Interview mit Prof. Glorius über die „Migrationswende“
Birgit Glorius hat für ihre Forschung Gespräche mit Geflüchteten, Behörden und Ehrenamtlichen geführt. Sie kritisiert die Verengung der öffentlichen Debatte auf Probleme und die Abschiebung gut integrierter Menschen.
Das Gespräch führte Mustafa Görkem
Frage: Frau Professorin Glorius, Bundeskanzler Merz will die „Migrationswende“, auch als Abgrenzung zur Ampel und zu Angela Merkel. Wie bewerten Sie die bisherigen politischen Maßnahmen der neuen Regierung?
Glorius: Die ersten Maßnahmen sind vor allem ein politisches Signal. Nach innen, aber auch nach außen: Deutschland will nicht mehr so offen wirken wie noch unter Angela Merkel. Ob die angekündigte Wende – etwa mehr Abschiebungen – tatsächlich in großem Stil umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Klar ist: Deutschland reiht sich damit stärker in die restriktive Linie vieler EU-Staaten ein.
Regelmäßig werden Fälle bekannt, wonach gut integrierte Menschen das Land verlassen müssen oder Menschen es schwer haben, eine Arbeit hierzulande aufzunehmen. Wie wirkt sich das auf die Betroffenen aus?
Glorius: Die beiden Schwerpunkte der neuen Ausrichtung lauten Ordnung und Kontrolle. Die konsequentere Durchsetzung von Abschiebungen ist mittlerweile politisch salonfähig. Vor einigen Jahren wäre das in dieser Form kaum denkbar gewesen.
Problematisch wird es, wenn gut integrierte Menschen oder Auszubildende abgeschoben werden. Sie trifft es, weil sie gut anzutreffen sind für die Behörden, etwa, weil sie sich am Arbeitsplatz aufhalten. Das sorgt für große Verunsicherung und hemmt die Integration. Auch Rückführungen in unsichere Länder oder Absprachen mit zweifelhaften Akteuren wie den Taliban sind besorgniserregend.
Der Alltag vieler Geflüchteter besteht aus Warten.
Sie haben für Ihr Buch „Flucht, Ankommen und sozialer Wandel“, das genau zehn Jahre nach Merkels „Wir schaffen das“ erschienen ist, viele Gespräche mit Geflüchteten, Ehrenamtlern und Behörden geführt. Welches Fazit ziehen Sie? Und was genau meinte Merkel eigentlich mit „schaffen“?
Glorius: „Wir schaffen das“ war ein motivierender Aufruf, anzupacken. Er erinnert mich an Obamas „Yes we can“. Deutschland hat am Anfang auch Enormes geleistet. Doch Corona und spätestens die Fluchtbewegung aus der Ukraine haben uns an die Grenzen des Machbaren gebracht, wie mir vielfach glaubhaft geschildert wurde.
Wohnraum ist knapp, Verfahren dauern zu lange, der Zugang zum Arbeitsmarkt ist erschwert. Überhaupt: Der Alltag vieler Geflüchteter besteht aus Warten, Warten, Warten. Hier brauchen wir digitale Prozesse, schnellere Verfahren und mehr Kooperation aller Beteiligten.
Dass den ukrainischen Geflüchteten zudem dank der Massenzustromrichtlinie der EU der Zugang zum Arbeitsmarkt und Bürgergeld erleichtert wurde, hat unter anderen Geflüchteten für Unmut und Irritationen gesorgt. Es fehlt der politische Wille, aus den Erfahrungen zu lernen.
Viele Kommunen sprechen von Überlastung. Ist das ein rein migrationsbedingtes Problem?
Glorius: Nein, viele Herausforderungen wie im Bildungs- oder Sozialbereich sind struktureller Natur, sie waren schon vorher da. Migration wirkt wie ein Brennglas, ist aber nicht die alleinige Ursache.
Nach welchen Kriterien fällt ein Flüchtender seine Entscheidung, in welches Land er will? Spielt das Bürgergeld als Anreiz eine Rolle?
Glorius: Das wird häufig vermutet, doch die Forschung hat keine Belege dafür. Menschen fliehen nicht freiwillig. Natürlich profitieren sie von Sozialleistungen, aber diese sind nicht der Hauptgrund für die Wahl ihres Ziellandes.
Aus meinen Gesprächen weiß ich, dass die Menschen oft den Respekt hierzulande als einen Grund nennen, warum sie sich für Deutschland entschieden haben. Auch die bessere Bildung als im Herkunftsland wird oft als Faktor genannt.
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Fachkräfte im Ausland nehmen das restriktivere Klima wahr.
Gibt es historische Parallelen zum jetzigen Politikwechsel? Mir fällt zum Beispiel der Anwerbestopp in den 1970er Jahren ein.
Glorius: Ja, der Anwerbestopp von 1973 ist ein gutes Beispiel. Damals unterschätzte man, dass Menschen Wurzeln schlagen, wenn sie mehrere Jahre hier leben. Auch verstand man nicht, dass die Wirtschaft sie braucht.
Auch heute müssen wir den menschlichen Faktor stärker berücksichtigen. Die Politik handelt in großen Teilen realitätsfremd. Wir lassen viele Potenziale liegen. Etwa das große Potenzial zur Selbsthilfe in den migrantischen Communities oder auch die persönlichen transnationalen Verbindungen, von denen Deutschland auch politisch oder wirtschaftlich profitieren kann.
Wie wirkt sich die angestrebte Migrationswende auf den Wirtschaftsstandort Deutschland aus?
Glorius: Internationale Fachkräfte nehmen das restriktivere Klima sehr wohl wahr. Unternehmen äußern Sorge, dass Deutschland nicht mehr als einladendes Einwanderungsland gilt. Der öffentliche Diskurs ist oft sehr verengt auf Kriminalität oder Probleme.
Wie gefährlich ist die Polarisierung, die das Thema Migration durch die vielen Debatten mit sich bringt und die sich manche politischen Akteure zunutze machen wollen?
Glorius: Sie schadet dem Zusammenhalt massiv. Ich habe den Eindruck, dass unsere gemeinsame Zündschnur kürzer geworden ist. Wir brauchen mehr Austauschformate, Begegnungen und gelebte Demokratie.
Dr. Birgit Glorius ist Professorin für Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Technischen Universität Chemnitz und Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und Migration. Kürzlich ist ihre Publikation „Flucht, Ankommen und sozialer Wandel. Perspektiven für Geflüchtete in der deutschen Aufnahmegesellschaft“ erschienen.
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