der New Yorker UN-Zentrale.
Angefangen hatte diese Bewegung 2018 im schwedischen Stockholm, wo drei einflussreiche private Stiftungen zusammenkamen, um über die schleppende Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele zu beraten und nach Lösungen zu suchen.
Sie stellten den Pionieren der Nachhaltigkeit die Frage, welche inneren Fähigkeiten und Kapazitäten es brauche, um diesen Mangel zu beenden. Aus den mehr als 1.000 detaillierten Antworten destillierten die Initiatoren zusammen mit Wissenschaftler*innen 23 Fähigkeiten, die sie in fünf verschiedene Kategorien zusammenfassten.
Auf einer Konferenz in Stockholm wurde dieser Ziele-Katalog 2021 vorgestellt. Er liest sich wie eine Wunschliste für die seelische Reife der ‚Changemakers‘ der Zukunft, sagt Alfred Strigl, Nachhaltigkeits- und Unternehmensberater in Wien und Mitbegründer des ‚IDG-Hubs‘ im österreichischen St. Pölten:
„Es gibt fünf Dimensionen der IDGs: „Sein“ ist die erste Kompetenz, also sich zu spüren, die Welt zu spüren, empathisch zu sein, Mitgefühl zu pflegen, sich selbst und die Welt wirklich auch gefühlsmäßig zu verstehen, nicht nur verstandesmäßig. ‚Denken‘ ist die zweite Dimension, denn der Verstand, die Vernunft, die Ratio darf mitspielen, aber anders, eher multiperspektivisch, systemisch neu. Dazu gehört auch ein Verständnis von Komplexität und langfristiger Orientierung.
Das berührt auch das Thema ‚In Beziehung sein‘ als dritte Kraft – andere Formen von Beziehungen gestalten. Sich bewusst sein, dass wir abhängig sind auch von der Erde, von der Menschheit.
Der vierte Schritt ist ‚Zusammenarbeiten‘: Wie agiere ich mit anderen, wie kann ich gute Projekte kreieren, die Verbreitung finden? Hier sind auch kommunikative Fähigkeit und Vertrauen gefragt. Die fünfte und letzte Säule ist ‚Handeln‘ für die Transformation, also etwas schaffen, machen; dazu gehören Mut und Beharrlichkeit.“ Die Idee bei all dem ist, dass innere Arbeit notwendig ist, um äußere Ziele zu erreichen.
Ohne Bewusstseinswandel geht es nicht
Die genannten Kompetenzen spielen im Alltag, im Arbeitskontext, an den Schulen bislang kaum eine Rolle. Es sind Kulturtechniken der anderen Art, die neu gelernt werden müssen, sagt Otto Scharmer, deutscher Wissenschaftler am amerikanischen M.I.T, der die Initiative der IDGs berät und begleitet:
„Die ökologische und die soziale Krise diskutieren wir seit 40 Jahren. Aber in den letzten Jahren hat sich eine weitere Krise gezeigt, eine innere Krise.
Die Disruption ist in vollem Gange. Deshalb sind wir gezwungen, über ein Lernen hinauszugehen, das sich nur an der Vergangenheit orientiert. Wir müssen lernen, wie wir zukünftige Potentiale erspüren können und realisieren; sonst kommt nichts Neues in die Welt. Dafür brauchen wir innere Fähigkeiten und diese müssen wir auch in unseren Teams verstärken. “
So zum Beispiel an der Fehleinschätzung, dass die Menschheit technisch eine zukunftsfähige Welt erschaffen, aber im Leben, im Denken, Handeln, im Umgang miteinander alles weitgehend beim Alten bleiben könne. Stattdessen müsse sich jeder und jede Einzelne ändern für die Veränderung der Welt: Ohne Bewusstseinswandel geht es nicht.
Gemeinsame Werte der Menschen betonen
Der Ruf nach danach ist nicht neu. Doch er wurde bislang eher am Rande des gesellschaftlichen Dialogs laut, galt als verträumt oder wurde den Religionen und spirituellen Traditionen zugeschoben.
Klaus Mertens, Begründer der IDG-Gruppe im Köln-Bonner Raum, räumt ein, dass die ethischen Werte der IDGs sich bei großen Vorgängern bedienen: „Die IDG’s greifen durchaus auf klassische Werte aus Christentum, Buddhismus, Hinduismus zurück – und vereinfachen sie radikal (…)”
„Ethik ist wichtiger als Religion“ hatte der Dalai Lama bereits um die Jahrtausendwende proklamiert, um die gemeinsamen Werte aller Menschen zu betonen, unabhängig von der Rivalität der Religionen. Die IDG’s greifen diesen Impuls seiner säkularen Ethik auf, sagt Markus Vogt, der Theologe und Berater der katholischen Bischofskonferenz in ökologischen Fragen ist:
„Die Nachhaltigkeitsziele der UN sind ein revolutionäres Programm; sie fordern einen neuen Gesellschaftsvertrag. Das hat man politisch beschlossen. Aber sie brauchen auch eine Tiefendimension, eine ethische Präzision. Ich denke, die Kirchen sollten sich hier einklinken. “
IDGs integrieren indigenes Wissen
Das aktuelle Projekt der IDGs stammt zwar aus dem ‚weißen‘ Norden, versucht aber bewusst, auch an die indigenen Wissenstraditionen in aller Welt anzuknüpfen, sagt die brasilianische Aktivistin Laila Martins, die am IDG-Hub in Bonn mitarbeitet:
„Wir sind zurzeit dabei, mehr Fachwissen aus dem globalen Süden zu sammeln, aus Asien, Afrika und Lateinamerika, um den Rahmen der IDGs zu verbessern.“
Kulturforscher*innen aus aller Welt arbeiten heraus, dass viele der IDGs alte kulturelle und ethische Ansätze aufgreifen. In den Niederlanden arbeitet etwa die Kenianerin Wakanyi Hoffmann für die lokale IDG-Initiative daran, die indigene südafrikanische Verbundenheits-Ethik des ‚Ubuntu‘ als eine wichtige Wurzel der neuen globalen Ethik herauszustellen:
„Wir können von den Khoisan lernen, der ersten afrikanischen Gemeinschaft vor 30.000 Jahren. Ihr Wort ‚Ubuntu‘ bedeutet Menschsein, ‚Ich bin, weil wir sind‘. Ihr müsst euer Ubuntu freisetzen, indem ihr euch in anderen widerspiegelt und verkörpert von dort aus alles andere: Wie ihr denkt, wie ihr in Beziehungen seid, wie ihr handelt. Dies ist ein Prozess der inneren Entwicklung.“
Andere indigene Gemeinschaften haben ein ähnliches Konzept, etwa der kleine Himalaja-Staat Bhutan mit seinem Konzept des Brutto-Nationalglück. Dies hat das Glück seiner Bürger und den Schutz der Natur zum Staatsziel erklärt. Ha Vinh Tho, der lange das dortige ‚Glücks-Zentrum‘ geleitet hat, berät heute die IDG-Initiative:
„Ohne einen Bewusstseinswandel kann es keine dauerhafte Veränderung von Systemen und Strukturen geben. Die IDGs sind ein Versuch, allgemein menschliche Werte kultur- und traditions-übergreifend zu formulieren.“
Unternehmen interessieren sich für die IDGs
All das konkret umzusetzen ist Aufgabe der bisher knapp 700 sogenannten Hubs – dezentrale Stützpunkte der Initiative in rund 100 Ländern: Lokale Netzwerke, in denen viele tausend engagierte Menschen selbst organisiert daran arbeiten, die IDGs in die Gesellschaft zu bringen.
Unter ihnen sind Nachhaltigkeits-Experten, Unternehmens- und Organisationsberater, Psychologen, Kulturwissenschaftler, Philosophen und Theologen. Da werden Workshops und Vorträge in Universitäten und Unternehmen angeboten, Institutionen beraten, Behörden gecoacht.
Auch Konzerne wie Ikea, Novartis und Google zeigen Interesse daran, wie Unternehmen entsprechend den IDGs neu ausgerichtet werden können. In Deutschland kooperiert die Telekom seit 2024 mit dem Ansatz, sagt deren Spezialistin für Innovation und Künstliche Intelligenz, Tatjana Wittig:
„Lasst uns Produkte entwickeln, die das Leben der Menschen besser machen. Lasst uns das Größere in den Blick nehmen und mit Technologie etwas erbauen, worauf wir stolz sind. Als Konzerne müssen wir das Thema Ethik im Blick behalten. Frage dich bei all den kleinen Entscheidungen, die du machst: Wirst du vor deinen Enkelkindern stolz darauf sein?“
IDGs sind traditions- und kulturübergreifend
Parallel dazu signalisieren die Vereinten Nationen und die EU Einverständnis. Auch aus Unternehmensverbänden kommt Interesse. Alfred Strigl, Organisations- und Nachhaltigkeitsberater in Österreich, sieht in den IDGs ein Potential:
„Wenn die UNO, die EU und der World Business Council sagen, wir brauchen diese innere Entwicklung, dann kann auch ein Vorstand vom Global Compact, das sind weltweit 10.000 Unternehmungen, nicht sagen: „Was ist denn das für ein esoterischer Mumpitz?“
Möglicherweise können sich unter dem Dach der inneren Entwicklungsziele Managementberater, indigene Aktivisten, Muslime, Benediktinermönche und Zen-Buddhisten treffen und Transformation möglich machen. Das hofft jedenfalls die brasilianische IDG-Aktivistin Laila Martins:
„Die IDGs erfinden nichts völlig Neues. Vielmehr geht es darum, verschiedene Bewegungen zusammenzubringen, die die innere Entwicklung als zentrales Element der Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewegung voranbringen.“
Mehr Infos:
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